Bauwerk

Muziekgebouw aan 't IJ
3XN - Amsterdam (NL) - 2005

Ein neues Haus für neue Musik

Das Muziekgebouw aan 't IJ und das Holland Festival in Amsterdam

Dass sich eine Stadt mit beträchtlichem Aufwand ein Konzerthaus baut, in dem ausschliesslich neue Musik geboten wird - wo gibt es das? In Amsterdam ist es Wirklichkeit geworden: mit dem Muziekgebouw aan 't IJ, das sich neben das Concertgebouw am Museumsplein stellt. Für erste Höhepunkte im Haus sorgt das Holland Festival, das sich mit Pierre Audi an der Spitze etwas anders auszurichten gedenkt.

9. Juni 2005 - Peter Hagmann
Es liegt nicht gerade an einem der bekannten Wege in Amsterdam, sondern vielmehr an einer brandneuen Tramlinie, von der selbst Ortsansässige noch nicht recht wissen. Man muss unter den Bahngeleisen hindurch zu einem Viertel am linken Ufer des Flusses IJ, das erst am Entstehen ist. Immerhin, der Name der Haltestelle räumt jeden Zweifel aus. Und schon vorher, von weitem, hatte es sich mit grossen Buchstaben zu erkennen gegeben: das Muziekgebouw aan 't IJ, der neueste Konzertsaal der niederländischen Hauptstadt. Nicht dass dem Concertgebouw etwas geschehen wäre; der traditionelle, für seine Akustik berühmte Sitz des Koninklijk Concertgebouworkest ist in Betrieb wie eh und je. Mit dem Muziekgebouw aan 't IJ hat sich Amsterdam vielmehr eine zusätzliche Einrichtung geschaffen: ein neues Haus für neue Musik.

Im Zeichen der Offenheit

Ins Auge fallen zuallererst die Glasfassade mit ihrer riesigen Front und das weit auskragende Flachdach - Jean Nouvel und das Kultur- und Kongresszentrum Luzern lassen grüssen. Aber die Transparenz wirkt fast noch stärker als beim KKL. Wie sich beim abendlichen Flanieren an den Grachten der Innenstadt durch die Fenster in die Wohnungen blicken lässt, sind die im Muziekgebouw versammelten Menschen schon von aussen zu sehen. Das Foyer selbst ist ganz auf Weite hin angelegt; das Restaurant wird durch Glaswände abgetrennt, und die Treppen in die oberen Etagen ragen in bewegtem Spiel in den Raum. Geradezu atemberaubend ist aber der Blick durch die Glasfront hinaus auf die grosszügige Terrasse und die vom Amsterdamer Wind bewegte Wasserfläche des Flusses.

Herrscht im Foyer eine Vielfalt an Materialien, die dem Durcheinander der Stimmen in der Pause entsprechen mag, so gibt sich der Konzertsaal, der wie in Nouvels KKL mit seiner Aussenseite ins Foyer ragt, ruhig und nüchtern. In dem nahezu quadratischen Inneren mit seinem steil ansteigenden Balkon und einer zusätzlichen Seitengalerie dominiert helles Ahornholz in schlichten Formgebungen. Die 735 Sitze, mit rotem Stoff überzogen, bieten bequem Platz. Sie können mit wenigen Handgriffen und den üblichen zwanzig Minuten einer Konzertpause entfernt werden. Da auch Boden und Decke verstellbar sind, können ganz unterschiedliche Raumdispositionen gewählt werden, während der Nachhall zwischen einer und dreieinhalb Sekunden verändert werden kann: eine salle modulable, die auf die Bedürfnisse neuer Musik ausgerichtet ist.

Zu Konzertsaal und Foyer kommt ein kleiner Saal mit 135 Sitzplätzen, kommen Garderoben, Stauraum und Büros - immer grösser werden die Augen beim Rundgang. So etwas gab es bis anhin nur in Paris, wo Pierre Boulez mit der Cité de la Musique einen Sitz für das von ihm gegründete Ensemble Intercontemporain erstritten hat. Das Muziekgebouw aan 't IJ dient nicht einem bestimmten Ensemble, es versteht sich als offene Institution - so sieht es sein Direktor Jan Wolff, auf dessen Idee es zurückgeht. Wolff hat früh als Musiker begonnen: als Hornist im Concertgebouworkest und in verschiedenen Ensembles. 1979 hat er in Amsterdam den IJsbreker gegründet, einen rasch erfolgreichen Konzertsaal mit Café für neue und experimentelle Musik. Seit 1986 hat sich Wolff um ein eigenes Haus für seine Unternehmung bemüht; da steht es jetzt, unter aktiver Teilnahme Wolffs und mit den Mitteln der Stadt Amsterdam erbaut von dem Architekturbüro 3XNielsen aus dem dänischen Århus.

