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Abbruch, aber ökologisch: Die Vorklinik Graz zeigt, wie es geht
Spectrum

Aus ökologischer Sicht ist es immer am besten, den Bestand zu erhalten. Das war bei der Vorklinik Graz nicht möglich. Nun wird das Gebäude zwar abgebaut, aber das Material zumindest teils recycelt und wiederverwendet.

15. Dezember 2023 - Sigrid Verhovsek
Schräg gegenüber des ehrwürdigen Hauptgebäudes der Grazer Universität umspannt eine massive Baueinfriedung jenes Areal, auf dem 1971 bis 1976 von den Architekten Erich Hoefer und Erno Meister die Vorklinik errichtet wurde: Büros in einem achtstöckigen Turmbau, Labors und Seziersäle für angehende Mediziner:innen und große Hörsäle für Studierende aller Fakultäten. Die nach Übersiedelung des Med Uni Campus frei gewordene Ressource bot sich an, um die Physik-Institute der Technischen Universität und der Uni Graz zu einem Graz Center of Physics zu vereinen.

In Relation zu Weiterbewirtschaftung von Bestand ist selbst ein nach allen Regeln der Abfallwirtschaftskunst ausgeführter Rückbau aufgrund des Verlusts von grauer Energie und eingebrachter Ressourcen immer die schlechtere Lösung. Das durch die Industrialisierung getragene Fortschrittsnarrativ der Moderne hat aber alte Kulturtechniken wie Um-, Weiter- und Überbauen weitgehend verdrängt. Die Folge – Gebäude-Lebenszeiten von nur 30 bis 50 Jahren – ist eine ökologische Katastrophe.

Verwinkelte unflexible Bauweise, komplizierte Verrohrungen

Eine Weiternutzung der Vorklinik scheiterte aber an Faktoren, an denen Bauten der 1960er- und 1970er-Jahre häufig laborieren: Verwendung minderwertiger abiotischer Baustoffe, untrennbaren Verbundsystemen, geringen Raumhöhen, schlechtem Schallschutz, verwinkelter unflexibler Bauweise, komplizierten Verrohrungen und Leitungsführungen, korrosionsgefährdetem Bewehrungsstahl, mangelndem Brandschutz, fehlender Barrierefreiheit. Im Bestand wären komplexe Anforderungen an eine zukunftsweisende Forschungswerkstatt kaum umsetzbar gewesen: Optiklabore vertragen kein natürliches Licht, hochsensible Elektronenmikroskope keine Erschütterung.

Nach intensiver Vorbereitung durch Wissenschaftsministerium, Land Steiermark, Stadt Graz, die beiden Universitäten und die Bundes-Immobiliengesellschaft wurde 2021 ein Wettbewerb für einen Neubau ausgeschrieben. Über das Siegerprojekt von Architekturbüro Fasch & Fuchs, das in zwei Unter- und sechs Obergeschoßen Platz für 1700 Studierende und 600 Mitarbeiter:innen von Uni und TU Graz bieten soll, wird zur Eröffnung 2030 berichtet werden.

Die Uhr tickt

Rückbau ist nicht nur ein Euphemismus für Abbruch, sondern bezeichnet den geregelten und möglichst sortenreinen Abbau eines Gebäudes, um die anfallenden Materialien einer Wiederverwendung oder einem Recycling zuzuführen. Das sogenannte Rückbaukonzept sichert den geplanten Ablauf und dokumentiert Maßnahmen wie die Schad- und Störstofferkundung. Dieses verwertungsorientierte Konzept ist laut Recycling-Baustoffverordnung aber nur bei Hochbauten mit mehr als 750 Tonnen Abbruchmasse gesetzlich verpflichtend – mit etwa 250 Tonnen fallen Einfamilienhäuser unter diese Grenze, für sie sind nur mehr eine „Abfalltrennung und fachgerechte Entsorgung“ vorgegeben.

Längst notwendig wäre, diese Rückbauplanung samt Materialpass schon beim Entwurf aller Neu- und Umbauten zu erstellen, um Langzeitfolgen und -kosten eines Bauwerks sichtbar zu machen. Gerade Architekt:innen scheinen den Gedanken an Abbruch aber zu scheuen; von über 300 gelisteten Rückbaukundigen besitzen nur etwa zehn „Architekturhintergrund“. Zu langsam schleicht sich das Thema in die Lehrpläne der Architekturfakultäten ein: Bauwerke nach deren Fertigstellung zu begleiten ist noch lange nicht selbstverständlich. Wie soll nachhaltiges Bauen im Kreislauf ohne Wissen um Rückbau und den entstehenden Abfall gelingen?

Der Abbruch der Vorklinik begann im Frühjahr 2023 mit einem Social Urban Mining, das von BauKarussell, Expert:innen für verwertungsorientierten Rückbau, kuratiert wurde: Einrichtung und Möblierung konnten unter der Voraussetzung von Selbstabbau bzw. Abholung günstig erworben werden. Viele nutzten die Gelegenheit, nochmals durch die Vorklinik zu promenieren und sich (Labor-)Tische, Vitrinen, Hörsaalsessel und Lampen zu sichern. Telefonboxen, Schilder oder Wanduhren werden weiter- oder wiederverwendet, ohne dass zusätzliche Energie in eine materielle Umwandlung gesteckt wird. Parallel wurde der ökologische Ansatz mit sozialwirtschaftlichen Agenden verwoben: Teams von auf dem Arbeitsmarkt benachteiligten Personen bauten in über 4000 Arbeitsstunden Boden-, Wand- und Deckenverkleidungen sowie Türen und kupferhaltige Elektroleitungen aus. Von dem derart entfrachteten Material, immerhin 140 Tonnen, entfallen dennoch nur 12,5 Prozent auf Re-Use, 29 Prozent werden recycelt, über 58 Prozent müssen entsorgt werden.

Alte Dachziegel werden hier als Müll, da als Vintage gehandelt

Ein großes Hindernis für Weiterverwendung ist derzeit, dass bei Ausbau von Brandschutztüren oder tragenden Bauteilen die Zertifizierungen erlöschen, was aufwendige Einzelzulassungen zur Folge hätte. Es mangelt auch an Information und Organisation: Abgebrochene alte Dachziegel werden hier als Müll, da als Vintage gehandelt. Aber sorgsamer Abbau und Ausklauben sind wie geeignete Lagerflächen teuer, Materialbörsen wie der Re:store der Materialnomaden noch zu selten.

Der maschinelle Abbruch des Rohbaus samt Installationskanälen, Fenstern und Fliesenbelägen begann im Oktober 2023 und wird inklusive unterirdischer Arbeiten und Erdaushub bis Ende September 2024 dauern. Gesamt entsteht ein Abbruchvolumen von 95.000 Kubikmetern – das ist eine Masse von 123.500 Tonnen. Für die Sortierung wurde der Platz vor der Vorklinik geräumt, auch eine Anlage zum Brechen des Betons soll aufgebaut werden. Zur Herstellung von Recyclingbeton eignet sich das Abbruchmaterial nicht, doch wird es zerkleinert teils vor Ort als Füll- und Schüttmaterial verwendet werden, 4500 Lkw-Fahrten werden so eingespart. Die Lärmbelastung soll mit einem Schallschutz, die Staubbelastung durch Sprühen von Wasser vermindert werden.

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