Bauwerk

Alters- und Pflegeheim Gisingen
noldin architekten - Feldkirch (A) - 1996
Alters- und Pflegeheim Gisingen, Foto: Ignacio Martinez
Alters- und Pflegeheim Gisingen, Foto: Ignacio Martinez

Mit Mut und Anmut ins dritte Alter

Altersheime sind in der Regel modifizierte Spitalsbauten zur Verwahrung von Pflegefällen - was aber die allermeisten Senioren heute nicht sind. Das „Haus Gisingen“ in Feldkirch von Noldin & Noldin gibt älteren Menschen die Möglichkeit, Teil der Gesellscha

28. Februar 1998 - Walter Chramosta
Alter ist heutzutage kein gefährliches Endspiel mehr, sondern oft eine lang ersehnte Krönung des Lebens. Anders als frühere Generationen erlauben bewußtere Lebensführung und entwickeltere Medizin, für den persönlichen Herbst noch ein Programm zu entwickeln. Das noch immer weit verbreitete Bild der Alten im Ausgedinge, die ihrer Gebrechlichkeit gehorchend passiv pfleglicher Zuwendung harren, ist einem facettenreicheren Phänomen gewichen. Eigenständiger, kaufkräftiger und selbstbewußter ist der neue Alte, und er macht seine Rechte politisch geltend.

Eine Gesellschaft, die Jugend und Kraft als Ideale hat und die Altenfrage gern an die Kirchen, Kommunen, Krankenanstalten delegiert, ist auf diese neue Interessenlage ungenügend vorbereitet. Politik muß jetzt jedenfalls altersintegrativ sein, wenn sie zukunftsträchtig sein will.

Am anschaulichsten werden Defizite und Erfolge in der Altenpolitik an Bauten, auch wenn erst die kombinierte Betrachtung von stationären und ambulanten Angeboten das regionale Bild abrundet. Während etwa in den neunziger Jahren vom „Kuratorium Wiener Pensionistenwohnhäuser“ zentrale, industriell optimierte Massenbehausungen von bescheidenster räumlicher und damit sozialer Qualität unwidersprochen errichtet werden, laufen in anderen Ländern, wie in Ober- und Niederösterreich, bereits qualifizierte Bauprogamme für dezentrales, altersgerechtes Wohnen mit architektonischem Feinschliff.

Das Land Vorarlberg und besonders die Stadt Feldkirch nehmen jetzt im österreichischen Vergleich eine Spitzenstellung in gelebter Altenpolitik ein. 1991 verabschiedet sich Feldkirch im letzten Moment von einer bereits baureifen zentralistischen Lösung mit einem 130-Betten-Bau, um ein alternatives Altenpflegekonzept zu erarbeiten. Am Anfang steht das politische Bekenntnis zu einem nicht selbstverständlichen Höchstmaß an Qualität im regionalen Kostenrahmen. Prägend für das Feldkircher Modell ist die Ausschöpfung aller Varianten ambulanter und teilstationärer Betreuung als Ergänzung stationärer Einrichtungen.

Obwohl die zwei in diesem Programm in Feldkirch errichteten Altenhäuser im Vergleich zu anderen Heimbauten an der Kostenobergrenze liegen, macht die synchrone Stärkung des vorstationären Bereichs diese Aufwände im Vergleich mit anderen Gesamtpflegestrukturen plausibel. Beim hier vorgestellten Haus Gisingen nach dem preisgekrönten Entwurf von Regina und Rainer Noldin ergeben sich Nettobaukosten von etwa 1,7 Millionen Schilling (122.302 Euro) für jedes der 40 Betten. Die Betreuungskosten betragen je nach Pflegestufe zwischen 20.000 (1439) und 50.000 Schilling (3597 Euro) pro Person und Monat.

Solche Aufwände werden in der immer weiter aufgehenden „sozialpolitischen Schere“ - einer zunehmenden Zahl an Pflegefällen steht eine abnehmende Bereitschaft der Familien gegenüber, Pflege zu leisten - naturgemäß kontrovers erörtert. Der mit dem Altenhilfekonzept vorpreschende Sozialreferent Günter Lampert wird kritische Stimmen vergleichsweise leichter verkraften, weil einerseits die politisch angestrebte Zielsetzung eines hohen Pflegestandards mit einem angemessenen Bündel organisatorischer und baulicher Maßnahmen erreicht worden ist, andererseits Feldkirch nun über zwei beispielgebende Sozialarchitekturen verfügt. Fast gleichzeitig mit dem Haus Gisingen von Noldin & Noldin hat der ebenfalls in Innsbruck ansässige Architekt Rainer Köberl das Haus Nofels, eine klösterlich streng anmutende, allerdings sehr kommunikative Anlage errichtet.