Das Muziekgebouw beherbergt eine Reihe niederländischer Ensembles für neue Musik, das Asko- und das Schönberg-Ensemble etwa, um nur die bekanntesten zu nennen. Die Ensembles haben in dem neuen Haus ihre Büros eingerichtet und finden hier Räumlichkeiten für die Proben - und selbstverständlich treten sie in den diversen Konzertreihen auf, die das Muziekgebouw nach der Eröffnung im Rahmen des Holland Festival von der kommenden Saison an veranstaltet. Ein breites Spektrum an neuer, experimenteller, auch aussereuropäischer Musik wird da geboten, zum Mozart-Jahr 2006 gastiert aber auch das Orchester des 18. Jahrhunderts mit seinem Dirigenten Frans Brüggen - Offenheit ist auch in der Programmgestaltung das zentrale Stichwort. Getragen wird das von Jan Wolff mit 25 Mitarbeitern betriebene Unternehmen durch die Stadt Amsterdam, während für die Veranstaltungen der niederländische Staat Subventionen leistet.

Dem Muziekgebouw angegliedert und in einem eigenen Anbau untergebracht ist das Bimhuis, ein Veranstaltungsort für Jazz und improvisierte Musik. Die Konkurrenz unter den Musikern und unter den Veranstaltern sei natürlich, sagt Jan Wolff; ebenso sehr gelte es aber, Gemeinsamkeiten zu fördern und Synergien zu nutzen. Deshalb hat sich jetzt auch das Holland Festival im Muziekgebouw niedergelassen. Wie zum Beispiel die Berliner Festwochen ist der Amsterdamer Grossanlass, der jeweils zum Ende der Saison durchgeführt wird, etwas in die Jahre gekommen. Seit diesem Sommer wird er von Pierre Audi geleitet, dem künstlerischen Direktor der Niederländischen Oper, der sich vorgenommen hat, der traditionellen Einrichtung einen Energieschub zu verpassen. Dass jetzt das neue Muziekgebouw zur Verfügung steht, kommt ihm dabei sehr gelegen.

Musik und Raum

Im Gegensatz zu den Wiener Festwochen, die unter der Leitung von Luc Bondy ein Festival des Schauspiels geworden sind, möchte Pierre Audi in Amsterdam einen musikalischen Schwerpunkt setzen. Doch nicht um Beethoven und Brahms soll es gehen, sondern um neue und ferne Musik, um den Bezug zwischen Musik und Raum und um die Vernetzung mit anderen Künsten. Zur Eröffnung trat im Muziekgebouw das Reigakusha Gagaku Ensemble auf, eine Gruppierung japanischer Musikerinnen und Musiker, die sich mit der traditionellen Musik des japanischen Kaiserhofs befassen. Die näselnde Mundorgel Shô, das zarte Zupfinstrument Koto und die Flöte Ryuteki wurden vorgeführt - und natürlich auch die ebenso klare wie füllige Akustik des neuen Saals, die das Ingenieurbüro Peutz konzipiert hat. Aber man musste sich auf diese für unsere Ohren einförmige Musik schon einlassen, wollte man sich nicht enttäuscht fühlen. Erst recht gilt das für den zweiten Teil des Abends, der neue Musik für das Gagaku bot: eine eigenartige, wenn nicht befremdliche Konstellation.

Was der Saal im neuen Muziekgebouw bietet, zeigte einen Abend später die von Pierre Audi konzipierte halbszenische Aufführung von «L'Amour de loin», der im Sommer 2000 in Salzburg aus der Taufe gehobenen Oper der Finnin Kaija Saariaho. Das Podium diesmal ganz schwarz ausgekleidet, im Hintergrund eine weisse Leinwand, davor das Orchester der Finnischen Nationaloper Helsinki unter der Leitung der jungen Dirigentin Susanna Mälkki, schliesslich ein Laufsteg, auf dem die tragische Liebesgeschichte zwischen dem Troubadour Jaufré Rudel und der in fernen Landen lebenden Prinzessin Clémence erzählt wurde. Die Darsteller kamen einem erschreckend nah - so nah, dass man die Machart des Make-ups erkennen konnte, wo man doch allein seiner Wirkung erliegen sollte. Da verliert das Theater sein Geheimnis. Andererseits führten die direkte Wirkung des Musikalischen in der auch hier optimalen Akustik, der spannende Einsatz von Licht und Farbe sowie die sparsame Körpersprache zu einer merklichen Intensivierung des Geschehens. Von der herkömmlichen räumlichen Disposition befreit und in engen Kontakt zum Publikum gebracht, kann das musikalische Theater ganz ungewohnte Dimensionen erreichen - das war hier zu erleben. Und zu spüren war, dass von einer Einrichtung wie dem Muziekgebouw aan 't IJ Anregungen ausgehen können, die für die musikalische Kultur insgesamt von Bedeutung sind.

[Informationen im Internet unter muziekgebouw.nl und hollandfestival.nl.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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