Bauwerk

Ground Zero - Neubebauung
- New York (USA) - 2002

Der Boden der Dinge

Man kann ein melancholischer Musiker sein, ein verzweifelter Filmemacher. Aber man kann nicht Architekt und Pessimist sein. Über Ground Zero, das Akkordeon der Kindheit und eine Heimkehr nach 47 Jahren: in die Geburtsstadt Lodz.

4. Dezember 2004 - Daniel Libeskind
Ich habe nie darangedacht, Architekt zu werden. Man erwartete von mir, dass ich Musiker werden würde. Tatsächlich war ich eine Art Wunderkind, ein so guter Akkordeonspieler, dass ich ein Stipendium der renommierten America-Israel Cultural Foundation (AICF) erhielt.

Noch heute besitze ich die Konzertkritik eines Auftritts in der Konzerthalle in Tel Aviv, bei dem ich zusammen mit dem jungen Itzhak Perlman spielte. Der Kritiker schien vollkommen gefesselt von dem seltsamen kleinen Akkordeonisten auf der Bühne, der fast vollständig von seinem leuchtend roten Sorrento verdeckt wurde, mit den silbernen Registern, den Zickzack-Falten des schwarzweiß gestreiften Balgs. Allein der Schock, ein solches Instrument bei der Darbietung klassischer Musik zu hören, rückte das Akkordeon in den Mittelpunkt des Interesses und stellte alle anderen Instrumente auf der Bühne in den Schatten.

Ich habe immer ein Nomadenleben geführt. Ich wurde 1946 in der polnischen Stadt Lodz geboren, wanderte im Alter von elf Jahren mit meiner Familie nach Israel aus und kam mit 13 nach New York. Seit dieser Zeit sind meine Frau Nina und ich mit unseren Kindern 14-mal umgezogen. In meinem Kopf existieren viele Welten, und sie al- le nehmen Einfluss auf die Projekte, an denen ich gerade arbeite.

LUDWIG MIES VAN der Rohe, Walter Gropius und die anderen großen Baumeister der Moderne vertraten die Ansicht, dass Bauwerke der Welt ein neutrales Gesicht darbieten sollten - doch ihre Philosophie erscheint heutzutage fast wunderlich. Neutral? Nach den politischen, kulturellen und spirituellen Verwüstungen des 20. Jahrhunderts soll es möglich sein, eine aseptische Realität anzustreben? Wollen wir wirklich von Gebäuden umgeben sein, die seelenlos und fade sind? Oder stellen wir uns unserer Vergangenheit, unserer komplizierten und verfahrenen Wirklichkeit, unseren unverfälschten Emotionen, und schaffen eine Architektur für das 21. Jahrhundert? Bauwerke haben ein Herz und eine Seele, genau wie Städte. Wir können in einem Gebäude die Erinnerungen und Bedeutungen spüren und die von ihm hervorgerufenen spirituellen und kulturellen Sehnsüchte wahrnehmen. Falls Sie dies bezweifeln, denken Sie doch nur an den Verlust, den der Zusammensturz der Zwillingstürme des World Trade Center verursachte.

Damals lebte ich in Berlin, der Arbeit am Jüdischen Museum wegen. Der 11. September 2001 - das Jüdische Museum hatte den langen Besucherschlangen gerade seine Pforten geöffnet, und Nina und ich waren in Hochstimmung: Unsere Arbeit war getan. Doch dann kamen diese immer wiederkehrenden Bilder. Ich spürte eine unbeschreibliche Trauer, empfand eine persönliche Beziehung zu diesen Gebäuden. Ich hatte mit angesehen, wie sie entstanden, mein Schwager hatte viele Jahre lang in einem der Türme für die Port Authority, die Hafenbehörde von New York und New Jersey, gearbeitet, und mein Vater war in einer nahe gelegenen Druckerei tätig gewesen. Ich kannte dieses Viertel gut. Und weil ich es so gut kannte, dachte ich während des Architekturwettbewerbs für Ground Zero, ich wüsste ganz genau, wie es wieder aufzubauen sei. Vor meinem inneren Auge sah ich ein Mahnmal in der Mitte des Geländes, dazu darstellende Künste, Museen und Hotels in friedlicher Koexistenz mit Einkaufsmöglichkeiten, Bürogebäuden und Restaurants. Ich sah belebte Straßen und die Wiederherstellung der prachtvollen Skyline von New York.

