Bauwerk

Erweiterung Kinder- und Jugendpsychiatrie LKH Graz II Süd
NOW Architektur, Reinhold Tinchon - Graz (A) - 2023

So wenig Spital wie möglich: Die neue Jugendpsychiatrie in Graz

Für eine irritierte Psyche sind eine übersichtliche Bauweise, eindeutige Farbkontraste und klar lesbare Strukturen als Orientierungshilfe besonders wichtig. Die Erweiterung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Graz soll optimierten Raum bieten, in dem junge Menschen wieder gesund werden können.

19. April 2023 - Sigrid Verhovsek
Seit 1872 werden auf dem Gelände des ehemaligen Feldhofes im Süden von Graz Menschen mit psychischen Symptomen behandelt. Die Geschichte des als Landesirrenanstalt gegründeten Areals birgt viele Facetten, die vom Umgang mit diesen Krankheitsbildern im Lauf der Zeit erzählen; an die NS-Zeit erinnert eine Gedenkstätte an einer Allee mit Zwetschken und Pappeln. Bäume spielen auf dem Gelände eine große Rolle, aber nicht als Abstandsgrün: Die einzelnen, in 150 Jahren angesammelten Bestandsbauten scheinen sich im Park zwischen den Bäumen niedergelassen zu haben. Schon bevor die Situation der ansteigenden psychischen Erkrankungen junger Menschen als Corona-Echo mediale Aufmerksamkeit erfuhr, plante die KAGes eine Erweiterung der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Standort Süd des LKH Graz II. Den 2020 ausgelobten Realisierungswettbewerb für eine Station mit 22 Betten, einer Tagesklinik, Diensträumen und Therapiebereichen entschied die ARGE von NOW Architektur und Architekt Reinhold Tinchon für sich.

Die nun kurz vor Fertigstellung stehende Erweiterung schmiegt sich in eine geschützte Freifläche zwischen dem Hauptgebäude der Kinder- und Jugendpsychiatrie aus den 1980er-Jahren, der Kirche und der Allgemeinen Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie. Der in einzelne Häuser aufgeteilte, etwa 2500 m² umfassende Zubau verzahnt sich mit der Parklandschaft. So ergeben sich unterschiedliche, vom Landschaftsarchitekturbüro Koala gestaltete Freiflächenszenarien um das Ensemble: Besuchergarten, Terrassen, Grünflächen und Therapiegärten mit Pflanzbeeten. Hinter einem einladenden Vorplatz liegt der neue Hauptzugang: Eine nach vorne voll verglaste Loggia verbindet Bestand und Neubau in einer übersichtlichen Empfangssituation. Die Transparenz dieser durch beide Gebäude durchgesteckten „Avenue“ löst Schwellenängste auf; sie geleitet in den neu organisierten „Kopfbereich“ des bestehenden Hauptgebäudes, wo Anmeldung samt Wartebereich, Ambulanz und die Tagesklinik für Kinder untergebracht sind.

Eine Avenue mündet im „Dorfplatz“

Am äußeren Ende dockt die Zufahrt für Ambulanzfahrzeuge an. Auf der anderen Seite der zusätzlich als Galerie fungierenden Avenue erstreckt sich der Erweiterungsbau mit dem zweigeschoßigen Haupthaus mit Bewegungs-, Untersuchungs- und Therapieräumen und vier eingeschoßigen Gruppenhäusern als eigene, farblich akzentuierte Einheiten. Drei Hausgemeinschaften werden je sechs Jugendlichen mit ihren Betreuer:innen für drei- bis sechsmonatige Aufenthalte zur Verfügung stehen. Das vierte Gebäude ist als Eltern-Kind-Haus konzipiert, da die Heilungschancen bei jüngeren Patient:innen stark vom engsten sozialen Umfeld abhängig sind. Zwischen den Baukörpern liegen keine sterilen Gangflächen, die helle, luftige Avenue erweitert sich und mündet in einen „Dorfplatz“. Als zentrales eingeschoßiges Element eint er die vier Hausgemeinschaften und beherbergt den Stützpunkt als Anlaufstelle, eine kioskartige Teeküche sowie ein großes Atrium. Dazu kommen eine Beamer-Leinwand für Kinoabende, Sofamöbel und ein Wuzzeltisch: „So wenig Krankenhaus wie möglich, so viel wie für den Betriebsablauf nötig“, kommentiert Eva Hierzer von NOW Architektur. Die Funktionsbereiche greifen ineinander, ohne die Grenzen zu sehr zu verwischen. Keine eintönigen Korridore, sondern gut proportionierte Bewegungsflächen eröffnen dank teilweise raumhoher Fenster Perspektiven in den Park oder die begrünten Atrien, und in Nischen finden sich intime Rückzugsmöglichkeiten, von denen man das Geschehen im Blick hat. Die offene Grundrissgestaltung optimiert zugleich die betrieblichen Abläufe: Kommt man mit Betten oder Essenswägen schwer um Kurven, bedeutet das zusätzlichen Stress. Das Architekt:innenteam ließ sich deshalb wesentliche Handgriffe zeigen und vermaß den nötigen Bewegungsraum. Weiteres entscheidendes Werkzeug im Planungsprozess war das Arbeitsmodell für Feinabstimmungen, an dem mit Nutzer:innen getüftelt wurde.

