Bauwerk

Institute of Contemporary Art
Diller Scofidio + Renfro - Boston (USA) - 2006

Eine Kommandobrücke für die Kunst

Das neue Institute of Contemporary Art in Boston

Museumsarchitektur ist in den USA zum wichtigsten Betätigungsfeld innovativer Architekten geworden. Für das Institute of Contemporary Art realisierten Diller & Scofidio im Hafen von Boston ein neues Domizil. Bekannt geworden sind die Architekten durch ihre Expo-Wolke.

2. Dezember 2006 - Hubertus Adam
Vor gut zwanzig Jahren fing Boston an, die historischen Hafenareale zu reaktivieren. Zur touristischen Attraktion wurde das Gebiet von Long Wharf, wo sich heute das New England Aquarium befindet. Ringsum zeugen Neubauten mit luxuriösen Condominiums vom Interesse an wassernahen Wohnlagen, die überdies durch die unmittelbare Nachbarschaft zum Financial District begünstigt sind. Auch die südlich anschliessende Gegend am Fort Point Channel unterliegt der Transformation: Inmitten des als Hafenbecken ausgebildeten Stichkanals entsteht das Museum der «Boston Tea Party» neu, in der Nähe hat unlängst das Children's Museum in einem alten Lagerhaus eröffnet, und weiter östlich liegt das neue Kongresszentrum von Rafael Viñoly. Unweit davon befindet sich das städtebauliche Entwicklungsgebiet des Fan Pier, wo sich seit neustem inmitten von Brachen und Parkplätzen, aber direkt am Quai der Neubau des Institute of Contemporary Art (ICA) erhebt. Dieser führt den internationalen Boom im Bereich der Kulturbauten fort und beweist einmal mehr, dass Museumsarchitektur in den USA zum wichtigsten Betätigungsfeld innovativer Architekten geworden ist.

Maschine der Wahrnehmung

Die 1936 als Boston Museum of Modern Art gegründete und 1948 in ICA umbenannte Institution war die erste in den USA, die das Adjektiv «contemporary» im Titel führte. Lange Jahre nutzte das ICA, das sich mit vielbeachteten Wechselausstellungen zeitgenössischer Kunst sein Renommee erwirkte, einen umgenutzten Altbau im Stadtviertel Back Bay, bis sich mit der Parzelle auf dem Fan Pier die Chance zu einem Neubau ergab. In einem Wettbewerb des Jahres 2001 konnte sich das New Yorker Architekturbüro von Elizabeth Diller und Richard Scofidio gegen die Konkurrenz von Office dA aus Boston, Studio Granda aus Reykjavik und Peter Zumthor durchsetzen. Diller & Scofidio, denen sich 2004 Charles Renfro beigesellte, wurden mit Projekten im Grenzbereich zwischen Kunst und Architektur bekannt, etwa dem als Expo-Wolke bekannten «Blur Building». Obwohl sie sich derzeit mit einer Reihe grosser Projekte wie dem Umbau des Lincoln Center oder der Umnutzung eines S-Bahn- Trassees in New York befassen, ist das ICA ihr erstes eigenständiges Gebäude in den USA.

Der «Harbor Walk», der künftig durch die ausgedehnten Hafenareale von Boston führen soll, bildete den Ausgangspunkt für die Idee des Gebäudes. Eine dem Baukörper seeseitig vorgelagerte, mit Holz beplankte Plattform verwandelt sich in eine grosszügige Freitreppe, die sich im Inneren in den Sitzstufen eines Auditoriums mit 325 Plätzen fortsetzt und schliesslich, in die Horizontale umgelenkt, die darüber befindlichen Ausstellungsbereiche trägt. Auf der Ausstellungsebene erreicht das Gebäude seine maximale Ausdehnung: Während es im Süden, Westen und Osten der Geometrie des dreigeschossigen Sockels folgt, kragt es nach Norden, also seeseitig, weit über den Vorplatz aus und definiert diesen als überdeckten Aussenraum; die Planken des Bodens finden ihren Widerhall in der Holzverkleidung der Untersicht der Auskragung.

Unverkennbar orientierten sich Diller & Scofidio bei der Grundkonzeption ihres Baus an der neusten niederländischen Architektur, und wie bei Rem Koolhaas oder Ben van Berkel entwickeln sich Boden, Wand und Decke als Kontinuum, das in den Seitenansichten ablesbar wird. Konstruktiv arbeiteten sie mit einer Tragstruktur aus Stahlbeton, über der das Stahlfachwerk der oberen Ausstellungsebene lagert. Fassadenelemente aus transparentem und transluzentem Glas umhüllen das gesamte Volumen, das sich zunächst ansteigend im Sockel konzentriert, um dann in einer grossen Geste Richtung Wasser vorzustossen. Es ist eine Maschine der Wahrnehmung: eine Kommandobrücke für die Kunst, die sehnsüchtig die Blicke aufs Meer lenkt und doch die nötigen Räume für die Konzentration bereithält. An diesem heterotopischen Ort mag man an Michel Foucault denken, der einst formulierte, das Schiff sei die Heterotopie schlechthin, und in Zivilisationen ohne Schiffe versiegten die Träume.

Blicke auf das Wasser

Foyer, Shop und Restaurant befinden sich im Erdgeschoss, in den beiden Ebenen darüber das Theater sowie die Verwaltung. Die abschliessende, zenital belichtete Ausstellungsebene gliedert sich in zwei parallele Raumstrukturen, welche durch einen zum Meer hin panoramisch verglasten Gang verbunden sind. Der westliche Bereich ist als gewaltiger stützenfreier Saal grossen Wechselausstellungen vorbehalten, während auf der Ostseite Teile der permanenten Sammlung zu sehen sind. Aus der Mittelzone heraus entwickelt sich das Medienzentrum, das wie ein Schwalbennest unter dem Boden hängt; durch ein Fenster hindurch blickt man auf das Wasser, sieht aber weder Boden noch Himmel oder Horizont.

Nach einer heute beginnenden Serie von privaten Openings empfängt das neue, von Jill Medvedow geleitete ICA vom 10. Dezember an das breite Publikum. «Super Vision» heisst - passend zum Gebäude - die Hauptschau, die 27 künstlerische Positionen zur Frage heutiger Wahrnehmung versammelt. Vertreten sind unter anderem Chantal Akerman, Tony Cragg, Harun Farocki, Anish Kapoor, Tony Oursler und James Turrell. Kleinere Ausstellungen gelten dem argentinischen Künstler Sergio Vega und den Finalisten des diesjährigen ICA-Preises. Schliesslich hat die Japanerin Chicho Aoshima die jährlich neu zu bespielende «Art Wall» im Erdgeschoss gestaltet.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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