Bauwerk

EXPO.02 - Schweizerische Landesausstellung
Diller Scofidio + Renfro, Extasia, Morphing Systems, Multipack, Coop Himmelb(l)au, Jean Nouvel, GLS Architekten AG - diverse Standorte (CH) - 2002
EXPO.02 - Schweizerische Landesausstellung, Foto: Yves André
EXPO.02 - Schweizerische Landesausstellung © expo.02

L'art pour l'Arteplage

Die Welt der Kunst, oder: Wo die Expo 02 am dichtesten ist

Nichts Geringeres als ein Gesamtkunstwerk hätte die Expo nach dem Willen ihrer ersten künstlerischen Leiterin Pipilotti Rist werden sollen. Wie viel davon konnte ihr Nachfolger Martin Heller in die pragmatischere Expo 02 hinüberretten? Ein Augenschein.

5. August 2002 - Urs Steiner
Il est cinq heures, l'Expo s'éveille. Ein Techniker in Gummistiefeln watet im seichten Wasser des Neuenburgersees jener Leitung entlang, mit der die 32 000 Sprinkler des neuen Wahrzeichens von Yverdon-les-Bains gespeist werden. Eine Wolke in Betrieb zu halten, ist aufwendiger, als es die Natur suggeriert, die gestern noch Kumuli sonder Zahl mühelos über die Expo 02 schweben liess. Frühmorgens aber strahlt die aufgehende Sonne ungehindert durch das seeseitige Fenster des Hotels Everland, das gleich gegenüber der künstlichen Wolke auf Pfählen im Wasser steht. Gestern hat die Nebelmaschine brav bis über Mitternacht hinaus ihren Dienst getan, den Wasserdunst in magischem Blau illuminiert und von weissen Scheinwerferblitzen durchzucken lassen.


Privates Refugium mitten im Trubel

Die Bewohner des Hotels Everland geniessen das Privileg, mitten im Trubel der Arteplage in einer intimen, mit Vierstern-Komfort ausgestatteten Kabine über ein privates Refugium zu verfügen. Doch für einmal sind es nicht VIPs, die sich den exklusiven Platz an der Sonne und am Wasser durch Macht, Einfluss oder Geld verdient haben: Selbst Martin Heller, der künstlerische Direktor der Expo 02, brauchte einen Internet- Anschluss und etwas Glück, um sich seine Übernachtung in der grünen Kabine zu sichern. Das einzige Everland-Zimmer kann man nur über die Internet-Seite www.everland.ch buchen, und selbst das ist eine Lotterie; jeden Tag wird nur eine Reservation für eine Nacht zwei Monate zum Voraus angenommen. Wer den Zeitpunkt verpasst, wenn der Computer die Buchung entgegennimmt, muss sich einen weiteren Tag gedulden.

Um fünf Uhr früh schreien Möwen und hofieren auf dem orangen Kopf des riesigen Minotaurus, der sich vor dem Panorama-Fenster aus dem Wasser reckt. Wollte man jetzt aufstehen, man könnte Deep Purples Klassiker «In Rock» auf dem Lenco-Plattenspieler kratzen lassen oder die «Golden Black Party», dazu sich einen Fruchtsaft aus der Minibar genehmigen. Doch das Frühstück wird erst nach neun serviert, die Ausstellungspavillons öffnen um halb zehn, also wird nach dem Naturspektakel des Sonnenaufgangs die Decke über den Kopf gezogen und weitergeschlummert im Bewusstsein, hier selbst im Schlaf als Teil eines Kunstwerks nicht untätig zu sein.

Konzipiert, gestaltet und gebaut hat das Einzimmer-Hotel das Berner Künstlerpaar Sabina Lang und Daniel Baumann im Rahmen eines Kunstprojekts, das vom Zürcher Kurator Gianni Jetzer für die Expo 02 konzipiert wurde. Der Direktor der Kunsthalle St. Gallen und vormalige Vize von Rein Wolfs am Zürcher Migros- Museum für Gegenwartskunst erhielt von Martin Heller den Auftrag, der Gegenwartskunst an der Expo (doch noch) einen halbwegs gebührenden Auftritt zu verschaffen, nachdem Pipilotti Rists hochfliegende Pläne den Realitäten zum Opfer gefallen waren. Ein eigentliches Budget stand Jetzer nicht zur Verfügung, man musste improvisieren. Also verabschiedete er sich bald von seinen zwölf Projekten, mit denen er dem Event- Reigen der Expo kraftvolle künstlerische Positionen gegenüberstellen wollte. Vier Projekte, die zusammen kaum mehr als eine halbe Million Franken gekostet haben, blieben von den ursprünglichen Plänen übrig. Verglichen mit den anderthalb Milliarden Franken Gesamtaufwand der Landesausstellung aber entfalten die bescheidenen Interventionen auf den fünf Arteplages eine erstaunliche Präsenz.


