Bauwerk

Island City
Ines Weizman - Leipzig (D) - 2004
Island City, Foto: Harald Kirschner
Island City, Foto: Harald Kirschner
Island City, Foto: Dietrich Wellner
7. Juni 2005
Um die Wirkungsweisen, Probleme und Chancen schrumpfender Städte in Deutschland näher zu untersuchen, haben wir uns dazu entschieden, die Großsiedlung Leipzig-Grünau exemplarisch heranzuziehen. Leipzig-Grünau ist eines der jüngsten und wohl auch eines der am besten durchdachten Siedlungsprojekte der ehemaligen DDR.

Mit der politischen Wende entbrannte plötzlich eine heftige Kritik an den sozialistischen Wohnungsprojekten und so sollte auch Leipzig-Grünau, trotz der Lebensqualität des Wohngebietes und der Anerkennung, die es dafür von seinen Einwohnern in über 25 Jahren erhalten hatte, bald als städtebaulich ungenügend bewertet werden. Die Maßnahmen zur Aufwertung und Regenerierung des Wohngebietes zeitigten jedoch nur fragwürdige Erfolge. Eingriffe wie zum Beispiel der Bau der überdimensionierten Einkaufsmeile Alleecenter mitten im Zentrum der Siedlung brachten binnen kurzem die Ausgewogenheit und Balance der städtebaulichen Organisation des Wohngebietes gefährlich aus dem Gleichgewicht. Der „Konsumtempel“ nahm den umstehenden Häusern Licht und Raum und zwang die Bewohner zum Verlassen ihrer Gebäude, deren Abriß man schließlich beschloß, wodurch in gewisser Weise das Schrumpfungsphänomen vorbereitet wurde. Ein in dieser Form bereits angegriffenes Wohngebiet konnte, als das Problem der Bevölkerungsabwanderung nach Westdeutschland und die Stadtflucht in vorstädtische Gegenden offenbar wurde, nicht mehr als Ganzheit funktionieren und somit auch diesen Bevölkerungsrückgang nicht mehr verkraften. Erschwerend kam hinzu, daß das Plattenbaugebiet in den Fokus der städtischen Rückbaudebatte geriet, obwohl dies in Hinblick auf weit höhere Leerstandsquoten in anderen Stadtteilen Leipzigs nicht unbedingt gerechtfertigt war.

Zum Zeitpunkt des Wettbewerbs war der Rückbau von Leipzig-Grünau, einem Wohngebiet, das Planer und Architekten mit Enthusiasmus und bestem Wissen zu gestalten versucht hatten, in vollem Gang. Ein ungehemmter Abrißprozeß hatte eingesetzt, der vorrangig Hochhäuser, die in der städtebaulichen Planung bewußt als Orientierungspunkte und zur Charakterisierung des Wohngebietes gesetzt worden waren, zerstörte. So wurden nicht nur städtebauliche Charakteristika verändert, Verkehrswege und Verbindungen innerhalb des Wohngebiets unterbrochen und zusammengehörige Gebäudeensemble zerstört, sondern vor allem auch die Bewohner Grünaus verunsichert und ihre Wertschätzung des Gebiets geschmälert.

Sollten die Wettbewerbsbeiträge städtebauliche Verschönerungsmaßnahmen für die Nachnutzung leerer Flächen entwickeln? Sollten neue Ideen gefunden werden, um sowohl die städtebaulichen Fehlplanungen in der DDR als auch die Ignoranz gegenüber der Städtebaugeschichte der DDR zu maskieren? Sollte dem zerpflückten Stadtteil eine neue „Identität“ mit neuen Nutzern gegeben werden? Oder sollten aus zusammenhanglosen Straßenzügen neue Gebäudeformen gebildet werden?
Die Intention unseres Wettbewerbsbeitrages war nicht, nach neuen architektonischen Lösungen für den bereits eingesetzten Rückbauprozeß zu suchen, sondern die städtebauliche Vision des Wohngebiets zu verwirklichen. Die schicksalhafte Planungsgeschichte von Leipzig-Grünau zeigt, daß im sozialistischen wie auch im kapitalistischen Staat immer wieder von den ursprünglichen Plänen abgewichen wurde. Während im Realsozialismus die Mangelverwaltung der Planwirtschaft die Realisierung verhinderte, wurden nach der politischen Wende die Hoffnungen der Planer enttäuscht, daß ihre städtebauliche Vision nun endlich verwirklicht werden könnte.