Später besuchte ich Ground Zero als Teilnehmer des Architekturwettbewerbs, mit dem der für den Wiederaufbau des Geländes zuständige Planungsarchitekt bestimmt werden sollte - und in einem einzigen Augenblick wurde mir bewusst, dass die Seele des Geländes nicht nur in der Silhouette der Stadt und in den geschäftigen Straßen zu finden war, sondern auch im Felsuntergrund von Manhattan. Im Oktober 2002 konnte ich das Gelände zum ersten Mal besichtigen. Nachdem man in den Monaten nach dem 11. September den riesigen Schuttberg abgetragen hatte, war nichts als eine unvorstellbar große Baugrube übrig geblieben - ein 6,5 Hektar großes und stellenweise mehr als 20 Meter tiefes Areal mit dem Spitznamen „bathtub“, Badewanne. Nina und ich baten darum, in die Baugrube hinuntersteigen zu dürfen. Warum, fragte unser Begleiter von der Hafenbehörde; keiner der anderen Architekten hatte diesen Wunsch geäußert. Wir wussten zwar nicht, wie wir unser Anliegen in Worte fassen sollten, spürten aber, dass es unbedingt notwendig war, den Boden der Baugrube zu betreten; daher machten wir uns mit billigen Regenschirmen und geliehenen Gummistiefeln auf den Weg nach unten.

Es ist schwer zu erklären, aber je weiter wir in das tiefe Loch stiegen, desto intensiver konnten wir die Gewalt spüren, die diese Bauwerke zum Einstürzen gebracht hatte; der Gedanke an diesen Verlust machte uns körperlich zu schaffen. Was auch immer hier entstehen sollte, es würde auf diese Tragödie antworten müssen und sie keineswegs begraben dürfen. Wir stiegen weiter hinunter. Es schien fast, als würden wir zum Meeresboden tauchen; wir spürten regelrecht, wie der Luftdruck sich änderte. Ein siebengeschoßiges Fundament inklusive Infrastruktur - alles weg.

Und dann standen wir direkt davor: Es war eine gigantische Betonmauer am westlichen Ende der Baugrube. „Was ist das?“, fragte ich unseren Begleiter. „Der slurry wall“, sagte er. Slurry wall. In all den Jahren, in denen ich mit Ingenieuren und Technikern gearbeitet hatte, war mir dieser Begriff noch nie begegnet. Es handelt sich um eine Sperrmauer, ein Fundament, das wie ein Damm auch als Staumauer dient. Etwas, das niemals hätte freigelegt werden sollen. „Wenn die Sperrmauer bricht“, fuhr unser Begleiter fort, „dann wird die gesamte U-Bahn überflutet, dann steht die ganze Stadt unter Wasser.“

Die Wand ragte bedrohlich über uns auf, scheinbar höher als jedes Gebäude, das wir je gesehen hatten. Und während wir in dieser riesigen Baugrube standen, schien sie fast grenzenlos, der Inbegriff von allem Endlichen, allem Unverwüstlichen; die Kraft der Architektur, die Kraft des menschlichen Geistes. Wir sahen eine Vielfalt von Farben, ein Patchwork von Materialien, da die Sperrmauer im Laufe der Jahre regelmäßig verstärkt worden war. Das Resultat war tastbar, fühlbar, pulsierend, ein vielschichtiger Text, geschrieben in einer für jeden verständlichen Sprache.

In dem Moment begriff ich, dass ich einen Bauplan entwerfen musste, der sich direkt vom Felsuntergrund der Stadt New York erhob. Ein Sonnenstrahl, der die Wolken durchschnitt. Aber wie konnte der Strahl so tief hinunterreichen? Ich musste sicherstellen, dass das Sonnenlicht ebenfalls Teil des Entwurfs wurde. Ich dachte an den Augenblick, als ich die berühmte Skyline zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte - 1959, als unser Schiff in den Hafen von New York einlief. Ich sah mich selbst wieder als 13-jährigen Jungen, der in einem Pulk von Einwanderern mit offenem Mund zur Freiheitsstatue starrte.