Die Neubauten sind als Holzmassivbauten mit Betonsockel ausgeführt, die Fassade aus vorgegrauter Fichtenschalung wird von Lisenen rhythmisiert. Im Inneren wandelt sich der Sockel zu Bänken in Sitznischen, weiß lackierte oder lasierte Holzoberflächen verleihen den glatten Wänden Leben. Eva Hierzer bestätigt, dass der Einsatz von Holz zumindest im psychiatrischen Bereich mittlerweile akzeptiert wird: „Auf dem Gelände befinden sich ein Holzbaupavillon und ein klassischer gemauerter Trakt, die zur selben Zeit errichtet wurden. Die Holzoberflächen zeigen viel weniger Abnützungserscheinungen: einerseits weil Holz viel verzeiht, andererseits weil Patient:innen wie Personal die lebendigen Oberflächen schätzen und sorgsamer mit ihnen umgehen. Zudem hat Holz eine heimelige, beruhigende Wirkung.“ Mit Hygienegütezeichen kann daher auch ein dunkler Eichenparkett statt dem üblichen PVC-Boden für „optische Erdung“ sorgen. Das auf den ersten Blick traditionelle Satteldach der fünf Häuser wird durch einen asymmetrischen First, der sich in verschiedenen Dachabschnitten gegengleich bewegt, zu einer Art sanften Welle mit vollflächiger PV-Anlage transformiert. In einigen Räumen bleibt der Dachraum offen und erzeugt unter konstruktiven Holzbalken ein Volumen, dass den Blick nach oben öffnet.

Absolute Schallisolation irritiert

Das Schlagwort „Healing Architecture“ zählt zu den diskussionsauslösenden Etikettierungen unserer Zeit. Tatsächlich schrieb bereits Florence Nightingale über heilende Einflüsse der räumlichen Gestaltung: „So wenig wir wissen, auf welche Art wir durch Form, Farbe und Licht beeinflusst werden, wir wissen zumindest, dass sie tatsächlich eine Wirkung auf den Körper haben.“

Klinische Studien bewiesen, dass Krankheit die Wahrnehmung von Menschen deutlich verändern kann: Bei Verunsicherung oder Kontrollverlust spielt Orientierung eine wesentliche Rolle. In Architektur übersetzt bedeutet das eine übersichtliche Bauweise, Referenzpunkte, Sichtbeziehungen mit Weitblick nach außen, eindeutige Farbkontraste und klar lesbare Strukturen. Noch wichtiger in Extremsituationen ist aber das erhöhte Schutzbedürfnis, das Verlangen nach Geborgenheit in einer unkontrollierbaren Außenwelt. Das hört sich einfach an, bedeutet aber eine komplexe Balance: Zu viele Kontraste lassen die Unterschiede durch Reizüberflutung ebenso verschwimmen wie zu wenige. Und absolute Schallisolation irritiert genauso wie Lärm. Geradlinig wird zu eintönig, zu bunte Farben regen auf statt an, und ein zu geschütztes Umfeld kann in rosaroten Einschluss münden.

Bei der Erweiterung der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist diese Balance gelungen, und je genauer man hinsieht, desto mehr sorgsam durchdachte Details entdeckt man. Extrem optimierter Raum wurde dennoch großzügig und mit Blick auf den menschlichen Maßstab gebaut: ein Umfeld, in dem das Personal motivierende Arbeitsbedingungen vorfindet und junge Menschen wieder heil werden können. Absehbar ist leider, dass es für sie noch viel mehr Raum dieser Qualität geben müsste.

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