Unser Beitrag ruft deshalb dazu auf, unvoreingenommen und ein letztes Mal ein Experiment zu wagen, bevor Leipzig-Grünau weiter fragmentiert wird und in zusammenhanglose Gebäudekonglomerate zerfällt. Leipzig-Grünau soll sowohl territorial als auch kulturell als „Insel“ beschrieben und geschützt werden. In dieser Island City soll die ursprüngliche Planung des Wohngebietes verwirklicht und damit die städtebauliche Vision seiner Planer und Architekten vollendet werden. Und erst nachdem die Ideen der Städtebauer und Architekten verwirklicht worden sind, soll über die Tauglichkeit der Planung gerichtet werden.

Wir luden deshalb sieben Planer und Architekten ein, die an den ursprünglichen Planungen beteiligt gewesen waren, um mehr darüber zu erfahren, welche Prozesse zum Zusammenbruch ihrer sozialen und städtebaulichen Utopie geführt und welche Bemühungen die Beteiligten den politischen und materiellen Zwängen entgegenstellt hatten. Das Gespräch, das auch in einem Film festgehalten wurde, zeigte nicht nur den Enthusiasmus, die Kritik und die Enttäuschung der Beteiligten, sondern auch Ideen für eine heutige Planungspraxis.
Das „sozialistische Projekt“ hatte versucht, eine neue Welt zu schaffen, indem es sich inselartig gegen seine Umgebung definierte. So entstand ein utopisches Archipel, das in einer eigenen Konzeption von Zeit und Raum angesiedelt war und gestaltet wurde. Um die ursprüngliche Vision der Siedlung vollenden zu können, soll gemeinsam mit Städtebauern, Architekten, Politikern, Juristen und Steuerexperten eine Reihe von städtischen, regionalen und europäischen Gesetzen und Regeln formuliert werden. Die Codes of the Utopian Archipelago (CUA) sollen die Unterschiede zur „alten Stadt“ akzentuieren und die Inseln des CUA kulturell, finanziell und territorial so gestalten, daß Leipzig-Grünau neue Attraktivität entwickeln kann. Die CUA sollen ein Netzwerk utopischer Archipele schaffen und eine städtische Alternative formulieren, in der sich eine spezifische urbane Qualität entwickeln kann.

Ehemalige Planer und Architekten von Leipzig-Grünau im Gespräch mit Ines Weizman

Wellner: Der Wettbewerb für Leipzig-Grünau rechnete damals mit 20-22.000 Wohnungseinheiten. Im Zuge der Leitplanung, die nach der Entscheidung an den Wettbewerb angeschlossen wurde, ist dann gefordert worden, 300 Einwohner pro Hektar nachzuweisen. Wir mußten damals mit jedem Wohnkomplex (WK) nach Berlin zum Ministerium für Bauwesen und alles verteidigen. Dort wurde uns in der Regel nachgewiesen, daß wir viel zu locker bebauen, mit viel zu großen Höfen, und man monierte, was für einen Luxus wir uns da leisten würden. Das geschah vor allem in den ersten Wohnkomplexen WK2 und WK3. Ausgehend von den 22.000 Wohnungseinheiten aus der Wettbewerbsphase, die auf einer relativ eng begrenzten Fläche angeordnet waren, wurde durch die Erweiterung auf die nördlichen Flächen, durch die Einbeziehung von Flächen bei Lausen sowie durch interne Anreicherung und Verdichtung am Ende der Planungsphase eine Wohnungsanzahl von 35.000 erreicht.

Kaßler: 37.000!

Wellner: 37.000, na ja ... Da gab es Rechenkunststückchen. Es wurden Feierabendheimplätze als Wohnungen berechnet und so weiter. Alles mit dem Ziel, eine möglichst hohe Anzahl an Wohnungseinheiten zu erreichen. Zwischendurch gab es aber auch immer wieder die Forderung, noch größere Flächen in Anspruch zu nehmen. Zum Beispiel nördlich von WK5 und WK7 bis zur Bahn hin, aber auch südlich. Ich habe selbst Untersuchungen machen müssen. Am Ende kamen 50-65.000 Wohnungseinheiten heraus. Dagegen haben wir mit allen Mitteln argumentiert, und irgendwann kam die Einsicht, daß die politischen Vorgaben wirklich über dem Eichstrich lagen. Es war nicht leicht, sich zu behaupten und das „Wuchern“ einzuschränken.

