Bauwerk

Marktzentrum Kirchpark
Bruno Zurkirchen, Daniele Marques - Lustenau (A) - 1996
Marktzentrum Kirchpark, Foto: Ignacio Martinez

Blau aus der Dorfzentrifuge

Lustenau, Vorarlberg: ein Großdorf, aber noch lange keine Kleinstadt. Die Dorfstruktur ist erhaltenswert, bedarf aber einer zentrierenden Mitte. Bruno Zur-kirchen und Daniele Marques haben nun den Kirchplatz als solche gestaltet.

5. Dezember 1998 - Walter Chramosta
Das Vorarlberger Rheintal hat durch die Wechselwirkung der weiten Ebene mit den Bergsilhouetten ein einmaliges Gepräge. Als charakteristische Phänomene treten noch dauerfeuchte Westwetterstaus und ein irritierender Siedlungstyp hinzu, den man in dieser Sortenreinheit in anderen Bundesländern nicht kennt: das schier endlose, richtungslose Dorf. Lustenau ist dessen bekannter Prototyp und unterscheidet sich strukturell deutlich von Bregenz oder Dornbirn.

Während letztere durch ihre Gliederung mit Kern und Rand, durch ihre Lage in starkem Gelände, durch ihre regional bedeutsamen Angebote als Städte einzuschätzen sind, gilt Lustenau trotz seiner etwa 20.000 Einwohner als Dorf. Die auffällige Sonderheit der Ortschaft ist in einer Randlage zu Vorarlberg ausgeprägt worden, sie manifestiert sich im Selbstverständnis der Bewohner, in der Sprache, aber auch im Siedlungsmuster. Lustenau ist ein wohlhabender Industriestandort mit agrarischem Gepräge.

Der Ort ist attraktiv für das Wohnen, weil das Private dominant ist, aber für Unkundige durch die aus sieben Weilern zusammengewachsene Bebauung schwer orientierbar. Die Siedlungsemulsion aus Einfamilienhäusern und kleinen Gewerbeanlagen hat sich bis in die neunziger Jahre nirgends zu einem Zentrumsraum verdichten lassen, höchstens der „Kirchdorf“ genannte Bereich um die katholische Pfarrkirche, den Friedhof und das Rathaus fällt auf.

Eigentlich beginnt die nun abgeschlossene erste Zentrierung Lustenaus schon Ende der fünfziger Jahre. Durch den Verzicht der Gemeinde, die an den Kirchplatz grenzende Liegenschaft für eigene Zwecke zu erwerben, kommen an dieser strategischen Stelle kommerzielle Nutzungen zum Zug. Gleichzeitig setzt die Gemeinde mit der Errichtung des noch heute bestechenden Rathauses neben der Pfarrkirche ein wirksames Zentrumszeichen. Es liegt zwar nicht am Platz, aber gibt dem Ensemble rundum kommunale Bedeutung.

1983 erfolgt über einen baukünstlerischen Ideenwettbewerb ein nächster Konkretisierungsschritt, gesucht sind Entwürfe für die Gesamtgestaltung des Ortszentrums. Das Ergebnis dieses Verfahrens überzeugt mehr durch das klare Bekenntnis zum Platzraum als durch die dann errichteten Bauten. Der als Kulturhaus gedachte Reichshofsaal entwickelt zwar eine der Kirche ebenbürtige Präsenz, seine Gestik wirkt aber grotesk überzeichnet. Über die Banalität der beiden später entstandenen Eckhäuser, die nun das Gegenüber der Pfarrkirche abgeben, breitet man eingedenk der Vorarlberger Standards besser den Mantel des Schweigens.

So ergibt sich 1990 ein Platzfragment, das seine intendierte Rolle als Reservoir des Öffentlichen noch immer nicht übernehmen kann. Durch die ungelöste Individualverkehrsproblematik überfordert, aber vor allem von der Absenz des Urbanen belastet, erklärt sich der Ort nicht von selbst. Den Durchbruch schafft neuerlich ein Wettbewerb. Diesmal stellt die Gemeinde gemeinsam mit der regional bekannten Unternehmerfamilie Sutterlüty die Frage nach einem Ersatzbau für den Selbstbedienungsmarkt an der Südseite. Daß damit endgültig der langgehegte Zentrumswunsch Lustenaus zur Disposition stand, war den Gemeindevätern und der Jury bewußt.