Beunruhigende Chaoten-Enklave

Im Hafen von Biel, vor dem Hintergrund des schnittigen Mini-Manhattan der Arteplage-Architektur, hat auf Anregung Jetzers eine schwimmende Pirateninsel des holländischen Kunst-Kollektivs Atelier van Lieshout (AVL) angedockt. Die auf acht Pontonier-Schwimmkörpern zusammengeschusterte Plattform bildet einen «autonomen Freistaat», was die Behörden immerhin so stark beunruhigte, dass die Polizei vor den Eröffnungsfeierlichkeiten der Expo das Floss inspizierte. Tatsächlich werden beim Anblick des Slums zwiespältige Erinnerungen an Zaffaraya und Wohlgroth wach. Zudem ist AVL-Chef Joep van Lieshout für seinen Waffen-Tick und eine Vorliebe für phantasievolle Folterinstrumente bekannt. Geschossen wurde in der Enklave zwar genauso wenig wie gefoltert - dennoch verfügt das schwimmende Barackendorf über verdächtige Installationen: Ein Zelt der US-Army als Schlafstätte, eine pink-rote - einem Puff nur allzu ähnliche - Hütte, ein von Stacheldraht umgebener Ausguck auf fünf gestapelten Traktorreifen, eine sargähnliche Gefechtsstation mit Kanonenläufen aus Plastic-Abflussrohren oder ein angetäutes Floss auf Ölfässern passen nur bedingt zu den bürgerlichen Grundwerten der Expo. Einzig das Schild «zu verkaufen» mag irritierte Besucher, die den Freistaat von der Helix-Brücke aus beargwöhnen, womöglich beruhigen.

Dabei wird in Biel - wer das Signal versteht - bereits vor den Drehkreuzen der Arteplage davor gewarnt, dass hier auch mit Kunst zu rechnen sei: Die iranische, in Zürich lebende Künstlerin Shirana Shahbazi hat ein Bild, das sie am Computer entworfen hat, von Plakatmalern in ihrer Heimat auf eine acht mal acht Meter grosse Leinwand übertragen lassen. Das Werk hängt, gekrönt von einer «Freiheit» verheissenden Neonschrift im DDR-Stil, an der Fassade jenes Gebäudes, in dem die Expo-Besucher Fahrräder mieten können. Eine Rosenblüte vor einem phantastischen Himalaja-Gebirgszug zeigt Shahbazis Riesengemälde, dazu ein Mädchen, das einem vor ihm knienden Mann zuhört. Keine Frage, dieses Bild ist Propaganda - bloss: wofür?

Auf den Arteplages selber begegnen einem nicht weniger rätselhafte Bildtafeln. Sie zeigen schrille Waldschrate in texanischen Boots, mit Taliban-Bärten und martialischer Körperbemalung, bewaffnet mit Farbspritzpistolen und aufgereiht wie zum Appell. Eine Tafel klärt auf, dass es sich bei diesen fünf Meter langen Postern mit dem Titel «Camp» um eine Serie des Künstlers Olav Breuning handelt. Es ist das einzige von Jetzers vier Projekten, das mit Zellweger-Luwa (bzw. dem Mäzen Thomas W. Bechtler) einen Sponsor gefunden hat. Auf jeder Arteplage ist eines dieser Teile anzutreffen - wer das Ganze betrachten will, hat im Bieler Centre PasquArt bis zum 29. September dazu Gelegenheit.