Eichhorn: Der erste Preis des Wettbewerbs wurde zwar als Grundgerippe benutzt, aber bereits in der Realisierungsplanung waren es schon 27.500 Wohneinheiten, in der nächsten Etappe dann 33.000, und mit den „errechneten“ Wohneinheiten kamen wir schließlich auf 37.000 Wohneinheiten. Wobei man sagen muß, daß der Bedarf für die Ergänzungen WK9 und WK10 eigentlich gar nicht da war. Aber man war der Ansicht, daß, sobald die Produktionsmaschinerie lief, es effizienter sei, sie nicht anzuhalten, sondern einfach weiter zu produzieren, auch wenn der Bedarf nicht vorhanden war. Aus diesem Grund wurde das Konzept stark verwässert, es wurden Dinge gemacht, die wir eigentlich gar nicht so wollten.

Gross: Einmal hatte ich Professor Siegel beim Rat des Bezirks, d.h. beim Chef – damals war es Opitz–, zu vertreten. Es ging um die Berichterstattung zur Gesamtentwicklung von Leipzig; Grünau war ein Schwerpunkt. Das war in einer Phase, in der es wirklich darum ging, noch mehr als 33.000 oder 35.000 Wohneinheiten zu machen. Da waren zum einen die Fakten, die Herr Eichhorn gerade genannt hat: die eingeschliffenen Wege von Transport und Vorfertigung – all das lief ja sehr glatt – und des weiteren die stadttechnischen Trassen, die Sammelkanäle usw. Ich habe mich bei dieser Besprechung mit Opitz regelrecht angelegt, weil ich das alles als total überzogenen Blödsinn abgelehnt habe. Dafür bin ich dann natürlich entsprechend abgestraft worden. Meine Argumente zählten nicht. Es würde aus allen Knopflöchern stinken, was wir als Architekten und Stadtplaner gegen diese politisch und ökonomisch notwendigen „Eingriffe durch politische Entscheidungsträger“ vortragen würden, hieß es damals. Die haben die ganzen Planungen in vielen Punkten auf eine Weise mitgeprägt, die entschieden gegen unsere Interessen ging.

Wellner: Nach der Wende kam die sogenannte Stadtteilplanung. Damals gab es überall in den neuen Ländern die Bestrebung, die Wohnkomplexe zu verbessern, auch baulich. Beispielsweise plante man, die Blockecken zu bebauen, d.h. mehr Wohnungen zu schaffen. Man wollte auch aufstocken und abtreppen und dergleichen mehr. Diese Vorschläge sind zwar in die Stadteilplanung eingegangen und haben dort irgendwo ihren Niederschlag gefunden, aber realisiert ist von alledem nichts. Im Gegensatz zum Beispiel zu Stendal und anderen Orten, wo es solche Blockeckenbebauungen gegeben hat. Das ist hier nicht passiert. Hier in Grünau war offensichtlich auch den Wohnungsbaugenossenschaften klar, daß sie sich was ans Bein binden und noch mehr Verantwortung aufladen würden, wenn man baulich ergänzen würde. Auch solche Dinge wie Hofbebauungen mit Einfamilienhäusern und dergleichen haben eine Rolle gespielt, sind aber nie akut geworden. Wenn alle diese Diskussionen zu einem Ziel gekommen wären, dann wäre Grünau noch weiter verdichtet worden. Ich habe bis zuletzt versucht, das Planungskonzept auch nach der Wende weiterzuführen und zu realisieren. Denn 1987 wurde die Wohnbebauung zwar fertiggestellt, aber die gesellschaftlichen Einrichtungen und Zentren fehlten noch. Das Ziel war also, das Konzept nicht über den Haufen zu werfen, sondern die Ansätze richtig zu nutzen und entsprechend der ursprünglichen Konzeption weiterzuentwickeln – natürlich in kleineren Dimensionen. Wenn es nach den Investoren gegangen wäre, dann wäre rundherum auf der grünen Wiese alles mit riesigen Märkten bebaut worden. Zumindest das konnte unterbunden werden. Als ich 1999 in Rente ging, war von Rückbau nur andeutungsweise die Rede. Das heißt, es gab die eben schon erwähnte Stadtteilplanung, die im wesentlichen 1994-96 erarbeitet worden ist. Es gab ganz vorsichtige Andeutungen, wie und wo man einzelne Gebäude eventuell reduzieren oder abbrechen könnte. Aber daraufhin entstand ein Mords-Proteststurm. Damals ging es aber nur um Dinge wie Ambulanzen oder einzelne Wohnhäuser, die im Zuge der Nachverdichtung errichtet wurden und die wirklich zu viel waren. Aber das, was jetzt passiert, was jetzt wie eine Erosion über das Gebiet hereinbricht, das war, als ich 1999 in Rente ging, nicht abzusehen.