Die Entscheidung für das schneidige Projekt der in der Deutschschweizer Szene seit längerem hervorstechenden Luzerner Architekten Daniele Marques und Bruno Zurkirchen kommt daher nicht überraschend. Es arbeitet nämlich die ortsplanerischen Halbherzigkeiten der Vorläufer radikal auf, es schlägt einen für den Ort lebenswichtigen, ungewohnt städtischen Ton an, es vollzieht eine für jedermann unmittelbar berührende, schlüssige Raumbildung: im halböffentlichen Bereich für den Kommerz, für die Bürger am Platz. Es beschert nach einer Planungsphase mit zeitintensiven Brüchen zwischen Bauherrschaft und Architekten doch einen - wenn auch nicht pflegeleichten und sofort konsensfähigen - Hochbau, nicht zuletzt auch noch eine überzeugende Platzfigur.

Marques und Zurkirchen thematisieren mit ihrer Architektur sinnfällig die Dreiheit von Instanzen, die eine Gemeinde prägen: Den Manifestationen von sakralem Kult und profaner Politik stellen sie das Merkantile ungeschminkt gegenüber. Denn das Öffentliche konstituiert sich aus der Überlagerung dieser Aktionsfelder einer Gesellschaft. Ihr Bau beschirmt mit einem weit auskragenden Vordach den Kirchplatz und stellt optisch dessen Symmetrie wieder her. Mit den Fassadenfluchten fassen sie die zuvor unkontrolliert in den Platzbereich mündenden Straßen ein und erzeugen akzentuierte Raumfolgen für den Passanten. Es kommt hier erstmals zu städtisch anmutender Nähe zwischen Bauwerken. Dichte deutet sich an.

Im Erdgeschoß des ganz in Holz konstruierten, mit transluzenten Kunststoffstegplatten bekleideten Baus befinden sich zum Platz geöffnet der Sutterlüty-Markt, eine Gasthausbrauerei und ein Blumenladen. Die wichtigere Seitenfassade ist von einer Ladenzeile für den täglichen Bedarf bestimmt, an der Rückseite liegt die Rampe zum Parkdeck im Obergeschoß.

Ein ursprünglich als vertikaler Gegenakzent zum Kragdach auf dem Garagendach geplanter zweigeschoßiger Wohntrakt konnte nicht ausgeführt werden. So sieht man sich bei Tag einer ihre Details exhibitionistisch vorführenden Skulptur gegenüber, die ihre Distanzwirkung aber in großen Einheiten als geschichteter Baukörper entfaltet und die bei Dunkelheit durch Be- und Hinterleuchtung zum blickfangenden Stadtlampion mutiert.

Von den Gemeindeverantwortlichen, die dieses überraschende Potential an Außenwirkungen erkannt hatten, wurden Marques und Zurkirchen auch mit der Planung des Kirchplatzes beauftragt. Obwohl Lustenau seit Jahrzehnten von „blauer“ Politik bestimmt ist, das Volk während der Bauzeit mit 56 Prozent gegen den Platzentwurf votiert hat und es zu heftigen Polemiken um die neue Mitte Lustenaus gekommen ist, vollendet nun ein fast leerer, mit blauem Bodenbelag „gehöhter“ Freiraum das Zentrumsstreben Lustenaus.

Wenn man ein disperses Gemenge „klären“ will, dann setzt man gern auf die trennende Zentrifugalkraft. Die Siedlungsmelange Lustenaus verlangt nach einer räumlichen Separierung, und Marques und Zurkirchen haben intuitiv die Ortszentrifuge in Gang gesetzt und die alles sättigende Privatemulsion ausgetrieben, um endlich einer sauberen Mitte auf den Grund sehen zu können. Und siehe da: Er ist blau wie ein klarer Abendhimmel. Wie befreiend das nach langem, nebeldumpfem Unterlandwetter ist!

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