Bauwerk

Musée du quai Branly
Jean Nouvel - Paris (F) - 2005
Musée du quai Branly, Foto: Roland Halbe / ARTUR IMAGES
Musée du quai Branly, Foto: Roland Halbe / ARTUR IMAGES

Ein neues Museum von Weltrang für Paris

Im Musée du Quai Branly fusionieren Architektur und Stammeskunst

Heute wird in Paris das Musée du Quai Branly eröffnet. Der Neubau von Jean Nouvel und die darin gezeigten Werke der Stammeskunst aus aller Welt bilden eine staunenswerte Einheit.

23. Juni 2006 - Marc Zitzmann
Eine Szene wie aus einem Klamaukstreifen: In dem kurzen Schwarzweissfilm schleicht ein Eskimo über die Arktis, schnuppert an einem Eisloch, schwenkt die Harpune und schiesst - ins Schwarze! Das Seil spannt sich, der Jäger stemmt die Beine, es zieht ihn zum Loch hin, der Inuit schlittert auf das Loch zu, bringt mit Müh und Not den Strick zum Stillstand, endlich spurten ein paar Helfer herbei und hieven aus dem Loch: eine formidabel fette Robbe! Der Museumsbesucher, mit Schalk sei's gesagt, gleicht oft einer solchen Riesenrobbe: dümpelt am liebsten in seinem Loch vor sich hin und frisst sich mit der immergleichen Kost einen geistigen Speckgürtel an: Masaccio, Manet, Matisse im Sommer, Rembrandt, Reynolds, Renoir im Winter. Ihn aus seinem Loch zu hieven, ihm zum Beispiel etwas derart Ungewohntes wie Stammeskunst schmackhaft zu machen, braucht schon einige Zugkraft.

Erster Pariser Museumsneubau seit 1977

Das Musée du Quai Branly in Paris, das sich heute dem Publikum vorstellt, wird diese Zugkraft nötig haben. Wiewohl sich weltweit eine zunehmende Zahl von Kunstfreunden für Stammeskunst interessiert, lässt sich allein mit deren Besuchen wohl kaum die erhoffte Million Billette pro Jahr verkaufen. Das Profil der Besucher wird also sehr breit gefächert sein müssen, und den meisten von ihnen dürften die Namen der exotischen Herkunftsorte der Exponate wenig sagen. Noch weniger jedenfalls als die von Masaccio, Manet und Matisse, an deren Werken im Louvre, im Musée d'Orsay beziehungsweise im Centre Pompidou Scharen von Touristen vorbeieilen. Wie diese Institutionen zählt das Musée du Quai Branly, der erste hauptstädtische Museumsneubau seit dem 1977 eröffneten Centre Pompidou, zur Kategorie der Global Players unter den Museen.

Trumpf des Museums ist die Architektur von Jean Nouvel. Die Fusion von Form und Inhalt ist hierzulande beispiellos. Am Quai Branly, der an der Seine entlang von der Esplanade des Invalides zum Eiffelturm führt, empfängt den Besucher eine 12 Meter hohe geschwungene Glaspalisade mit Pflanzen-Serigraphien, hinter der kleine Pfade durch eine Hügellandschaft mäandern. Diese führen zur Museumsgalerie, einem 220 Meter langen, geknickten Kastenbau, der zum grössten Teil auf 26 aleatorisch verteilten Pfeilern steht. Alle Metallstrukturen verschwinden unter einem Verputz aus Pflaster und Kalk, wie auch im Innern die baumartigen Pfeiler in Naturtönen gehalten sind. Markant stechen aus dieser Nordfassade, auf deren 1500 Glasrauten blaugrüne Landschaftsbilder gedruckt sind, dreissig auskragende «Schachteln» heraus. Diese sind mit Holzpaneelen in kräftigen Farben verkleidet und formen im Innern der Galerie kleine Kammern. Das Ganze evoziert Hütten vor einem Urwald.

