Bauwerk

Haus Tugendhat
Ludwig Mies van der Rohe - Brünn (CZ) - 1930

„Gipfel des Snobismus“

Sie zählt zu den Meisterleistungen der Klassischen Moderne: die in den Jahren 1928 bis 1930 von Mies van der Rohe erbaute Brünner Villa Tugendhat. Eine Ausstellung im Wiener Ringturm dokumentiert Ihre Baugeschichte und die Kontroversen, die sie auslöste

22. Mai 1999 - Gabriele Reiterer
Ich habe mir immer ein geräumiges, modernes Haus mit klaren einfachen Formen gewünscht. Und mein Mann war geradezu entsetzt von Zimmern, die bis an die Decke mit Figürchen und Zierdecken vollgestopft waren“, so Grete Tugendhat über den Wunsch nach einer Architektur, die sich vom gründerzeitlichen Erbe verabschieden sollte.

Im Brünner Schwarzfeldviertel, einer gehobenen bürgerlichen Wohngegend, hatten Grete Löw Beers Eltern dem jungen Paar zur Hochzeit eine Parzelle zum Geschenk gemacht. 1928 fanden die ersten Gespräche mit Mies van der Rohe statt. Ende des Jahres legte Mies bereits die ersten und in ihren Zügen wesentlichen Entwürfe vor. Obwohl es während des weiteren immer wieder zu Modifikationen kam, dürfte in den Grundfragen große Übereinstimmung zwischen Auftraggebern und Architekt geherrscht haben.

Die ungewöhnlichste und innovativste Entwurfsentscheidung war jene zugunsten einer Stahlskelettkonstruktion: Es waren damit weniger tragende Teile nötig, die Mauerstärken konnten reduziert werden, und freiere Grundrißlösungen wurden möglich. Die Stahlkonstruktion ermöglichte in der Folge den riesigen lichten Wohnraum mit seinen Glasfronten.

Der zweieinhalbgeschoßige Bau befindet sich an stark abschüssigem Gelände und liegt quergestreckt in den Hang eingepaßt. Während die Villa zur Straßenseite hin nahezu hermetisch abgeschlossen anmutet, öffnet sie sich südseitig mit unvergleichlicher Aussicht auf die Stadt. Im Souterrainsockel befinden sich die Wirtschafts- und Wartungsräume des Hauses. In der dreiteiligen zweiten Ebene, dem Hauptwohngeschoß, dominiert der 280 Quadratmeter große Wohnraum. Empfangsraum, Arbeitsraum mit Bibliothek und Sitzecke, Wohnzimmer und Eßbereich gehen frei ineinander über; Arbeitsbereich und vorderer Wohnbereich sind von einer freistehenden Wand aus Onyxplatten getrennt. Im zweiten Teil befinden sich Küche und Diensträume, der dritte Teil beherbergt Personalzimmer, die über einen eigenen Zugang von außen verfügen. Im Obergeschoß mit Eingang von der Straße lagen die privaten Wohnräume der Eltern und Kinder.

Die technische Ausstattung der Villa war auf dem höchsten und neuesten Stand der Zeit: Zentralheizung, wobei die verglaste Südfront des Wohnbereichs über eine eigene, zusätzliche Heizanlage verfügte, die im Sommer als Kühlsystem Verwendung fand; ein Teil der riesigen Fenster konnte hydraulisch in den Boden versenkt werden; ein Lichtschranken mit Photozelle schloß die Verbindungstür zwischen Straße und Terrasse im Obergeschoß automatisch. Während das obere Geschoß konventioneller gehalten ist, evoziert das offene Konzept im Hauptgeschoß ein freies Raumerlebnis; im riesigen Wohnbereich ersetzt das Raumkontinuum die traditionelle Aneinanderreihung von räumlichen Funktionsbereichen.

Eine wesentliche Rolle der Raumteilung und -gliederung kommt dabei den freistehenden Wandelementen zu: der halbrunden Wand aus kostbarem Makassar-Ebenholz, die der Abgrenzung des Eßbereichs diente, und der teuren Onyx-Wand, deren Preis allein in etwa dem Wert eines Einfamilienhaus entsprach.

Die gesamte Innenausstattung plante Mies van der Rohe selbst; zum Teil in enger Zusammenarbeit mit der Innenarchitektin Lilly Reich. Ein Großteil der Möbel wurde vom Architekten eigens für die Villa Tugendhat entworfen. Die Inneneinrichtung der Villa Tugendhat ist wesentlicher Bestandteil der Planung, durch ihre raumgliedernde Rolle besitzt sie im Gesamtkonzept einen integrierenden Anteil.

Die lokale Architekturszene begegnete dem Bau, der 1930 bezugsfertig war – gelinde ausgedrückt –, mit Zurückhaltung. Brünn hatte sich zu jener Zeit neben Prag zu einem bedeutenden Zentrum moderner Architektur entwickelt. Hier bauten und lehrten Bohuslav Fuchs , Jiri Kroha, Arnošt Wiesner und andere. Bereits ab der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre entstand hier eine Architektur, die sich programmatisch mit der sozialen Frage, dem Wohnproblem der unteren sozialen Schichten auseinandersetzte.

Der kühl-elegante Solitär, dessen Baupreis angeblich so hoch war wie der von dreißig kleinen Einfamilienhäusern, bekannte sich radikal und eindeutig zur Formensprache der Moderne, sprengte jedoch zugleich fremdkörperartig die strukturelle örtliche Architekturentwicklung. Die Kritik am Bau kam von der Architekturavantgarde selbst. Karel Teige, wortgewaltiger Avantgardist und Schlüsselfigur der Bewegung, nannte den Bau ein Exempel für die verfehlte Richtung in der modernen Architektur, einen „Gipfel des modernen Snobismus“.

