Bauwerk

Volksschule
Peter Nigst - Wien (A) - 1998
Volksschule, Foto: Peter Nigst

Betreten des Grüns verboten

Nach einem Architekturfrühling droht in Wien wieder die Winterstarre. Die magistratischen Ellen, nach denen Gestaltungsspielraum zugemessen wird, scheinen kürzer zu werden: die Volksschule von Peter Nigst in der Wagramer Straße - ein Fallbeispiel.

24. Oktober 1998 - Walter Zschokke
Man kann Schulhäuser auch in die Höhe bauen. Wie das etwa in den Wiener Gründerzeit-Vierteln ge- schehen ist. Und jene über sechs Stockwerke reichende Schule in der Schäffergasse, von Siegfried Theiss und Hans Jaksch, aus den frühen fünfziger Jahren gehört architektonisch zum Besten ihrer Zeit. Seither waren maximal drei Geschoße üblich. Doch kürzlich konnte wieder ein vertikal entwickelter Bautyp realisiert werden.

An eine sechsgeschoßige Wohnhauszeile entlang der Wagramer Straße schließt, von einem gassenartigen Durchlaß getrennt, der helle Baukörper der neuen Volksschule an. Große Öffnungen im unteren Fassadenbereich oder entsprechend zusammengefaßte Fensterschlitze kontrastieren zu den Bandfenstern vor den darüberliegenden Geschoßen und signalisieren eine differenzierte Nutzung. Die Schar schmaler hoher Fenster belichtet die knappe, über zwei Geschoße reichende Eingangshalle. Die vier mit Lamellen verschatteten Öffnungen daneben gehören zum erdgeschoßigen Turnsaal.

Im zweiten Obergeschoß befindet sich der Ganztagesbereich mit Küche nebst Freizeitklassen; im dritten sind vier Klassen sowie die Direktion mit Lehrerzimmer und Bibliothek untergebracht; im vierten weitere vier Klassen, eine Vorschulklasse sowie Sammlungs- und Werkräume; den fünften Stock teilen sich Gruppenräume, ein Mehrzweckraum sowie eine betretbare und eine nicht betretbare Dachterrasse.

Die Schulhausgänge sind hell und weiträumig, mit einer kleinen Ganghalle auf jedem Geschoß. Das Stiegenhaus greift mit dem einen Podest jeweils aus dem Bauwerk hinaus in den Raum über dem schmalen Durchgang. Dieser Teil ist erkerartig verglast und bietet nach beiden Seiten Aussicht in den Gassenraum. Einem aufgestelzten Rucksack gleich, hängt an der Gebäuderückseite ein gedrungener Gebäudeflügel mit jeweils zwei Klassen pro Geschoß. Er schirmt eine offene Pausenhalle im ersten Stock, von der eine Außentreppe in den kleinen Hof führt. Knapp dahinter streben die neuen Wohntürme von Coop Himmelb(l)au, Peichl & Partner und NFOG in die Höhe.

Die Schule stammt ebenfalls von NFOG-Architekten (Nigst, Fonatti, Ostertag, Gaisrucker), den Autoren des städtebaulichen Konzepts für die Bebauung auf der Fläche zwischen der U 1 in Hochlage und der Wagramer Straße. Für das Projekt zeichnet vor allem Peter Nigst verantwortlich, als Mitarbeiter wirkte Markus Lang. Die räumlich attraktiven Erschließungsflächen und die heitere Atmosphäre hinterlassen beim Betrachter einen angenehmen Eindruck. Es bieten sich mehrere Pausenbereiche an, wo die Kinder ihren Bewegungsdrang ausleben können.

Doch gibt es Punkte, die unverständlich erscheinen, was jedoch nicht dem Architekten anzulasten ist: Die Turnhalle befand sich im ersten Entwurf zuoberst, wie dies statisch und schulbetrieblich sinnvoll wäre.

Ein Spardekret mit zehn Prozent Kostenreduktion drückte auf den Ausbaustandard. Als zusätzliche Knacknuß mußte plötzlich die Turnhalle mit konstruktivem Mehraufwand ins Erdgeschoß verlegt werden, begründet mit der abendlichen Nutzung durch Sportvereine - trotz eingeplanter funktionaler Trennung. Jetzt dürfen dafür die Kinder täglich ins dritte und vierte Geschoß hinaufsteigen. Von dieser Warte ist es doppelt unverständlich, daß die nahe, begrünte Dachterrasse nicht betreten werden soll.

Die großflächige Werbung einer nahen Autowerkstätte dominiert gewinnträchtig die nordöstliche Stirnseite. Ein gemeinsam mit einem Künstler ausgearbeiteter Gegenvorschlag des Architekten fand keine Gnade. Ein durchdachtes Farbkonzept für die Innenräume wurde zerredet, sodaß als Alternative schlichtes Weiß blieb.

Nun könnte man abwinken: Dies sei ein Einzelfall. Doch die Erfahrungen engagierter Architekten, die im Schulbau etwas anderes als das Reglementierte ausprobieren wollten, sprechen eine andere Sprache. - Ob wohl Zvi Hecker in Wien so hätte bauen dürfen wie in Berlin? Nach einem kurzen Architekturfrühling ist das Klima wieder herbstlich kühl geworden. Hinter der Nebelwand der Projekte einiger „Stararchitekten“ grassiert restaurative Realität. Mammutkommissionen mit wechselnder Besetzung, in denen jede Amtsstelle unhinterfragt recht haben darf, weiten ihre Ermessensspielräume zu Lasten der Architektur beliebig aus. Was dazu führt, daß den Bauherrschaften jedes (Persönlichkeits-)Profil fehlt.

Die dezente Farbgebung in Reseda und Mattgrün, die Hermann Czech vor über zehn Jahren am Stadtparksteg ausführte, wurde kürzlich in grob kontrastierendes Lichtgrau mit hellgrünen Geländern umgestrichen.

In der Erzherzog-Karl-Stadt kam es an einem eben fertiggestellten Wohnbau von Michael Loudon zu einer willkürlichen „Verschönerung“. Wer dessen Architektur kennt, weiß, wie wichtig ihm schweigende, neutrale Wandflächen im Gesamtkontext sind. Auf eine solche, bewußt leer gehaltene Gebäudestirn wurde, ohne Rücksprache mit dem Architekten, in einem Anfall von Horror vacui umfangreicher kunstgewerblicher Schmuck appliziert - wo andererseits Architekten ihre Fassaden der Magistratsabteilung für Stadtgestaltung zur Vidierung vorlegen müssen.

Der Weggang des nach Brüssel mandatierten Planungsstadtrats Hannes Swoboda hat hinsichtlich Architektur in Wien ein kulturpolitisches Vakuum hinterlassen, in das jetzt beliebig kleinkrämerisch hineinreklamiert und -dekretiert wird. Was Wien auf mittlere und lange Frist erneuerte Identität und überregionale Prägnanz vermitteln könnte, eine lebendige zeitgenössische Architektur und deren nachhaltige Entwicklung, bleibt auf der Strecke.

Aus dem Mißstand ergibt sich die Forderung nach einer unabhängigen Architekturanwaltschaft für Wien. Ein auf Zeit gewählter Einzelkurator oder ein Dreiergremium mit entsprechenden Kompetenzen, wie dies in den Niederlanden oder in Spanien der Architektur Auftrieb verlieh, könnte unabhängig von politischen Wetterwechseln der Architekturqualität den nötigen Rückhalt geben.

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