„Ruf im Büro an“, bat ich Nina, während wir noch in der Baugrube standen. In Berlin, wo sich unser Architekturbüro befand, war es bereits spät am Abend, aber unsere Mitarbeiter saßen noch immer an ihren Schreibtischen. „Lasst alles stehen und liegen“, teilte ich ihnen mit. „Ich habe ein neues Konzept.“

ALLE ARCHITEKTEN SIND Prostituierte - das hat zumindest Philip Johnson gesagt. Sie tun alles, was man von ihnen verlangt, nur um bauen zu können. Frank Lloyd Wright hat es etwas weniger brutal formuliert. Er meinte, es gäbe drei Dinge, die ein Architekt wissen müsse. Erstens: Wie komme ich an einen Auftrag? Zweitens: Wie komme ich an einen Auftrag? Und drittens: Wie komme ich an einen Auftrag?

Das ist sicherlich eine zynische Einstellung gegenüber diesem Beruf, und als Sohn zweier Idealisten und Ehemann einer weiteren Idealistin würde ich gerne dagegenhalten, dass es nicht jedem Architekten an Grundsätzen mangelt. Aber auch ich musste mich der Tatsache stellen, dass eine Menge Wahrheit in den Aussagen dieser Baumeister steckt. Im Gegensatz zu Künstlern, Philosophen oder Schriftstellern sind Architekten vollkommen abhängig von anderen - anderen mit Geld, und zwar mit viel Geld, denn es kostet eine Menge, ein Bauwerk (selbst ein bescheidenes) zu realisieren. Das ist der Grund, um Philip Johnson noch einmal zu zitieren, warum Architekten sich immer wieder zum Spielball der Mächtigen machen.

MEINE FRÜHESTEN ERINNERUNGEN sind alle grau. Nicht wegen meines Alters und des zeitlichen Abstands. Das Grau ist vielmehr die Farbe der eigentlichen Erinnerungen - das finstere Grau des eisigen nordeuropäischen Winterhimmels, das staubige Grau der Industriestadt Lodz, überlagert vom Grau des Kommunismus. Wenn man meinen Kindheitserinnerungen Glauben schenkt, dann gab es in Lodz kein strahlendes Licht. Ich erinnere mich an den trostlosen Hinterhof des Hauses aus der Zeit der Jahrhundertwende, in dem ich aufwuchs. Das Ganze als Hinterhof zu bezeichnen ist fast schon zu viel der Ehre: Eine verfallene Mauer umschloss eine kleine Fläche, aus der zwei etwa 1,50 Meter hohe, schmiedeeiserne Pfosten mit einer Querstange aufragten. Als Kind träumte ich immer, ei- nes Tages würde ein Mann auf einem Pferd durch das Tor galoppieren und über die Stange springen. Aber stattdessen warfen die Hausfrauen ihre Teppiche darüber und klopften sie so kräftig aus, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie das irgendein Staubflöckchen überlebte.

Ich war eines der wenigen Kinder, die im Schatten dieses Innenhofs umherschlichen. Außer mir gab es noch ein etwa gleichaltriges Mädchen mit kreidebleichem Gesicht und weißblonden Haaren, das mondsüchtig war, und einen etwas kleineren Jungen, dem ständig Schleim aus der Nase lief. Aber der Innenhof war kein sicherer Ort für einen jüdischen Jungen. Ganz Lodz war kein sicherer Ort für einen jüdischen Jungen. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten mehr als 3,250.000 Juden in Polen. Nach dem Krieg waren es noch etwa 250.000, aber 1945 und 1946 gab es weitere - kleine, aber effektive - Pogrome, und in der Folge wurde die jüdische Bevölkerung entweder gezwungen, das Land zu verlassen, oder floh freiwillig. 1950, als ich vier Jahre alt war, lebten noch etwa 8000 Juden in Warschau und nur noch 5000 in Lodz - im Vergleich zu etwa 220.000 Juden im Jahre 1939.

