Bauwerk

Chemiehochhaus der TU
Ernst Hiesmayr - Wien (A)

Die Chemie sieht rot

Kürzlich wurde sein 75. Geburtstag gefeiert. Dennoch ist Ernst Hiesmayrs Chemiegebäude für die Technische Universität Wien von jugendlichem Gedankengut geprägt: ein Maßstab für moderne Architektur.

30. September 1995 - Vera Purtscher
Wer die Wiener „Zweierlinie“ Richtung Secession geht oder fährt, wer von der Rahlstiege zur Gumpendorfer Straße schaut, vom Schillerplatz zum Getreidemarkt – der wird neugierig: Was zeigt sich da so rot-markant? Die Gestaltung der Feuermauer eines Hochhauses. Nichts weiter. Versteckt im engen, strukturlosen Konglomerat von Hochschulbauten verschiedensten Alters. Im Areal zwischen Getreidemarkt, Lehárgasse, Gumpendorfer Straße und dem Semperdepot an seiner Schmalseite errichtete man in den sechziger Jahren nach Plänen von Karl Kupsky das Chemiehochhaus der Technischen Universität – allerdings nur dessen erste Hälfte. Bis auf weiteres mußten die chemischen Institute damit zufrieden sein.

Unter unglaublichen Arbeitsbedingungen hatten seither vor allem die „Organische Chemie“ im Lehár-Trakt und die „Verfahrenstechnik“ im sogenannten „Geniegebäude“ am Getreidemarkt zu leiden; daß irgendwann auch „nüchterne“ Techniker zornig werden, bewiesen sie bei einem Sitzstreik auf dem Getreidemarkt. Die Verantwortlichen in den Ministerien schafften es trotz knapper werdender Mitteln, die notwendigen Verbesserungen voranzutreiben: Eine ganzheitliche Lösung für das Areal war das erklärte Ziel. Der erste Teil der von Ernst Hiesmayr gestalteten Gesamtplanung ist nun fertiggestellt.

Um die Sicherheit im Hochhaus zu verbessern, konstruierte Hiesmayr filigrane Niro-Fluchtbalkone und entwickelte ein stufenweises Konzept zur Bewältigung der akuten Probleme und zur Annäherung an eine ideale städtebauliche Lösung. Vor allem mußte endlich Platz geschaffen werden. Ein gewaltiges logistisches Problem: Ohne Unterbrechung des Lehr- und Forschungsbetriebes war Schritt für Schritt ein Institut nach dem anderen zu bauen, abzubrechen, ein-, aus- und umzusiedeln.

Der Neubau hatte zwei Gebäude verschiedener Entstehungszeit zu verbinden: Richtung Gumpendorfer Straße einen Bau aus dem Jahr 1920 und das Kupsky-Haus aus den Sechzigern. Beide natürlich mit unterschiedlichen Achs- und Rastermaßen, unterschiedlichen Stockwerkhöhen, unterschiedlichen Material- und Stilmitteln – und geprägt von grundverschiedenen Architekturauffassungen. Ernst Hiesmayr mußte also äußere Fluchten und innere Achsen finden, der Rhythmus in der Abfolge gemeinsamer Einrichtungen war neu zu definieren, das Sicherheitskonzept für die drei aneinandergereihten Bauten mußte funktionieren, deren Haustechnik wurde „entflochten“. Es galt, alles zu einem Ganzen zu vereinen.

Die Sockelzone von Hiesmayrs Neubau ist von Stahlbetonpfeilern im klaren, konstruktiven Raster geprägt: Die bodennahen Geschoße liegen dahinter zurückgesetzt, während die vier Stockwerke in deren Anschluß auf diesen Pfeilern aufliegen. Außen eine nüchterne Glasfassade ohne Schnickschnack.

Das Thema der Fluchtbalkone wurde hier variiert: Am Hochhaus sind sie noch als Hängekonstruktion ausgeführt, hier nun kragen die tragenden Elemente weiter aus – Ort der Fluchtwege –, um schützend eine zweite, losgelöste Fassadenschicht zu tragen. Diese ist aus Streckmetallfeldern gebildet, sorgt in „Normalzeiten“ für Beschattung und dient im Falle eines Unglücks als Geländer für die zwischen Glasfassade und Streckmetallfassade Flüchtenden. Filigrane, horizontale Elemente verbinden den Institutsneubau mit dem Hochhaus.

Die Fassade zum Getreidemarkt ist derzeit, eingezwängt zwischen den beiden Flügelbauten des getreidemarktseitigen Altbaus, noch nicht richtig zu erfassen; sie wird erst nach ihrer „Freilegung“ in ihrer eleganten Längserstreckung zur Geltung kommen.

Hier – nordostseitig – sind keine Sonnenschutzgitter vor der Glasfassade nötig. Das Thema der Fluchtbalkone wiederholt sich, doch noch „luftiger“ wirkt diese Wand – befreit von jeglicher Applikation. Und ganz transparent wird sie zuoberst: „Krönender“ Abschluß dieser Fassade ist eine gläserne Schallschutzkonstruktion, die das laute Technikgeschoß im sechsten Stock gegen die umliegende Bebauung abschirmt, aber den Lichteinfall nicht beeinträchtigt.

