Bauwerk

Haus im Gaessele
BIEHLER WEITH - Günzburg (D) - 2003
Haus im Gaessele, Foto: Ralf Heinz Weith
Haus im Gaessele, Foto: Brigida Gonzalez
10. April 2009 - newroom
Es ist der persönliche Bezug zur Gegend und der Wunsch in unmittelbarer Nähe eines Dorfkernes zu wohnen, weshalb sich das Ehepaar für das Grundstück im Tal, mit Blick auf die Burg, entschieden hat. Die Architekten Christoph Biehler und Ralf Heinz Weith wurden eingeladen ein Konzept auszuarbeiten und umzusetzen. Den Entwurfsvorgang sehen die beiden als Analogie zu einem Interpretationsprozess, der sowohl die Persönlichkeit der Bauherrin, des Bauherren, als auch die Bedingungen der unmittelbaren Umgebung reflektiert.

Struktur und Bedeutung
Die Agrarwirtschaft bestimmte in der Vergangenheit die Lebensform und Bauweise des Dorfes. Im Zuge des gesellschaftlichen Wandels, insbesondere durch das Ereignis der Industrialisierung hervorgerufen, haben die einzelnen Bauten ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Was man heute wahrnimmt ist die traditionelle doch formale Struktur in ihrer räumlichen Fassung: Straße, Vorgarten, Wohngebäude, Garten, Schopf. Die Architekten haben diese formale Struktur, die Kleinteiligkeit der umgebenden Bebauung und Durchlässigkeit des Grünzuges als Ausgangspunkt dem architektonischen Konzept zugrunde gelegt. Die traditionellen Elemente sind jedoch neu interpretiert und in ihrem eigentlichen Sinne gedacht: sie handeln von der Beziehung zwischen Lebens- und Bauform, die sich in den Räumen und um das Haus konkretisieren, die zwischen Innen und Außen, zwischen Haus und Dorf zum Tragen kommen. Ein Blick auf den Lageplan lässt zunächst ein Ensemble erkennen, dessen richtungsgebende Wandscheibe das Grundstück zoniert. An der Straßenkante begrenzt sie den Vorplatz, wird zur Außenwand des Hauses, definiert den Kräutergarten im Osten, ist Teil des Schopfes aber auch des gegenüberliegenden Gartens.

Innen und Außen
Der Begriff des Gegenüber ist als durchgängiges Gestaltungsprinzip erkennbar. Eine `Wand´ wird zum trennenden und verbindenden Element, da das Innen und Außen, um es mit den Worten von Gert Selle auszudrücken, womöglich nur zwei Ansichten ein und derselben Sache sind. Während das Obergeschoss die körperhafte Form eines schwebenden Quaders annimmt und auf die besondere Nutzung verweist, wird auf der Ebene des Erdgeschosses die Beziehung von Innen und Außen differenziert hergestellt. Beispielsweise sind die Raumkanten des westlichen Gebäudeteils auseinandergeschoben, so daß sich das Wohnzimmer in seiner ganzen Länge nach Außen öffnet, hingegen das introvertierte Musikzimmer den blickgeschützten Hof als Pendant hat. Liest man das Außen als Geste der Kommunikation, so drückt sich der fließende Raum in dem Anderen aus, trägt er immer Spuren des Innen und Außen in sich. Diese Eigenart ist auf poetische Weise an der durchlässigen Begrenzung des Esszimmers, am `Fassadenregal´, zu spüren: nur der Hintergrund der ausgestellten Objekte gibt Rückschluss auf den Standpunkt der Betrachtung. Diese Dualität zeigt sich auch in der Materialität. In der Küche stehend, lässt der an Wand und Boden weitergeführte Kalkstein dem Auge die dünne Haut des Glases überwinden und fokussiert die Reisensburg, welche sich über der raumhaltenden Mauer zu erheben scheint. Die Burg wird zu einem Bild des Innenraums und akzentuiert die Dialektik zwischen Innen und Außen. Auch der Garten hört nicht an der Grundstücksgrenze auf, sondern geht optisch in die Obstwiesen und Gärten der Nachbarbebauung über; genauso wie der westliche, grenzbegleitende Zugang eine Verknüpfung mit dem Umgebenden herstellt. Das Führen des Blickes in die unmittelbare Umgebung oder in die Ferne ist in allen Räumen des Hauses auszumachen.
Die jeweilige Anwendung dieses Prinzips liegt in der spezifischen Wohnvorstellung der Nutzer verschlüsselt. So ist der `Kiesstrand´ im Obergeschoß eine Erweiterung des Badezimmers, ein äußerer Innenraum, durch die geführten Kanten des Quaders gehalten. Das Baden wird zu einem sinnlichen Erlebnis, bei dem man den Wind spürt und in die Sterne blickt - der Raum wird zu einem Ort der Transzendenz.

Den Übergang einzelner Bereiche innerhalb des Hauses haben die Architekten als Dazwischen ausgebildet, im Sinne einer Zwischenzone. Diese tiefe Wand wird durchschritten, bewahrt auf oder führt ins nächste Geschoss. Das Dazwischen beschränkt sich nicht auf die jeweilige Funktion, sondern dient auch der Orientierung und Vermittlung. In der Garderobe erzeugt die rahmenlose Glasscheibe einen Moment der Irritation, welcher durch die von der Decke abgelösten Wandscheibe verstärkt wird: man möchte das Wasserbecken berühren und erkennt an den gespiegelten Gegenständen das Element als Teil des Draußen. Auch im Obergeschoss bewegt man sich durch oder entlang der funktionsverdichteten `Schrankwand´, deren Oberflächendichte sich gen Norden zunehmend auflöst und den Blick in die Weite lenkt.

Das Leben in den Räumen ist Teil der Architektur, das Reduzieren auf wenige Materialien ein wesentlicher Aspekt des Konzeptes. Die unterschiedliche Orientierung, Geometrie und Belichtung der Räume hat sich besonders am Tagesrhythmus der Nutzer orientiert und ermöglicht ein verstärktes Erleben des Tagesverlaufes. Obwohl auf die spezifischen Wünsche abgestimmt, erlauben die Räume mittels Schiebewände und aufgrund ihrer Positionierung eine flexible Nutzung. Dass das Haus eine individuelle Aneignung ermöglicht und verträgt, ist ein weiteres Anzeichen für die hohe architektonische Qualität. In diesem Sinne zeigt sich, dass das Innen und Außen mehr als räumliche Kategorien sind. Sie werden durch mentale Bedeutung konnotiert - und diese sind individuell. (Text: Beate Raible)

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