Bauwerk

Laban Dance Centre
Herzog & de Meuron - London (GB) - 2003
Laban Dance Centre, Foto: Margherita Spiluttini
Laban Dance Centre, Foto: Margherita Spiluttini

Ein Gebäude, an dem alles tanzt

Die Architekten Herzog & de Meuron haben im heruntergekommenen Londoner Stadtteil Deptford mit dem Laban Dance Centre ein weiteres Wahrzeichen an die Themse gebaut.

23. Februar 2003 - Gerhard Mack
Bei «Universal Tyres» stapeln sich die Abfallreifen. Die Camions, die schräg gegenüber repariert werden, haben ihre guten Tage längst hinter sich. Zwischen beiden Betrieben zieht ein Nebenarm der Themse, der Deptford Creek, eine ölige Schleife. Bei Ebbe dümpeln Bootswracks auf dem stinkenden Schlick. Deptford ist altes Gewerbegebiet. Hier, im Westen von Greenwich, liess König Heinrich VIII. 1513 die ersten königlichen Docks errichten. Heute ist von der einstigen Blüte kaum noch etwas zu spüren. Die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch wie im Londoner Durchschnitt, die Einkommen liegen, landesweit gesehen, in den unteren 10 Prozent. 44 Prozent der Kinder leben von Schulmahlzeiten. Ein Grossteil der Bevölkerung sind Flüchtlinge, 31 Prozent gehören ethnischen Minderheiten an.

Ausgerechnet hier fand die Laban Dance Society, Europas führendes Institut für zeitgenössischen Tanz, eine ehemalige Müllhalde als Bauplatz und schrieb einen Wettbewerb für den Neubau eines Tanzzentrums aus, den Herzog & de Meuron 1997 für sich entschieden. Zur Verfügung standen 50 Millionen Franken, von denen knapp zwei Drittel aus der nationalen Lotterie kamen. Damit galt es, ein extrem grosses Raumprogramm aus öffentlichen und internen Funktionen zu bewältigen; war das neue Zentrum doch von Anfang an als Impulsgeber für die Entwicklung des Stadtteils gedacht, wie die Tate Modern, die die Architekten vor drei Jahren weiter themseaufwärts fertig gestellt haben.

«Als wir uns das Gebiet anschauten, wussten wir zuerst nicht, wie wir reagieren sollten», erzählt Harry Gugger, der als Partner im Büro Herzog & de Meuron die Planung vor Ort betreut hat. Das neue Gebäude wie einen Solitär gegenüber der Umgebung abzuschliessen, wäre eine falsche Geste gewesen, andererseits fand sich in der unmittelbaren Nachbarschaft nichts, woran sich anknüpfen liess. Also entschieden sich die Basler für eine subtile Zwischenlage.

Das neue Zentrum liegt als hallenartiges Volumen am Fluss wie viele alte Lagerhäuser auch. Der Kunststoff Polykarbonat, mit dem es umhüllt ist, ist ein industrieller Werkstoff, den die Architekten vor einigen Jahren auch für eine Werkhalle der Bonbon-Firma Ricola im elsässischen Mülhausen eingesetzt haben. Er schimmert jedoch wie eine grosse Lichtfläche zwischen den dunklen Backstein- und Wellblechbauten der Umgebung. Vertikale Streifen in Pink, Hellgrün und Türkisblau geben der Aussenhaut einen textilen Touch, der sich aus der Nähe noch verstärkt, wenn man sieht, dass die Kunststoffverkleidung vom Boden abgehoben ist wie der Saum eines kostbaren Kleides. Die oft geschosshohen Fenster glupschen wie grosse Augen nach aussen.

Italienisches Flair

Das Gebäude selbst fügt sich in seinem Grundriss zwar in den Perimeter zwischen Fluss und Strasse, es verlässt jedoch die Rechteckform einer Halle und öffnet sich zum einzigen architektonisch nennenswerten Bauwerk in der Umgebung mit einer grossen einladenden Geste: Die Eingangsfront liegt der 300 Meter entfernten, filigranen Barockkirche St. Paul's direkt gegenüber und schwingt sich nach innen, so dass ein grosser städtischer Raum entsteht, der unmittelbar vor dem Gebäude als Freilichttheater ausgestaltet werden soll. Dafür soll der Erdaushub verwendet werden, dessen Entsorgung zu viel gekostet hätte.

