Bauwerk

MGG22
Sophie und Peter Thalbauer ZTGmbH, THALERTHALER, Alfred Charamza - Wien (A) - 2019

Finesse ohne Firlefanz

Spektakuläre Normalität statt Effekthascherei, Lowtech-Angebote statt Extravaganzen: In der Siedlung MGG22 wird mit Erdwärme geheizt und gekühlt, der Wind bringt den Strom. So wohnt es sich klimaneutral in Wien-Stadlau.

19. Juni 2020 - Franziska Leeb
Davon, dass die heutige Wiener Katastralgemeinde Stadlau einmal ein Marchfelder Bauerndorf war, merkt man heute auf den ersten Blick nicht mehr viel. Im historischen Zentrum beim alten Bahnhof zeugen noch ein paar Hakenhöfe von der ländlichen Vergangenheit. Südlich davon ist der neue Bahnhof als Umsteigeknoten zwischen Regionalzügen, S-Bahn und der nach Aspern verlängerten U-Bahn ein monströses Brückenbauwerk, das mit den Gleisanlagen und der Südosttangente gigantische Flächen beansprucht. Kein Bahnhofvorplatz, nur Asphaltwüste zwischen Brückenpfeilern; auf einem die vom Künstler Werner Feiersinger aus rotem Stahl geschmiedeten Umrisse des Brückenheiligen Johannes Nepomuk. Nicht ins Wasser wie Nepomuk, sondern in die Orientierungslosigkeit des Betonpfeilerwaldes fühlt man sich gestoßen. Vorbei an den Mehrgeschoßern an der U-Bahn landet man Richtung Mühlwasser bald im rural anmutenden Stadlau.

An der Mühlgrundgasse fühlt es sich zwischen Hecken von Einzelhäusern und landwirtschaftlichen Überbleibseln wie auf einer Weinviertler Hintaus-Gasse an. Eine Siedlung wie jene an der Kante zum Landschaftsschutzgebiet würde man sich in ländlichen Neubaugebieten auch wünschen. MGG22 heißt sie unpoetisch nüchtern. Wegen ihres Gebäudetechnikkonzeptes hat sie bereits das Interesse zahlreicher Besuchergruppen geweckt, denn hier wurde ein Modellprojekt für den Weg in eine CO2-neutrale und klimawandelresiliente Zukunft umgesetzt. Die Wohnungen werden mit Erdwärme nicht nur geheizt, sondern im Sommer auch gekühlt, wobei die Wärmepumpen mit Windenergie aus Überproduktion betrieben werden, die zudem im Beton gespeichert werden kann. Die klimafreundliche Technik ist unsichtbar – dem Wohnklima tut das gut, was man sieht.

Sieben Häuser und drei Plätze, gebaut auf drei Grundstücken in unterschiedlichem Besitz, geplant von drei Architekturbüros: Es ist nicht ganz einfach, die Gebäude den einzelnen Auftraggebern und Planern zuzuordnen. Es gibt weder Zäune zwischen den Grundstücken noch ein Wetteifern um die effektvollste Fassade. Das Auffallende ist die Einheitlichkeit. So ging es nicht um ein Nebeneinander möglichst auffälliger Solitäre, sondern um das Gestalten eines Siedlungskörpers um einen Siedlungsinnenraum. Initiator ist Norbert Mayr, Architekturhistoriker und Publizist, also üblicherweise einer, der Gebautes beurteilt. Mit einem 1000 Quadratmeter großen Grundstück aus Familienbesitz wurde ihm vor zehn Jahren die Verantwortung übertragen, mit dem Baugrund etwas Nützliches anzufangen, und so wechselte er aus der Perspektive des kritischen Beobachters in jene des Bauherrn. Früh war die Idee eines Gemeinschaftsgartens geboren, und Bebauungsszenarien für den eigenen als auch für die beiden benachbarten langen Flurstreifen wurden gewälzt. Separat wären sie kaum bebaubar gewesen, weil sich die Zufahrt schwierig gestaltet hätte. Also bildete man eine Grundbesitzergruppe und verständigte sich darauf, gemeinsam zu bauen und die Flächen zu einer sinnvollen Siedlungsstruktur aufzuteilen. Der gemeinnützige Bauträger Neues Leben erwarb das Stadtgrundstück, für einen Teil der Privatgründe wurde ihm das Baurecht erteilt. Mayr agierte bei zwei Häusern als Bauherr. Alle 160 Einheiten sind Mietwohnungen, fast ein Drittel davon gefördert, 20 nach den günstigen Konditionen des Smart-Wohnbauprogramms, 20 mit Eigentumsoption. Den über das ganze Areal verteilten günstigeren Wohnungen merkt man den geringeren Preis nicht an. Vielfältig auch die Wohnungstypen: In zwei gelangt man direkt aus dem Lift, andere haben zwei Eingänge, um bei Bedarf einen Arbeitsplatz extra zu erschließen, andere sind im Geschoß so organisiert, dass man sie zu einer Wohngemeinschaft verbinden könnte.