Die einzige Farbe, an die ich mich aus dieser Zeit erinnere, ist das Rosa der riesigen schimmernden Stoffballen, die sich in unterschiedlichsten Schattierungen im Miederwarengeschäft meiner Mutter stapelten. Meine Mutter war Expertin darin, für den Körper jeder Frau einen farblich passenden Stoff zu finden. Vom Hinterzimmer aus sah ich manchmal heimlich und staunend zu, welche Unterschiede sie beim Hautton einer Kundin feststellen konnte. Heute ist der Beruf der Miedermacherin fast ausgestorben, genau wie der des Schmieds, doch vor dem Krieg waren dies hoch qualifizierte Handwerksberufe, die viel Erfahrung erforderten. Und während die meisten polnischen Frauen sich nach dem Krieg mit der furchtbar schlecht sitzenden Massenware der kommunistischen Ära zufrieden geben mussten, gab es immer noch genügend Schauspielerinnen sowie Gattinnen und Geliebte von Parteifunktionären mit den unterschiedlichsten Körpermaßen, um meine Mutter ständig zu beschäftigen.

Mich beauftragte sie damit, Fischbeinstäbchen in die raffiniert gearbeiteten Dessous zu schieben, um ihre stützende und formende Wirkung zu verstärken. Auf diese Weise erhielt ich lange vor dem Architekturstudium eine praktische Einführung in angewandte euklidische Formen.

Noch heute sehe ich das Schaufenster unseres Geschäfts vor mir: Als Firmenzeichen diente die kurvenreiche Figur einer Frau, und im Fenster standen drei kleine Schaufensterpuppen. Die erste war vollkommen bekleidet und hielt einen Sonnenschirm in der Hand, die zweite kniete und trug ein Korsett, und die dritte lehnte sich verführerisch nach hinten und war bis auf den Miniatur-BH, den meine Mutter für sie genäht hatte, vollkommen nackt. Diese Schaufensterdekoration war zu schön und farbenfroh und der Unternehmergeist meiner Mutter wohl zu bedrohlich für die polnischen Polizisten, sodass sie sie regelrecht verfolgten und zu jeder Tages- und Nachtzeit unangemeldet auftauchten, um ihre Papiere zu überprüfen und nach Schwarzmarktwaren zu suchen. Aber sosehr sie sich auch mühten, meine Mutter einzuschüchtern - es gelang ihnen nie.

MAN KANN EIN MELANCHOLISCHER Musiker sein und in Moll komponieren. Man kann ein Schriftsteller mit tragischer Weltsicht sein oder ein von Verzweiflung beherrschter Filmemacher. Aber man kann nicht zugleich Architekt und Pessimist sein. Architektur ist ihrem Wesen nach ein optimistisches Gewerbe: Auf jedem Schritt seines Weges muss man daran glauben, dass aus zweidimensionalen Skizzen einmal reale und bewohnbare dreidimensionale Gebäude entstehen werden. Bevor Millionen von Dollar und Jahre des Lebens vieler Menschen investiert werden, muss man wissen, wirklich wissen, dass das Gebäude, das aus all dem Geld und der Anstrengung entsteht, die Investition wert ist und den Erbauer lange überdauern wird. Letztlich beruht Architektur auf Glauben.

AM 4. JULI 2004, ETWA SIEBEN Monate nachdem wir unseren Plan des Freedom Tower präsentiert hatten, nahmen wir an der offiziellen Grundsteinlegung auf Ground Zero teil. Als der 20 Tonnen schwere Granitblock enthüllt wurde, lasen wir folgende Inschrift: „Zu Ehren und zum Gedenken der Menschen, die am 11. September 2001 ihr Leben verloren, und als Huldigung an den unsterblichen Geist der Freiheit.“ Später wurde der Stein an seinen endgültigen Platz in der Nordwestecke des Areals abgesenkt, wo sich einmal der Freedom Tower erheben wird.

Viele Leute fragen mich: „Waren Sie während der Querelen über den Entwurf und den Masterplan nie in Versuchung, das Handtuch zu werfen und der Sache einfach den Rücken zu kehren?“ Ich antworte dann immer: „Nein - jedenfalls nie länger als ei- nen Augenblick.“ Manche Menschen meinen auch: „Sie sind bestimmt sehr wütend, weil Sie so viele Kompromisse machen mussten.“ Ich muss ganz klar sagen, es hat viel weniger Kompromisse gegeben, als die Leute glauben - und außerdem ist der Kompromiss ein integraler Bestandteil jedes architektonischen Prozesses.