Überraschend ist, daß weder Köberl noch Noldin & Noldin zuvor ein Altenheim errichtet haben, also nach der fragwürdigen Formalqualifikation vieler europaweiter Planungskonkurrenzen gar nicht für die Aufgabe prädestiniert gewesen wären. Trotzdem bescheren sie dem öffentlichen Auftraggeber einen bedeutenden Mehrwert an präzis konzipiertem Raum, der nun direkt und sofort an die Alten, indirekt und langfristig an eine in diesem Aspekt befriedete Stadtgesellschaft zurückfließt.

Schon die Bezeichnung als „Haus Gisingen“ ist programmatisch zu verstehen. Eine Punzierung durch den Begriff Altersheim würde eher ein hospitalisierendes Altenghetto mit ruhiggestellten Insassen meinen. Weder will sich die Fraktion Gisingen von ihren Alten abschotten, noch wollen die hier stationär betreuten Bewohner, die Gäste und die Betreuer den Kontakt zur Stadt verlieren. Das Schlagwort vom „offenen Haus“ wird von Noldin & Noldin architektonisch reif umgesetzt: durch eine mehrfache Durchdringung des Baukörpers mit dem öffentlichen Raum, durch eine überschaubare, doch in den Details reiche Gesamtfigur kann das Haus Gisingen bei Tag und bei Nacht seine Nutzwerte glaubhaft verkörpern.

Nahe dem Stadtteilzentrum mit Kirche, Post und Bankfiliale gelegen, ist der dreigeschoßige Sozialbau fußläufig leicht erreichbar. Die im Erdgeschoß untergebrachte öffentliche Bibliothek sichert Besucher aus allen Altersschichten. Das als Café ausgestattete Foyer steht jedem offen, der Betrieb des Hauses kann sich im Sommer logisch am Vorplatz und auf den Terrassen entwickeln. Optisch nimmt die Stadt durch die großflächigen Verglasungen an der westorientierten Eingangsseite sowieso jederzeit Anteil.

Die starke Gliederung der Gemeinschaftsräume an der Straßenfassade steht in angenehmer Spannung zum alles überspannenden Flachdach. Dessen drei kreisrunde Perforationen verstärken die Verzahnung von Innen und Außen, geben dem Bau, der sonst mit formalen Akzenten sparsam umgeht, ein individuelles Gepräge. Das Haus Gisingen ist einprägsam; es besticht durch seine einladende Hemisphäre mit den öffentlichen Räumen zum Vorplatz und eine stille, fast abweisende Hemisphäre mit den an drei anderen Gebäudeseiten gereihten Wohneinheiten.

Der Entwurf macht aus dem sozialpolitischen Ansatz der Öffnung des Pflegebetriebs einen städtebaulichen; das Bauwerk bestätigt das entwerferische Kalkül mit architektonischen Mitteln: Gestufte Einblicke erklären die Funktionsweise des Hauses, öffentliche Vorbereiche bauen die Schwellenangst ab, Eingänge und Aufgänge haben dosierten Aufforderungscharakter. Die Architektur affirmiert daher für viele Betrachter, obwohl bar gängiger regionalistischer Bezüge, Ort und Funktion.

Die Wohnlichkeit und Übersichtlichkeit des Inneren entkräftet eventuell noch vorhandene Skepsis, ob eine solche kompromißlose Moderne altengerecht sein kann. Respekt gegenüber der Aufgabe zeigt sich im Mut, in der Altenbetreuung beschämend lange repetierte Muster des Spitalsbaus zu verlassen, sich den Bestleistungen des alemannischen Wohnbaus, sich in der Raumstimmung sogar guten Hotelbauten der jüngsten Zeit verwandt zu zeigen.

In solchen Wohnräumen wäre auch ein junger Zeitgenosse gut behaust. Der gestalterische Mut der jungen Architekten wird den Alten Mut machen, den Gang der Zeit mitzumachen, aktiv zu bleiben. Die Anmut der Architektur und die Art der Betreuung werden sie der noch nicht alltäglichen Wertschätzung vergewissern, wie sie die Feldkircher Gesellschaft für sie aufbringt.

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