Die drei Architekturbüros – Sophie und Peter Thalbauer, Norbert Thaler & Ursina Thaler-Brunner und Alfred Charamza – verständigten sich auf eine möglichst einheitliche Architektursprache. Nur Thaler Thaler erlaubten sich mit einer zartrosa Fassade und roten Fensterrahmen beim Haus am Quartierseingang kleine Extravaganzen. Man setzte auf schlichte Baukörper, die sich einfachen Kategorisierungen wie Zeile oder Punkthaus entziehen und so angelegt sind, dass sie Platzbildungen ermöglichen. Drei quadratische Plätze liegen von winkelförmigen Gebäuden, Wegen und Durchgängen umspült in der Mittelachse. Im Zusammenspiel mit den beiden zur Mühlgrundgasse hin offenen Plätzen entstanden wohlproportionierte Freiraumsequenzen.

Dass man trotz zahlreicher Erdgeschoßwohnungen beim Durchschlendern nicht zur Voyeurin wird, ist der Freiraumgestaltung von Rajek Barosch Landschaftsarchitektur (Isolde Rajek, Oliver Barosch) zu danken, die mit von einer bemerkenswerten Vielfalt an Stauden und Sträuchern bewachsenen Rabatten zaunlos ausreichend Distanz zu den privaten Terrassen herstellt. Beraten vom Permakulturspezialisten Siegfried Tatschl, wurden sie nach dem Motto „Essbare Stadt“ bepflanzt. Neben Kräutern und Beeren wachsen Feigen, Felsenbirnen oder Exoten wie Indianerbananen und Szechuan-Pfeffer. Rankhilfen und eine moderierte Mieterbetreuung erleichtern es, das Konzept auf den Privatterrassen nach eigenem Gutdünken fortzusetzen.

Die von Obstbäumen (bald) beschatteten Plätze mit ihren sandigen Oberflächen sind wie Podien von den Wegen abgesetzt und mit locker arrangierten Stühlen und Tischen möbliert, was sie wie private Gärten wirken lässt. Im Süden schließt der mit der Wohnanlage mitfinanzierte Gemeinschaftsgarten „Stadtgemüse 22“ an, der auch benachbarten Stadlauern offensteht. Auf marketingtechnisch gut verwertbare Extravaganzen wie Schwimmbäder oder Wellnessräume wurde verzichtet, dafür aber vergleichsweise bodenständig sinnvollen Lowtech-Angeboten liebevolle Aufmerksamkeit zuteil – im großen Stil beim Energiekonzept und der Gartengestaltung, im kleinen mit Annehmlichkeiten wie schlichten Betonbänken oder Stühlen in den Eingangsbereichen. Man wünscht sich mehr von dieser spektakulären Normalität anstatt der normal gewordenen Effekthaschereien.

[ Zu einer Führung durch MGG22 laden Norbert Mayr und Peter Thalbauer am 28. Juni, Beginn 17 Uhr. Treffpunkt: Ecke Fahngasse/Mühlgrundgasse. ]

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