Unter der 10 Meter hohen Galerie hindurch gelangt der Besucher zu einem Tal, das zum Haupteingang führt. Auf dieser Seite des von Gilles Clément gestalteten Parks wachsen Kirsch- und Magnolienbäume und bilden zwei Becken mit Wasserpflanzen eine Art natürliche Grenze zur Rue de l'Université. Von der Empfangshalle aus steigt eine 180 Meter lange sinusförmige Rampe langsam zur Galerie empor. Der Weg führt durch einen sechsstöckigen Glasturm, in dem 9500 Musikinstrumente konserviert werden, schwebt über den derzeit noch nicht bespielten 2000 Quadratmeter grossen Raum für Wechselausstellungen im Erdgeschoss, verengt sich zu einem dunklen Tunnel und mündet endlich in die Weite der Galerie. Der Aufgang als Mischung aus Initiationsweg und Entdeckungsreise - eine schöne architektonische Metapher.

Staunenswert dann die Galerie. Die 4750 Quadratmeter grosse Plattform verzichtet völlig auf Wände, ist wegen der Dichte der Museographie aber nie je ganz zu überblicken. Die neun Meter hohe, bis zu 35 Meter breite und rund 200 Meter lange Halle durchzieht in der Länge der «Fluss» genannte zentrale Zirkulationsweg, der zwischen den Stümpfen der «Schlange» eingefasst ist. Diese mit erdfarbenem Leder tapezierten Möbel bilden langgezogene, zum Teil übermannshohe Wülste, in welche Sitzgelegenheiten und interaktive Bildschirme eingelassen sind. Organische, blob-artige Formen sind neu in Nouvels Werk.

Den «Fluss» umgeben die vier geographischen Abteilungen: Afrika, Amerika, Asien und Ozeanien. Die Farbe des Bodens zeigt jeweils an, in welcher Weltgegend man sich befindet, sonst jedoch ist der Parcours frei. Das wirkt erst irritierend, stimuliert dann aber die Entdeckerlust.

Die Sammlung setzt sich hauptsächlich aus den historischen Kollektionen des Musée de l'homme und des Musée national des arts d'Afrique et d'Océanie zusammen. Von den rund 300 000 Objekten sind 3500 dauerhaft in der Galerie zu sehen und sollen zumindest die wichtigsten übrigen innert 12 Jahren in Wechselausstellungen gezeigt werden. Als Staatspräsident Chirac 1996 das 235 Millionen Euro teure Projekt lancierte, entbrannte eine Debatte über die Frage, ob das Museum ein Kunst- oder ein Wissenschaftsmuseum sein solle. Das von Germain Viatte ausgearbeitete und von Nouvel kongenial umgesetzte Konzept verbindet beide Ansätze, den ästhetischen und den anthropologischen. Die Exponate prangen wie Preziosen in «entmaterialisierten» Vitrinen; Texte, Karten und audiovisuelle Dokumente wie der eingangs resümierte Eskimofilm finden sich an der Seite der Möbel.

Ein grosser Wurf - mit Vorbehalten

Weswegen dann die leichten Vorbehalte beim Verlassen des Museums? Die Exponate sind erstrangig. Das Gebäude besticht mit einer Vielzahl von Trouvaillen. So hat der Landschaftsarchitekt Patrick Blanc die Fassade des Verwaltungsbaus am Quai Branly in einen vertikalen Garten mit 15 000 Pflanzen verwandelt, während die Südseiten dieses Baus sowie der Mediathek mit leuchtend orangefarbenen Samurai-Säbeln gespickt sind und das Gebäude für die Restaurationsateliers an der Rue de l'Université auf die umgebende Haussmann-Architektur anspielt.

Das Vokabular der Galerie mit ihrer Schuppen- und Lederhaut, ihren Baumpfeilern und Schlangenformen, nicht zu vergessen der Art- Nouveau-Libellenflügel, der auf der Dachterrasse das Restaurant birgt, ist homogen. Aber der südliche Teil des Komplexes mit dem Mur-rideau aus unterschiedlich transparentem Glas und den weissen sowie rotbraunen Sonnenblenden mutet eher disparat an. Und im Innern wirkt manches unfertig oder unpersönlich, vor allem im Untergeschoss. So muss man warten, bis die Arbeiten wirklich abgeschlossen sind, bis der Park grünt und die Institution zu leben beginnt, um ein endgültiges Urteil zu fällen. Vorläufiges Fazit: ein grosser Wurf - mit kleinen Vorbehalten.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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