Eichhorn: Im Heft 34 des Stadtplanungsamtes findet man den „Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung“, der unter anderem für die einzelnen Wohnkomplexe in Grünau festschreibt, welche Gebiete konsolidiert oder abgebrochen werden müssen und welche Gebiete schwanken. Diese Überlegungen wurden bereits 1999 angestellt und 2000 zum Abschluß gebracht. Das Ganze hat ein wenig gedauert, weil es ziemliche Probleme gegeben hat, aber 2001/02 wurde das Konzept schließlich beschlossen. Das Problem ist jedoch, daß man sich im wesentlichen gar nicht an das hält, was entwickelt worden ist. Es wird also munter und aus dem hohlen Bauch heraus entschieden, wo abgerissen wird. Es wäre ja akzeptabel, wenn mit einem gewissen planerischen Vorlauf entschieden würde, welche Gebiete entdichtet werden sollen. Herr Wellner hat vorhin zurecht die hoch verdichteten Gebiete genannt.
Damals lief das noch unter dem Begriff Rückbau. Aber Rückbau sei ja zu teuer – „Machen wir nicht, ist zu teuer, brechen wir gleich ganz ab!“ Heute läuft das völlig anders: Wenn man heute den Stadtentwicklungsplan studiert, dann findet man Bereiche, an denen sicherlich einiges zu machen wäre, aber da steht schon gar kein Haus mehr. Selbst die Planungen, die dort noch einen einigermaßen vernünftigen Ansatz hatten, etwas weiterzutreiben, sind umsonst. Die Entscheidungen werden woanders getroffen. Ich bin Sturm gelaufen gegen die Art, wie dies am Anfang abgelaufen ist. Aber man muß natürlich gerechterweise auch sagen, daß sich eine Stadt eben immer verändert. Es hat schon immer Bereiche gegeben, die abgebrochen oder ergänzt worden sind. Aber für Grünau und für diese Gebiete gibt es ja kein Ziel, was mit diesen Flächen geschehen soll! Ich habe das jetzt auch bei Halle-Neustadt erlebt: Erst Abbruch und danach wird maximal eine Rasenfläche oder ein Parkplatz angelegt. Über andere Funktionen denkt man gar nicht nach. Keiner überlegt, was dem Gebiet fehlen könnte, eine Gaststätte zum Beispiel. Stattdessen heißt es nur, daß es nicht gebraucht werde, da das Gebiet sowieso in die Knie gehe. Es wird so ein schlechtes Image produziert, das das Gebiet in der Tat allmählich in die Knie zwingt ...
Wellner: Der Wettbewerb für das Alleecenter fand in zwei Phasen statt. In der letzten Phase wurde das Büro Gerkan Marg und Partner als erster Preisträger ausgewählt, der zweite Preis ging an das Büro Speer HPP. Und dann wurde entschieden, daß sich beide mit ihren Entwürfen an der Realisierung beteiligen sollen. Das Alleecenter hat schließlich jedoch eine etwas andere Gestalt angenommen. Ursprünglich gab es auch den Vorschlag, dort das Rathaus, von dem kurz vor der Wende die Rede war, oder Bahnhofseinrichtungen unterzubringen. Klar war auch in der Wettbewerbsphase, daß das Center öffentlich durchgängig bleiben müsse. Während der Verhandlungen über den Bebauungsplan und am konkreten Projekt hat sich dann letzten Endes doch der Investor gegenüber der Stadt durchgesetzt – wie eigentlich fast immer in solchen Angelegenheiten. Dabei entstand die sogenannte Bypass-Lösung. Die Passage, die den nördlichen und südlichen Teil Grünaus verbindet, ist nämlich nur tagsüber geöffnet. Dies führte zu großen Konflikten über die Öffnungszeiten der Passage – bis hin zu Festlegungen im Bebauungsplan. Wenn die Passage nun nachts geschlossen ist, muß man über diesen Bypass ausweichen – und das ist ein wirklich finsterer Tunnel!