Ich bin sehr froh darüber, dass ich zusammen mit anderen sicherstellen konnte, dass dieser Ort seine Bedeutung nicht verlieren wird: Er erinnert an die Vergangenheit, ist aber zugleich der Zukunft zugewandt. Gemeinsam bilden Gedenkstätte, Türme, öffentliche Räume und Bahnhof eine zusammenhängende Landschaft, durchdrungen von der Geschichte dieses Ortes, zugleich aber vorwärts blickend und voller Leben. Das Areal legt Zeugnis ab über die Vergangenheit, über die Menschen der Stadt und das, woran sie glauben.

In New York weiß jeder alles. Jeder Rückschlag und jedes Zerwürfnis stand in den Zeitungen. Doch letztlich interessiert die Öffentlichkeit nur, dass Ground Zero wieder bebaut wird.

WÄHREND ICH IM JULI 2004 an diesem Buch schrieb, beschloss ich, zum ersten Mal nach 47 Jahren in meine alte Heimat zurückzukehren. Was brachte mich zu diesem Entschluss? Um die Wahrheit zu sagen: Ich weiß es nicht genau.

Allerdings weiß ich noch, wie ich einen Brief der Zacheta-Nationalgalerie in Warschau anstarrte, die mich zur Organisation einer Ausstellung einlud, und daran dachte, dass zacheta auf Polnisch „Ermutigung“ bedeutet. Vielleicht war es der Anblick dieses Worts in meiner Muttersprache, der diesen Entschluss in mir auslöste. Und so flog ich ohne große Vorbereitungen eines Tages mit Nina und unserem ältesten Sohn, Lev, nach Warschau, und am nächsten Morgen saßen wir in einem Auto und fuhren nach Lodz.

Was war mit der gewaltigen Stadt meiner Kindheit geschehen? Die Proportionen stimmten nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, als versuchte ich, Straßen wie Schuhe anzuprobieren, die mir nicht mehr passten. All die großen Gebäude, an die ich mich erinnerte, waren geschrumpft. Die belebten Hauptstraßen, auf denen es vor Autos und Menschen nur so gewimmelt hatte und die mich als Kind so überwältigten, erschienen mir nun ruhig und leer.

Danuta Grzesikowska, eine Jugendfreundin meiner Schwester, erwartete uns. Zusammen suchten wir die Orte auf, an denen meine Eltern gearbeitet hatten, und die Schulen, in die meine Schwester und ich gegangen waren. Was für eine enge kleine Welt! Als Kind hatte ich das Gefühl gehabt, die Stadt sei unendlich groß, doch jetzt schien alles an denselben fünf Straßen zu liegen, in sich geschlossen wie ein Möbius-Band. Dort drüben erkannte ich die Apotheke mit derselben alten Standuhr wieder, dahinten lag unser Hof mit Teppichstange, die schon 1957 da gestanden war, als wir fortgingen. Von wachsamen Augen verfolgt, lief ich über den Hof zur letzten Tür links, und als ich zu den Fenstern im ersten Stock blickte, unseren Fenstern, erschien einen Stock darüber ein zementgrauer Kopf.

„Wissen Sie, ob die Mieter aus der Wohnung unter Ihnen zu Hause sind?“, fragte Danuta. „Nein“, rief die Frau. „Die kommen erst abends zurück. Außerdem sind sie nicht sehr nett und werden Sie nicht reinlassen!“ Sie starrte Nina, Lev und mich in unserer New Yorker Kleidung an. „Erinnern Sie sich an die Familie Libeskind?“, fragte ich. Nach einer kurzen Pause nickte sie. „Nette Leute. Ein kleines Mädchen, ein noch kleinerer Junge . . . er hat Akkordeon gespielt, glaube ich. Manchmal hab ich hier am Fenster gesessen und ihm zugehört.“

„Das war ich“, sagte ich.

Sie, die den Hof niemals verlassen hatte, und ich, der ich bis zu diesem Augenblick nicht ein einziges Mal zurückgekommen war, sahen einander über dieselbe Entfernung, durch dasselbe Fenster hindurch an wie in irgendeinem vergessenen Augenblick vor fast 50 Jahren.

In den letzten Jahren habe ich Tunis, Seoul und Hongkong besucht, doch keine Stadt war mir so fremd wie Lodz. So vertraut und doch so fremd.

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