Bauwerk

Neuer Traversina-Steg
Conzett Bronzini Partner AG - Rongellen (CH) - 2005

Faszination der Enge

Der neue Traversina-Steg der Viamala in Graubünden

10. September 2005 - Inge Beckl
Die Viamala ist eine legendäre Schlucht inmitten Graubündens. Meist passiert man sie schnellstmöglich auf der San-Bernardino-Route in Richtung Süden. Seit einigen Jahren jedoch wird ihre raue Landschaft vermehrt für Wanderer und Touristen erschlossen. Der neue Traversina- Steg ergänzt über einem Seitental des Hinterrheins den Wanderweg «Veia Traversina». Doch einen Traversina-Steg gab es schon einmal: Am 18. Juni des Jahres 1996 hatte ihn der stärkste damals verfügbare Helikopter der Schweiz, ein Kamow K 36 russischer Bauart, von einem Bauplatz nahe der alten Kantonsstrasse durch die Viamala 500 Meter in einen Seitenarm der Schlucht hinein geflogen. In sechzig Meter Abhängedistanz baumelte daraufhin der über vier Tonnen schwere Unterbau des ersten Traversina- Stegs über der Schlucht. Er war aus Holz und Stahl gefertigt und als Dreigurt-Fachwerk konzipiert. Während der Schneeschmelze 1999 jedoch riss ein Felssturz den Steg in die Tiefe.

Hängende Treppe über der Schlucht

Vor wenigen Tagen nun wurde der neue Traversina-Steg eröffnet. Was ist gleich geblieben? Geblieben ist der Ingenieur: Die Bauträgerschaft, der Verein Kulturraum Viamala, hatte erneut Jürg Conzett vom Churer Büro Conzett, Bronzini, Gartmann AG mit dem Entwurf beauftragt. Aber sonst ist alles anders - sowohl der Standort als auch die Konstruktion der Brücke. Um seine Sicherheit fortan zu gewährleisten, wurde der Steg weiter nach vorne zum Haupttal hin verschoben. An der neuen Stelle kamen die beiden Brückenenden aber unterschiedlich hoch zu liegen. Das Gefälle zwischen den Koten der Auflager auf den gegenüberliegenden Tobelflanken beträgt rund 25 Meter. Conzett und sein Mitarbeiter Rolf Bachofner entschieden sich diesmal für eine Hängebrücke, genauer: eine hängende Treppe, die 40 Meter und mehr über dem Talgrund schwebt.

Der neue Steg ist 57 Meter lang, rund 200 Tonnen schwer und aus einem vorgespannten Drahtseil-Fachwerk aufgebaut. Die Hauptseile, die seitlichen Diagonalstäbe, die Querträger aus Stahl sowie der Gehweg aus Lärchenholz wurden vor Ort montiert. Die wohl spektakulärste Baustelle dieses Sommers konnte nur absolut schwindelfreie Bauarbeiter anheuern, die an Seilen gesichert waren. Für Wandernde mit Höhenangst bietet der fertige Gehweg nun aber insofern Halt, als er aus einer Scheibe aus zehn parallel verlegten Brettschichtholzträgern besteht, die - da beidseitig auskragend - den Passanten den Sichtkontakt in den Talgrund direkt unterhalb verwehrt. Träger und Scheibe dienen zudem der Steifigkeit der Konstruktion, so dass die Brücke kaum ins Schwingen kommt, wenn man sie auf ihren 176 Stufen überquert.

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Die «Traversina-Treppe» ist ein neuerliches Juwel der Schweizer Ingenieurbaukunst, aber auch des «Ecomuseum Viamala». Dieses erstreckt sich vom Domleschg ins Schams und folgt im Wesentlichen einem ursprünglich römischen Saumpfad. Auf dem Weg finden sich zahlreiche Kulturgüter - und wie schon der erste wird wohl auch der zweite Traversina-Steg manch Architektur- oder Technikinteressierten in die Region locken. Neben dem Römerweg führt überdies die «Via Spluga» durch das enge Tal, die sich an Zillis vorbei über den Splügenpass bis ins italienische Chiavenna erstreckt. Dieser Weitwanderweg erfreute sich in den letzten Jahren grosser Beliebtheit, denn die Viamala-Schlucht lässt ihren Mythos auch sehr hautnah, in ursprünglicher, ja authentischer Umgebung erleben. Wandert man nach dem Besuch von Traversina-Steg und der eigentlichen Schlucht weiter nach Süden, so stösst man auf die nächste Conzettsche Brücke: den 1999 erstellten Pùnt da Suransuns. Konstruktiv gesprochen handelt es sich hier um eine Spannbandbrücke, deren Gehweg mit Granitplatten aus dem nahen Andeer ausgelegt ist. Wie der erste Traversina-Steg wurde sie mehrfach preisgekrönt.

Steht man nun auf dem Pùnt da Suransuns und blickt himmelwärts, überquert direkt über einem eine Strassenbrücke der A 13 die Schlucht. Diese stammt von Christian Menn, einem weiteren Meister des Schweizer Brückenbaus. Die Betonbrücke erfüllt im europäischen Transitverkehrsnetz eine wichtige Rolle für den Alpenraum. Als sie in der Nachkriegszeit erbaut wurde, begriff man die Viamala primär als gefährlichen oder eben schlechten Weg, wie dies der lateinische Name besagt. Ihn galt es sicher und schnell zu überwinden. Anders als bei diesem Bauwerk wollte man beim weniger hoch über dem Talboden errichteten Fussgängersteg die technischen und menschlichen Eingriffe in die Natur so zurückhaltend und nachhaltig wie möglich gestalten. Die beiden Brücken oben und unten versinnbildlichen somit nicht nur verschiedene Geschwindigkeiten, sondern auch ihren je eigenen Zeitgeist. Seit Jahrhunderten bezwingen die Menschen die Enge der Viamala: Früher markierten Kapellen Anfang und Ende dieses Wagnisses; heute passiert man sie schnellstmöglich - oder man lässt sich im Schritttempo wieder vermehrt von ihr faszinieren.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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Akteure

Tragwerksplanung

Bauherrschaft
Verein Kulturraum Viamala

Fotografie