Bauwerk

Notre-Dame du Raincy
Gebrüder Perret - Paris (F)
Notre-Dame du Raincy, Foto: Hubertus Adam
Notre-Dame du Raincy, Foto: Hubertus Adam
Notre-Dame du Raincy, Foto: Hubertus Adam

Betonstruktur und Glashaut

Pioniertat des Stahlbetonbaus: die Kirche Notre-Dame du Raincy, von den Gebrüdern Perret in den zwanziger Jahren gebaut.

15. Mai 1997 - Hubertus Adam
Längst ist der kleine, ungefähr vierzehn Kilometer östlich des Pariser Stadtzentrums gelegene Ort Le Raincy in der wuchernden Zone der Banlieue aufgegangen. Wer hier nicht wohnt oder geschäftlich zu tun hat, wird den Vorortzug kaum verlassen. Niedrige Häuser säumen die hangaufwärts gerade nach Norden führende Hauptstrasse und verleihen dem unspektakulären Ambiente den Charakter vorstädtischer Beschaulichkeit. Als Blickfang der Strasse ragt auf der Anhöhe ein turmartiges graues Gebilde auf. Bündel von röhrenartigen Rundpfeilern umfassen den sich nach oben hin abgestuft verjüngenden und in ein Kreuz mündenden Turm der Kirche Notre-Dame du Raincy.

Der Bauherr der Kirche, Abbé Nègre, war experimentierfreudig und Neuerungen gegenüber aufgeschlossen. Er wusste genau, wem er den Auftrag gab, für die vergleichsweise bescheidene Summe von 600 000 Francs ein Gotteshaus zu errichten, das zugleich dem Gedenken an die Gefallenen der Marne-Schlacht von 1915 dienen sollte. Über Bekannte hatte er von den Gebrüdern Perret erfahren, die sowohl als Architekten wie auch als Bauunternehmer fungierten und sich seit Anbeginn ihrer Karriere Stahlbetonkonstruktionen verschrieben hatten.

Die beiden Perret-Brüder kamen 1874 beziehungsweise 1876 in Brüssel auf die Welt, und zwar als Söhne eines nach der Niederschlagung der Pariser Commune nach Belgien geflohenen Bauunternehmers. Sie studierten an der Ecole des Beaux-Arts in Paris, verliessen die Schule aber noch vor dem Diplom und wechselten in die architektonische Praxis. Ihre Aufmerksamkeit galt vor allem der ingenieurtechnischen Entwicklung, die gerade in Frankreich entscheidend dazu beitrug, dass sich die Architektur aus den historistischen Fesseln des 19. Jahrhunderts befreien konnte. Baltards Pariser Hallen, der Turm, den Eiffel für die Weltausstellung entworfen hatte, und schliesslich Freyssinets Luftschiffhallen in Orly überragten hinsichtlich ihrer Modernität die Baukunst ihrer Zeit.

Die theoretisch von den Schriften Viollet-le-Ducs und Auguste Choisys inspirierte Suche der Perrets nach Offenlegung konstruktiver Zusammenhänge zeigte sich schon am Casino von Saint-Malo, das die Brüder 1899 erbauten. Auguste war für den Entwurf verantwortlich, sein Bruder Gustave für den unternehmerischen Bereich. Blieb die Verwendung des neuen Baumaterials Stahlbeton hier auf einen Aussenteil des Gebäudes beschränkt und zudem unsichtbar, so geriet das nur vier Jahre später entstandene Wohnhaus an der Rue Franklin zum Fanal der neuen Konstruktionsweise: Die auch an der Fassade ablesbare Stahlbetonkonstruktion erlaubte dank der Minimierung der Wandflächen eine exzellente Belichtung der Innenräume des eine schmale Parzelle ausfüllenden Hauses.