Scheibe: Das Kritischste aber ist, daß die Querverbindung im Zentrumsbereich zwischen dem Norden und dem Süden von Grünau nicht mehr gegeben ist. Außer am Tag, wo man zwangsläufig durch den Konsumtempel geführt wird.

Eichhorn: Was natürlich die Absicht des Betreibers ist.

Puckelwaldt: Mit diesem Tunnel hat man einen Schandfleck geschaffen, an den ich gern Architekten und Stadtplaner aus der ganzen Welt führe ...

Eichhorn: Ich hatte 1984 einmal die Gelegenheit, eine Gruppe Studenten von Günther Behnisch durch Grünau zu führen. Am Ende der Veranstaltung hat sich Behnisch erst einmal bei mir bedankt und dann zu seinen Studenten gesagt: „Seid mal nicht so forsch. Das, was hier geleistet worden ist, das ist eine Leistung, die Bestand hat. Das ist eine Leistung, die sich international sehen lassen kann.“ Seitdem habe ich unsere Arbeit auch mit ein bißchen mehr Stolz gesehen. Aber was heute von den Medien betrieben wird, das ist eine Art Mobbing und reine Schlechtmacherei des Gebiets. Auch die heutigen Planer müssen sich Grünau ganz anders widmen und sich viel intensiver mit dem Planungskonzept beschäftigen, als allein von der betriebsökonomischen Seite her zu argumentieren. Denn das Konzept der Dominanten, der Sichtbeziehungen und Randbebauungen – all das, was ursprünglich geplant war – fällt bei einer rein wirtschaftlichen Betrachtungsweise natürlich unter den Tisch.

Puckelwaldt: Und warum diese Stimmungsmache ausschließlich gegen Grünau? Hier sind ungefähr drei Millionen Mark in die Freiflächenanlagen geflossen. Warum muß man dann 99,9 % seines Frustes über Grünau ausschütten? Es gibt doch hier noch immer eine Masse von 50.000 Einwohnern und eine Masse von Geldern. Es darf doch nicht wahr sein, daß das Ganze in Frage gestellt wird, aber parallel dazu weiterhin in das Gebiet investiert wird. Vor zwei bis drei Jahren war das hier noch ein Muster- und Vorzeigeobjekt. Das verstehe ich nicht.

Eichhorn: Ich frage mich, ob wir wirklich so reich sind in der Bundesrepublik, daß wir es uns leisten können, aus dem, was geschaffen wurde, eine Brache zu machen.

Kaßler: Aus meiner Sicht war trotz des Zentralismus auch irgendwie eine Handschrift zu sehen. Und heute ist die Handschrift das Geld, und nur wenn Geld da ist, wird etwas gemacht. Ist wenig Geld da, wird wenig gemacht. Und ist viel Geld da, wird – zumindest aus unserer Sicht – viel Unsinn gemacht. Da wird so viel geplant, und plötzlich sind drei Jahre vergangen und dementsprechend viele Fördermittel ausgegeben, und wir haben keine richtige Handhabe das Ding zu bremsen. Das ist das Problem der heutigen Zeit. Ich fand das früher besser. Da haben sich die drei Säulen – die Architekten, die Hauptauftraggeber und die Kommunalpolitik – zusammengerauft. Was dann am Schluß machbar war, wurde gemacht, und dabei blieb es auch – abgesehen von den Streichungen, die aber keiner von uns zu verantworten hatte. Noch ein Wort zu den Abrissen: Das ist eine Krankheit, die wir nicht zu vertreten haben. Es liegt an der Politik der Sächsischen Aufbaubank, die das Geschäft im Auftrag der Staatsregierung betreibt. Die Aufbaubank geht leidenschaftslos und allein nach ihren Maßstäben vor. Da wird dann zum Beispiel das Haus, das möglicherweise noch eine Finanzierung verspricht, erhalten und alle anderen werden abgerissen. So kommen dann Entscheidungen zustande, die ein Außenstehender nicht verstehen kann.