Doch was allerorten sosehr die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, ist die schon erwähnte Feuermauer. Eine gläserne Scheibe, fast fünf Stockwerke hoch – und dabei erst in der sechsten Ebene beginnend –, und dann auch noch rot! Allerdings handelt es sich nicht um eine dichte rote Barriere, sondern um ein transluzentes Glasgebilde, eine schräge Glaswand, die eine asymmetrische Vertiefung erfährt. Ein dreiseitiges Umfangen eines leicht nach hinten versetzten Schildes. Und das Umklammernde wechselt von ganz hell, transparent an seiner äußeren Kante zu stark rot an seinen beiden Enden. Das Eingedrückte hingegen vollzieht diesen Wechsel von weiß nach rot gegenläufig.

Das hier angewandte Litexsystem versieht die Glasscheiben mit einem – in diesem Fall roten – Punkteraster, dessen dichter oder lockerer Verlauf die Transparenz der Scheiben bestimmt. Wer zeichnet für diese Großskulptur mitten in der Stadt verantwortlich? Werner Würtinger, akademischer Bildhauer, arbeitete konzeptionell und im praktischen Versuch schon länger mit Flächen und Farben, die zueinander in Beziehung stehen. Diese Aufgabe sprengte jedoch in ihrer Dimension bei weitem alles bisher erprobte.

Eine langsame intellektuelle – und doch intuitive – Annäherung an die erste Idee der Architekten, die Feuermauer von Kupskys Hochhaus formal in eine schräggestellte, schwebende Scheibe umzudeuten, rief zuerst Scheu vor der Größe hervor. Für Werner Würtinger wurde es ebenso zum spannenden Projekt wie für Hiesmayrs Atelier, dem die technische Umsetzung zur Gänze oblag.

Nun also zeigt sich ein mutiges Stück rotchangierender Glasfassade – ein Spiel mit Form und Farbe, mit Spiegelungen gegenüberliegender Fassaden in Überlappung mit dem hinter der Feuermauer liegenden Teil des Hochhauses. Der darübergelegte „Rasterfilm“ zwingt dazu, neu zu schauen. Haben Sie die Kuppel des Kunsthistorischen Museums schon einmal rotgetupft gesehen? Der Wechsel von weiß zu rot als Symbol für Chemie: der Übergang vom Kalten zum Glühen, Veränderung, Wandel.

Einen beeindruckenden Wandel bemerken auch die hier Arbeitenden: endlich „ordentliche“ Arbeitsbedingungen in der „Chemie“. Diese sind tatsächlich äußerst angenehm. Helle Räume, die Decken „schwebend“. Ernst Hiesmayr, der seinen Studenten immer schon das „hohe Lied der Fuge“ sang, zeigt an diesem Bau in etlichen Details, wie man's macht. Zum Beispiel läßt die abgehängte Decke ringsum einen Schlitz zur Wand, was die Führung von Gasleitungen im Hohlraum erlaubt, Vorteile für die Revision, aber auch für die Optik ergibt. Beim Stiegenhaus läuft die Stufe nicht gegen die Wand – ein Niro-Streifen sorgt für die nötige Fuge. So fügt sich eins ans andere, aber mit dem erforderlichen Abstand, der klärt, gliedert und definiert.

Das Stiegenhaus ist hell; südseitig fällt viel Licht durch die Glasfassade. Die Handläufe sind leicht gekrümmte, ein Zentimeter starke Aluplatten auf den Stockwerkebenen, im Treppenbereich Nurglas-Scheiben mit Niro-Handläufen.

Man darf nicht versäumen, ins Untergeschoß zu gehen: Es hat nichts Kellerhaftes. Um das Raumprogramm zu erfüllen, mußte ein Weg in tieferen Regionen gefunden werden: Das Großlabor als ständiger Arbeitsplatz verlangt natürliche Belichtung und rasche, einfache Fluchtmöglichkeit. Durch einen tiefen Geländeschnitt wurde erreicht, daß eine Glaswand südseitig in einen terrassenähnlichen Platz mit Stiegenaufgang mündet. Hinaufgeführt auf Eingangsniveau, ist in der gesamten Länge des tiefliegenden Labortraktes zusätzlich eine dreieckförmige Oberlichtverglasung als Abschluß besagter Glaswand sichtbar. Über dem Labor ist die Feuerwehrzufahrt plaziert, ein streng längsrechteckiger Straßenraum, der auf der einen Seite von der Schrägverglasung begleitet wird und auf der anderen Seite von einer Reihe von „Lichtsarkophagen“: Kuben, rund einen halben Meter aus dem Erdreich ragend, mit einer Glasplattendecke versehen. Bald wird Efeu die Grabassoziationen verschwinden lassen.

Ernst Hiesmayr setzt mit diesem Bau einmal mehr Maßstäbe moderner Architektur in Wien (gilt er doch als „wahrer Moderner“ spätestens seit dem Bau des „Juridicums“). Kürzlich wurde sein 75. Geburtstag gefeiert – in seiner „Chemie“ freilich manifestiert sich ein durchaus „jugendliches“ architektonisches Gedankengut. Der Komplex am Getreidemarkt ist aber auch sein Manifest als Lehrer: Seine jungen Partner, Reinhardt Gallister, Peter Waldbauer und Gerhard Kratochwill, haben ein gut Teil der Arbeit geleistet und machen ihrem Lehrer alle Ehre.

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