Die bei Dockanlagen in Casablanca (1915) und bei dem Pariser Konfektionshaus Esders (1919) gewonnene Erfahrung mit der Überwölbung sehr grosser Raumweiten kam Auguste Perret in Le Raincy zugute. Wie Freyssinet in Orly bewiesen hatte, wäre es gewiss technisch möglich gewesen, einen etwa 20×55 Meter messenden Raum stützenfrei mit Stahlbeton zu überwölben. Doch Perret nahm Abstand von einer reinen Ingenieurlösung und schuf eine Synthese aus architektonischer Tradition und bautechnischer Neuerung. Für den Stahlbeton sprachen vorderhand ökonomische Kriterien: Standardbauelemente konnten seriell gefertigt werden, Verschalungen liessen sich mehrfach einsetzen, so dass die Bauzeit sich auf dreizehn Monate reduzierte.

Der Grundriss mit zentraler Apsis und Eingangsturm beweist, dass die völlig aus Stahlbeton errichtete Kirche Notre-Dame in Le Raincy die abendländische Tradition der Sakralbaukunst fortschreibt, sie jedoch in einer neuen, materialgerechten Sprache formuliert und artikuliert. Das betrifft zunächst die Entscheidung, das Prinzip der Dreischiffigkeit aufzugreifen. Dabei besitzen die Joche der Seitenschiffe die halbe Breite des Mittelschiffs - ein seit der Romanik geläufiges Proportionsverhältnis. Mehrschiffigkeit aber musste bedeuten, auch auf das System von Stütze und Last, von Säule und Gewölbe zurückzugreifen. Des Einsatzes von Stahlbeton wegen konnte der Architekt schlanke Rundstützen ohne Kapitell und Basis verwenden. Mit den Kannelüren tilgte man die unsauberen Abdrücke der Schalungen; es mag sich darin aber auch jene klassizierende Tendenz offenbaren, die Perrets ‘uvre zeit seines Lebens grundierte.

Auf den Stützen ruhen die flachen Gewölbe der Seitenschiffe, welche in der Dachzone ausgesteift wurden und quer zur Längsachse der Kirche ausgerichtet sind, um den Tiefenzug des durchgehenden Hauptgewölbes subtil zu rhythmisieren. Dieses selbst setzt niveaugleich mit der Scheitelhöhe der Seitenschiffgewölbe an, was eine leichte Erhöhung des Raumes bewirkt und das Mittelschiff zusätzlich auszeichnet. Indem Perret den Fussboden vom Eingang her Richtung Chorraum nach Art eines Auditoriums absenkte, orientierte er die Gemeinde auf den Altar als liturgisches Zentrum.

Die entscheidende Neuerung Perrets in Le Raincy bestand darin, Wand und Tragstruktur zu trennen. Während die Pfeiler bei der gotischen Kathedrale in die Wand integriert sind und aus dieser lediglich partiell hervortreten, stehen die äusseren Rundpfeiler in Perrets Bau vor der Wand. Die konstruktiven Elemente sind somit optisch von der Raumhülle abgesetzt.

Damit eröffnete sich die Möglichkeit, die endgültig von ihrer statischen Funktion entlastete Wandschicht frei zu gestalten; in Le Raincy arbeitete Perret mit einem Raster vorfabrizierter verglaster Betonelemente von 60×60 cm. Durch eingelassene Kreise, Kreuze sowie horizontale und vertikale Balken gelang eine einfache Differenzierung, die eine auch am Aussenbau wirksame dekorative Gestaltung von textil anmutender Qualität entstehen liess.

Durch die ornamentale Verwendung der Formelemente ergeben sich Kreuzformen, in deren Mitte sich jeweils ein Bildfeld befindet. Maurice Denis entwarf die Bildszenen des Marienlebens, er war aber auch für die Farbgestaltung der ungegenständlichen Fensterflächen verantwortlich. Bleiben die Betonteile der Fassaden beim Blick von aussen bestimmend, so lösen sich die Wandpartien oberhalb des Sockels im Inneren, das zum Altar hin leicht abfällt, vollends in Licht auf. Perrets Bau von 1922/23 avanciert zu einem Reflex des 20. Jahrhunderts auf die Lichtvisionen Abbé Sugers, welche sich in Saint-Denis materialisierten und damit die Epoche der Gotik einleiteten.

Wie Saint-Denis hat auch Le Raincy seine Bewunderer gefunden - und seine zahlreichen Nachfolgebauten; man denke an Karl Mosers St. Antonius in Basel oder an Egon Eiermanns Neubau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin.

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