Den unmittelbaren Anstoss für den produktiven Umgang mit der Umgebung gab diesmal das Laban Centre selbst. Als das Institut, das der Papst des freien Tanzes, Rudolf Laban, nach einer Odyssee zwischen Monte Verità und Berlin 1948 als «Art of the Movement Studio» in Manchester gegründet hatte, zu Beginn der siebziger Jahre nach London zog, besetzte man drei Kilometer vom jetzigen Ort entfernt eine ehemalige Kirche, baute bei weiterem Platzbedarf jeweils an und schuf so ein dichtes Netz aus informellen Räumen. «Bei unserem ersten Besuch sassen wir in der Cafeteria, da bestand eine Wand aus der Kirchenmauer, daran lehnten alte Grabsteine», erinnert sich Harry Gugger. Das ganze Zentrum lebte von seinem dörflichen Charakter.

Diese kleinstädtische Vielfalt prägt nun auch das neue Gebäude. Wer es betritt, kann einen Weg nach unten gehen, der zur Cafeteria führt, die auch der Öffentlichkeit zugänglich ist, oder eine breite Rampe hinaufsteigen, die an eine kleine Piazza erinnert, von der zwei Wege seitlich zu Lichthöfen abfallen. Ein kleiner Teich spiegelt Licht nach innen. Sofort fühlt man sich von der dichten Atmosphäre italienischer Bergstädte umfangen. Die grösste Vielfalt hat auf dem kleinsten Raum Platz. Zwei teerschwarz gestrichene Wendeltreppen aus rohem Beton drehen sich obendrein wie Bohrer durch die Decke, als wären sie Skulpturen im öffentlichen Raum, die denjenigen ähneln, welche Jacques Herzog einmal für eine Kunstausstellung entworfen hat.

Im Zentrum sitzt das Auditorium mit 300 Sitzen und der grössten Tanzbühne des Landes. Der ganz mit schwarzer Feuerschutzfarbe gestrichenen Wandverkleidung aus rohen Holzbrettern entspricht aussen eine helle Wandbemalung Michael Craig-Martins, für die er Alltagsgegenstände in schwarzen Linien und Accessoires in bunten Farben über eine weisse Fläche tanzen lässt, als wäre der Theaterraum mit einem gewendeten Mantel umhüllt, der sein Futter nach aussen kehrt.

Intensive Farben

Um das Auditorium lagern sich dreizehn Tanzstudios, die, weil jenes leicht aus der Gebäudemitte gerückt ist, alle unterschiedliche Grundrisse und Raumhöhen aufweisen und so Orientierung gewähren und der Individualität des Tanzes Rechnung tragen. Spiegel- und Glaszonen bilden jeweils einen Fries, über dem sich die offene Betonstruktur zum Bühnenturm hinspannt. Ein raumhohes Fenster vor einer Ruhezone mit Klavier und Sitzbank öffnet den Blick ins Freie.

Sind die Studios ganz in den Farben der Baumaterialien gehalten, zu denen die Menschen in ihren Trainingskleidern wie Farbtupfer kontrastieren, so taucht das Farbkonzept Michael Craig- Martins die Erschliessungsflure in grelles Magenta, Türkis und Grün. «Ich suche jeweils den extremsten Farbton, um einem Ort ein ganz bestimmtes Gefühl zu geben», sagt der Künstler und verweist auf die Aggressivität des Grüns und die Zaghaftigkeit des Pinks. Hier pulsiert die Energie der Tänzerinnen und Tänzer noch einmal in der Farbe.

Überhaupt tanzt alles an diesem Gebäude. Die Lampen der Cafeteria strecken ihre Tentakel aus. Ein Lichtschacht bricht aus der Decke nach unten durch, als wollte er dem Treiben auf der Piazza zuschauen. Eine Gebäudeecke spreizt sich flusswärts zur messerscharfen Kante, als grätsche das Dance Centre zum Spagat. Und nach Einbruch der Dunkelheit sehen Passanten hinter den Fenstern die Tänzerinnen und Tänzer in träumerischer Bewegung. Dann verzaubert das Laban wie ein riesiger Lampion die Nacht über Deptford.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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