Eichhorn: Ich kann nur sagen, daß wir nach der Wende eigentlich große Hoffnung hatten, daß wir das, was wir in Grünau nicht mehr nach den ursprünglichen Planungen fertigstellen konnten, nun endlich durchsetzen könnten. Wir hatten gehofft, daß etwas passiert, mußten dann aber merken, daß die sehr schlichten und klaren Gebäude mit Türmchen und Dächlein und solchen Mätzchen aufgehübscht wurden. Und die Leute haben sich gefreut, wie schön das aussieht. Einen Vorteil hatte es natürlich: Es passierte etwas, es wurde renoviert, und in manchen Punkten wurde es vielleicht auch etwas besser. Der Amtsleiter des Stadtplanungsamtes war damals der Meinung, daß in Grünau eigentlich nichts mehr zu tun sei, da dort alles fertig sei. Der Widerspruch, der von meiner Seite kam, ist dann natürlich einfach vom Tisch gewischt worden.

Wellner: Ich erinnere mich gut, daß es 1988 plötzlich einen Ruck gab und daß sich etwas bewegte. Da haben sich die Stadtbezirksleitung der SED und der Rat des Stadtbezirkes West geeinigt, daß man in Grünau – das schließlich das Schwergewicht im Stadtbezirk West darstellte – vielleicht doch so etwas wie ein Rathaus bauen sollte und ein Gebäude für die Stadtbezirksparteileitung. Damals fand hierzu ein Wettbewerb statt. Das Rathaus war dabei an und für sich unwichtig und die Stadtbezirksparteileitung ist durch die Wende dann natürlich ad acta gelegt worden. Und auch für ein Kultur- und Freizeitzentrum gab es keinen konkreten Aufhänger. Uns wurde nur gestattet, diese Sache als Vorbehaltsfläche auszuweisen, ohne jede Verbindlichkeit.
Mit der Wende gab es dann plötzlich Chancen. 1989 war die Achse noch völlig frei von jeder Art Handelseinrichtungen – bis auf einige Läden und die Post. Bibliothek, Friseur, Post und ein paar Dienstleistungen waren noch 1990 im Rohbau fertig gestellt worden, obwohl absehbar war, daß man in Zukunft etwas anderes wollte. Wir haben uns dagegen gewendet, aber die Dinge waren so weit fertig, daß eine zeitweilige Nutzung gestattet wurde. Eine andere, sehr produktive Erscheinung war der fliegende Handel, der an dieser Achse dann ermöglicht wurde. Auf den Fotos von 1990 sieht man die Händler. Sie wurden zielgerichtet in die Stuttgarter Allee geleitet, damit sich herumspricht, daß dort das eigentliche Zentrum ist. Es entstanden dort eine Menge Bretterbuden, und es gab ein Riesendurcheinander, so wie jetzt im WK4.

Puckelwaldt: Das ist wirklich traurig: Grünau hat eine riesige Chance gehabt. Herr Kaßler weiß, was wir hier alles an Geld hineingesteckt haben. Noch vor fünf Jahren waren wir der Meinung, daß wir hier eine Menge geschafft hätten. Im Augenblick ist das eine blöde Situation. Es wird immer verrückter. Es werden Dinge diskutiert, und es wird zurückgebaut, da schlagen Sie als Architekt die Hände über dem Kopf zusammen. Zum Beispiel soll an der Stuttgarter Allee zwischen Pep und Alleecenter die eine Seite mit all den Läden weggenommen werden. Das ist nicht vorstellbar! Zumal noch vor kurzer Zeit richtig viel Geld da hineingesteckt wurde.

Kaßler: Ich erinnere mich noch an Paunsdorf. Es hieß ja immer „Grünau Schlammhausen“ und „Wohnungen, Wohnungen, Straßen nie“, und auch, daß es bis auf Schulen und Kindergärten so gut wie nie gesellschaftliche Einrichtungen gab. Aber mit dem Beginn des WK2 in Paunsdorf hatten wir die Schule, die Straßen, die Straßenbahn, die Kaufhalle und die Wohnungen das erste Mal parallel realisieren können. Und dann kam die Wende. Da hatten wir nun die Planung von Wohnungen und Wohnfolgeeinrichtungen endlich im Griff – und plötzlich war alles vorbei. (Text: Ines Weizman) Aus Platzgründen mußte das Gespräch leicht gekürzt werden.

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