Mini-Biennale der Nationalbank

Gianni Jetzers tapferer Versuch, der Gegenwartskunst mit wenig Geld einen adäquaten Raum zu schaffen, ohne sie dabei als ärmlichen Lückenbüsser erscheinen zu lassen, gelingt famos. Der Kurator beweist, dass Kunstprojekte mit der ungleich üppiger ausgestatteten Event-Konkurrenz mithalten können, wenn sie nur kompromisslos genug inszeniert werden. In den Schatten gestellt wird Jetzer allein von Harald Szeemann - angesichts der verschieden langen finanziellen Spiesse eine ehrenvolle Niederlage.

Szeemann hat in einem goldenen Pavillon in Biel eine Art Mini-Biennale aus dem Hut gezaubert. Die von der Schweizerischen Nationalbank gesponserte Ausstellung zeigt unter dem Titel «Geld und Wert / Das letzte Tabu» sozusagen eine Szeemann-Totale. Gleich über dem Eingang spreizt die englische Künstlerin Tracey Emin auf einer Grossphotographie ihre Schenkel, herumliegendes Geld in ihren Schoss raffend. Ein würdiger Auftakt zu einer politisch nicht immer ganz korrekten, vom Starkurator lustvoll mit manchen ideologischen Widersprüchen inszenierten Schau.

Im Goldquader finden wir, neu und stimmig zusammengewürfelt, die bekannten Planeten des Szeemann'schen Kosmos. Seine Tour d'Horizon durch die Kunstgeschichte der letzten zweihundert Jahre entlässt einen in der Überzeugung, von Henri Dunant und Antoni Gaudí über Joseph Beuys und Hans Haacke bis zu Liu Jianhua und Bodys Isek Kingelez hätten Szeemanns Schützlinge ihre Werke allesamt für die Expo 02 geschaffen. So purzeln in einer Lawine von Kartons Costa Veces diverse Videos mit Bildern von Not und Überfluss der menschlichen Nahrungskette herab. Ben Vautier scheint inzwischen überzeugt zu sein, dass die Schweiz existiert - jedenfalls plakatiert er keck: «J'ai envie d'argent.» Mona Hatoum wiederum entführt uns in einer Art Extrem-Pickelporno per Endoskop ins Innere ihres Körpers. Nicht fehlen dürfen Barbara Krugers Ausspruch «When I hear the word culture I take out my checkbook» und Piero Manzonis «Merda d'artista» - kleine Dosen, mit denen der junge Künstler 1961 buchstäblich aus Scheisse Geld gemacht hat. - Insgesamt erreicht Szeemanns Schau eine Dichte, die an der Expo 02 ihresgleichen sucht. Dass der Kurator darüber hinaus noch einen Roboter präsentiert, der im Laufe der Expo 19 Millionen Schweizerfranken shreddert, wäre angesichts dieser Fülle und Intensität von Reizen gar nicht mehr nötig.


Kunst contra Szenographie

Sowohl Jetzer als auch Szeemann vermeiden den naheliegenden Fehler, Kunst illustrativ in den Dienst der Szenographie zu stellen. Dass ein solches Ansinnen zum Scheitern verurteilt ist, zeigt die Arbeit von Christoph Draeger im Pavillon der kantonalen Gebäudeversicherungen in Neuenburg. Neben einem Windkanal und einer an ein Zeughaus erinnernden Ausstellung von Feuerwehr- und Zivilschutzgerät wirkt Draegers künstliche Schlammlawine wie ein verstaubtes Bühnenbild. Demgegenüber vertrauen die in sich selber ruhenden Kunstprojekte Jetzers ihrer eigenen Kraft. Nirgends gibt es ein Schild, das die Besucher von der Irritation erlöst, die diese Werke evozieren.

Neun Uhr ist vorbei, das Frühstück für die Everland-Gäste steht in einem Picknickkorb hinter der Tür. «Blur», die Wolke, lässt leise wie Schneeregen feine Tropfen auf die Oberfläche des Sees rieseln. Die ersten Touristen wappnen sich mit Pelerinen und streben der kalten Dusche im Expo-Himmel entgegen. Die Performance des lieben Gottes indes, dieses Meisters aller Special Effects, haben sie bereits verpasst. Dafür hätten sie früher aufstehen müssen.


[Katalog zur Szeemann-Ausstellung: Geld und Wert / Das letzte Tabu. Hrsg. von der Schweizerischen Nationalbank. Edition Oehrli, Zürich 2002. 244 S., Fr. 72.-.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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