Das deutsche Echo gestaltete sich anfangs eher zurückhaltend. Walter Riezler besprach den Bau 1931 in der Werkbundzeitschrift „Die Form“. Er hob vor allem die Verwirklichung neuer Ideen hervor, die nicht nur in Zweckmäßigkeit resultiere, sondern „Geistigkeit“ evoziere. Justus Bier schließlich stellte in der darauffolgenden Ausgabe die Frage nach der „Bewohnbarkeit“ des Hauses. Er stellte zwar fest, „daß man sich in diesen Räumen dem Eindruck einer besonderen Geistigkeit sehr hohen Grades nicht entziehen kann“, zweifelte aber daran, „ob die Bewohner die großartige Pathetik dieser Räume dauernd ertragen werden, ohne innerlich zu rebellieren“.

Fritz und Grete Tugendhat reagierten umgehend auf die Kritik und verteidigten das Konzept. Ein Satz in Riezlers Kritik brachte schließlich genau jenes Moment zutage, das Bruno Reichlin die „Ambivalenz“ der Villa Tugendhat nennt. Denn bei aller Modernität übersteigt das Haus mit einer Gesamtnutzfläche von 1250 Quadratmetern die Ansprüche an ein Einfamilienhaus bei weitem.

Anlage und Struktur sind offensichtlich an einer Wohnform und einem gesellschaftlichem Kodex der vergangenen Zeit orientiert. Wolf Tegethoff hat in seinen Studien über die Villa Tugendhat auf deren repräsentative Ausrichtung hingewiesen. So diente etwa die Eingangshalle in ihrer Funktion als Wartefoyer für Besucher noch gesellschaftlich-zeremoniellen Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts. Die Villa verfügte über einen beträchtlichen Personalstab, der auch großteils im Haus wohnte.

Die Abgrenzung der Wirtschaftsräume vom Aufenthaltsbereich der Bewohner in einem eigenen Trakt bedeutete ebenfalls eine Reminiszenz an vergangene Wohnformen. So „bleibt die Tatsache bestehen, daß der Gesamtorganismus des Hauses einen Zustand perpetuiert, der noch weitgehend den großbürgerlichen Idealen und Umgangsformen des 19. Jahrhunderts verpflichtet ist“.

Die repräsentativen Funktionen wurden jedoch von der Familie Tugendhat nur mehr eingeschränkt wahrgenommen. Das Leben im Haus war insgesamt eher privat ausgerichtet, Fritz und Grete Tugendhat wahrten die gesellschaftlichen Codes ihrer Herkunft nur mehr in bedingtem Ausmaß. Im Spannungsfeld zwischen großbürgerlicher Wohnkultur und deren Negierung angesiedelt, steht die Villa Tugendhat gewissermaßen zwischen den Zeiten.

Der Familie Tugendhat verblieben nur wenige Jahre in ihrem Haus. 1938 emigrierte sie in die Schweiz, später nach Venezuela. Einen Teil der beweglichen Ausstattung nahm sie mit. Als „jüdisches Eigentum“, deren Besitzer zudem das Land verlassen hatten, galt die Villa den nationalsozialistischen Besetzern als herrenlos und ging automatisch in Staatsbesitz über. Bereits in den frühen vierziger Jahren war der Großteil des zurückgelassenen Inventars verschwunden.

Während des Krieges waren im Haus Konstruktionsbüros der Flugzeugbauer Messerschmidt untergebracht, nach 1945 nahm es die Rote Armee in Beschlag, der es zum Teil als Pferdestall diente. Nach dem Krieg richtete sich in der Villa eine private Rhythmikschule ein. Aus ihr wurde in der kommunistischen Tschechoslowakei 1962 die Abteilung für Heilgymnastik der Brünner Kinderklinik. Ein Jahr später erklärte die staatliche Behörde für Denkmalschutz die Villa zum Kulturdenkmal. Der Entscheidung waren jahrelange Bemühungen um eine Nutzungsänderung vorangegangen.

Trotz anfänglicher Pläne, das Haus einer kulturellen Nutzung zuzuführen, fand die Villa schließlich ab 1986 als hochrangiger Tagungsort und Repräsentationssitz der Stadt Brünn Verwendung. Die vorangegangene „Renovierung“ist heute heftigst umstritten. Durch keineswegs notwendige Erneuerungsmaßnahmen, vor allem in Bad und Küche, wurde originale Substanz teilweise vernichtet. Die Verwendung von unsachgemäßen Materialien zog zum Teil grobe Folgeschäden am gesamten Bau nach sich. Diese sind jetzt unter anderem Gegenstand einer grundlegenden Vorabklärung für das weitere Vorgehen.

Am 1. Juli 1994 wurde die Villa Tugendhat als Museum eröffnet. Aufgrund wesentlicher Baumängel wird jetzt eine weitere Instandsetzung – diesmal in Zusammenarbeit mit einer internationalen Expertenkommission, dem international anerkannten Wert des Hauses Rechnung tragend – durchgeführt.


Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Architektur im Ringturm“ist von 26. Mai bis 16. Juli (Montag bis Freitag 9 bis 18 Uhr)die umfassende Dokumentation „Das Haus Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohe – Brünn 1930“ zu sehen [ Wien 1, Schottenring 30 ].

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