Bauwerk

Remise
Coop Himmelb(l)au - Wien (A) - 2000
Remise, Foto: Alexander Eugen Koller
Remise, Foto: Alexander Eugen Koller
Remise, Foto: Alexander Eugen Koller
Remise, Foto: Alexander Eugen Koller

Bewegung im Block

8. Februar 2001 - Matthias Boeckl
Waren Wolf D. Prix und Helmut Swiczinsky bis vor zehn Jahren noch mit Szene-Kleinbauten wie Bars, Restaurants, Bühnenbildern, Ausstellungen, Dachbodenausbauten und - vor allem - unausgeführten Visionen neuer, „offener“ urbaner Lebensräume beschäftigt, so stehen jetzt nicht nur ihre Position als internationale Stars, sondern realiter auch drei in nur sieben Jahren realisierte große Wohnbauten zur Überprüfung der gebauten Gestalt dieser Visionen an.


Engagement im Wohnbau

Vielversprechend ist ihr Engagement, als ehemals radikalste Gruppe der Wiener Achtundsechziger („Unsere Architektur ist dort zu finden, wo die Gedanken schneller sind als die Hände, um sie zu begreifen“) just das Gebiet des hochgradig regulierten kollektiven Wohnbaus als Prüfstein ihrer dynamischen und expressiven Lebensreformkonzepte zu wählen.


Aktuelles Projekt: Remise

Der erste Eindruck des Wohnbaus Remise entspricht der Erwartung: Ein bewegtes, expressives Raumgefüge, das auch von der forcierten Materialsprache aus Stahl, Sichtbeton und geputzten Kuben lebt. In die Luft gehobene Volumina, offene Diagonalpassagen, dynamische Schräg- und X-Stützen, all das zählt zum bekannt ausdrucksstarken Vokabular von Coop Himmelb(l)au und hat ihnen das (missverständliche) internationale Prestige als dekonstruktivistische Vorzeigegruppe eingebracht.


Pop-Artisten, nicht Dekonstruktivisten!

Frank Werner hat in seiner soeben erschienenen Monografie jedoch klar gezeigt, dass dieser Dynamismus jedenfalls nicht aus den linguistischen Wurzeln der Dekonstruktivisten schöpft. Vielmehr hat er psychologische und künstlerische Vorstufen im Experimentarium der Pop-Ära, deren Lebensgefühl nun in dem auf breite Akzeptanz angewiesenen Wohnbau erprobt wird.


Basisdemokratie der Lebensstile

Wohnbau als Versuchslabor neuer Lebensstile - das hat in Wien jedoch eine vielfältige, brisante Bedeutung. Einerseits gibt es hier im sozialen und privaten Geschoßwohnungsbau eine stolze und lange Tradition mit entsprechend verifizierten und verlässlichen Erfahrungen bei Typen, Standards, Akzeptanz, möglichen Konstruktionsarten und infrastruktureller Anbindung. Andererseits wünschen gerade die Wiener sich immer wieder schicke Outfits und prestigeträchtig gehobene Standards.

So übersichtlich diese Lage bisher war, so undurchsichtig sind die Fronten in der digital aufgerüsteten, enthemmten Konsumgesellschaft heute geworden. Denn nun sind es gerade die ehemaligen Standardbewahrer, nämlich Wohnbaugesellschaften und Stadtverwaltung, die sich der „Avantgardisten“ bedienen, um am Markt oder politisch überleben zu können. Der Wohlstand hat eine Art Basisdemokratie der Lebensstile gebracht.


Wandelbare Genossenschaften

Träger dieser neuen Politik sind heute jene Lifestyleanbieter, die vom Wohnpark direkt am Freizeit-Wasser-Paradies bis zum Fernblick über Wien oder dem hemmungslos kultivierten alten Wohn-Sehnsuchtsbild im Grünen jede Wohnmode verkaufen und mittlerweile fast jede vom Nettodurchschnittseinkommen österreichischer Familien ermöglichte Nachfrage befriedigen können. Garanten dieser paradiesisch anmutenden Zustände sind eine gezielte Förderpolitik sowie langfristig berechenbare Rahmenbedingungen am Ort und in der Region (EU und restriktive Zuwanderungspolitik sei „Dank“).


Himmelblauer Formenkanon

Coop Himmelb(l)aus Beiträge zum neuen opulenten Lifestyle-Angebot des Wiener Wohnens sind Experimente mit Raumformen und -funktionen, Lichtverhältnissen - und mit Repräsentation. Auflockerung hoher vorgegebener Dichten, Bewegung von Form und Raum, Vielfalt der Wohnungstypen (um die dreißig Varianten wurden hier realisiert), verglaste Loggien, all das führte in der Folge zu einer skulptural durchgearbeiteten, aber vor allem in den Innenhof hin wirksamen Form.

Es gibt sogar eine Skybridge auf erheblicher Höhe. Die straßenseitigen Außenwände der Anlage lassen - bis auf die auffälligen X-Stützen - kaum Derartiges erwarten. Die vorgegebenen Funktionen wie Geschäftslokale, Kinderbetreuung und ausreichend Garagenstellplätze bieten beträchtlichen Komfort.


Die Coops am Ziel

Der eingangs beschriebene soziologische Trend der Wiener Wohnbauszene zeigt sich auch deutlich im Marketing der Bauherren: Das für hiesige Verhältnisse neue Phänomen der Internetwerbung für Bauvorhaben akzentuiert - wie jede Werbung - vor allem Prestige- und Standardfragen. Wenn aber die ehemalige Architekturavantgarde diesem Unternehmen eine überdurchschnittliche räumliche, funktionelle, energetisch-ökologische und ästhetische Qualität zu (geförderten) Eigentumspreisen liefert, die für die Mittelklasse erschwinglich sind, dann ist Coop's Parforce-Marsch durch die Institutionen wohl als gelungen zu bezeichnen.

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