Bauwerk

Passerelle Simone de Beauvoir
Dietmar Feichtinger Architectes - Paris (F) - 2006

Alles fließt

Der österreichische Architekt Dietmar Feichtinger schließt mit einer Fußgängerbrücke über die Seine eine städtebauliche Lücke in Paris. Was so einfach aussieht, ist ein komplizierter Schachzug in einem großen Spiel, das Stadt heißt.

15. Juli 2006 - Ute Woltron
Paris trägt dieser Tage Hitze, Besuchermassen und Souvenirstände auf den Trottoirs. Die Pariserinnen zeigen ein sommerliches Faible für neckische Ballerina-Schühchen in Gold oder Silber, die unzähligen Turnschuhtouristen der Prachtstadt kaufen lieber T-Shirts mit Eiffelturmaufdrucken. Vier Stück für 15 Euro. In kurzen Lärmpausen, wenn die Autos vor der Ampel zum Stillstand kommen, ist am Ufer der Seine ganz fein die Glocke von Notre Dame zu hören. Ihr Bimmeln klingt wahrscheinlich genau so, wie es schon vor 700 Jahren geklungen hat.

Damals wurden die kräftigen Kaimauern entlang des Flusses errichtet, der Paris ein Rückgrat gibt und den Besuchern von heute die historisch-romantische Fotokulisse. Die Seine bildete jahrhundertelang die kommerzielle Hauptschlagader der Stadt, ihre Häfen lagen nur wenige Kilometer flussaufwärts an den Ufern des heutigen 12. und 13. Arrondissements. Der Fluss brachte Wein, Getreide und andere Handelswaren, und die Verkehrsströme auf dem Wasser mündeten in das Adernnetz von Straßen und Brücken.

„Alles fließt und nichts bleibt, es gibt kein eigentliches Sein, sondern nur ein ewiges Werden und Wandeln“, besagt die Flusslehre Platons, und dieser ewige Wandel drückt sich gerade in Paris so plastisch in alter und neuer Architektur aus. Insgesamt 37 Brücken aus den unterschiedlichsten Epochen verbinden das linke mit dem rechten Seine-Ufer, und die jüngste von ihnen wurde vergangenen Donnerstag in fröhlichem Zeremoniell eröffnet.

Die Passerelle „Simone de Beauvoir“ ist, wie ihr Name sagt, den Fußgängern vorbehalten. Sie schließt in eleganten Schwüngen die städtebauliche Lücke eines groß angelegten Planes, den seinerzeit noch François Mitterrand, der bis dato letzte herrschaftliche Baumeister Frankreichs, befohlen hatte.

Dort, wo früher am einen Ufer der Wein gelagert, am anderen das Mehl gemahlen worden war, sollte ein neuer Stadtteil entstehen, um die urbane Balance zwischen der Defense im Westen, dem historischen Zentrum in der Mitte und eben diesem neuen Wohn- und Büroviertel im Osten herzustellen.

Den Paukenschlag dazu setzte der Pariser Architekt Dominique Perrault knapp an den Seine-Wassern mit dem Gebäude der Französischen Nationalbibliothek. Auf der anderen Flussseite entstand - sehr zum Missfallen der Beamtenschaft, die bis dahin feudal im Louvre residiert hatte - der gewagte Machtriegel des neuen Finanzministeriums. Knapp daneben wurde eine großzügige Parklandschaft angelegt, an deren Rand Frank O. Gehry ein neckisch-geschwungenes Gebäude setzte, das heute die Cinématheque Française beherbergt.

Rund um diese Initialpunkte entstanden in den vergangenen 20 Jahren eine Vielzahl von Wohn- und Bürohäusern, denen nur noch eines fehlte: der Verbindungsweg über die Seine, der bereits zu Mitterrands Zeiten im Stadtentwicklungsplan vorgesehen und von den neuen Bewohnern des Viertels sehnsüchtig erwartet worden war.

Der seit 17 Jahren in Paris ansässige Architekt Dietmar Feichtinger gewann 1999 den Brückenwettbewerb mit einer Konstruktion, die nun, da sie fertig gestellt ist, ganz selbstverständlich und einfach aussieht, tatsächlich aber unerhört raffiniert und kompliziert angelegt ist.

Die zierliche Brücke (Baukosten netto: 17,5 Millionen Euro) erreicht das Land immerhin auf vier verschiedenen Niveaus: Sie führt direkt auf den Platz, den die vier Türme der Bibliothek bilden, sie leitet die Passanten auf der gegenüberliegenden Seite in den Parque de Bercy, und sie bindet Fußgänger wie Radfahrer an das sechs und acht Meter tiefer liegende Niveau der Straßen entlang der Seine an.

Die 194 Meter lange und 12 Meter breite Konstruktion spiegelt den inneren Kräfteverlauf wider: Einander überlagernde Hänge-und Bogenkonstruktionen aus Stahl wurden hier hauchzart ausgeführt und an den Ufern verankert, sie kommen erfreulicherweise ohne Stützen im Flussbereich aus, weil die Kräfte in den Randankern sozusagen raffiniert im Kreis gelenkt werden. Das ist insofern von Vorteil, als nun zwischen den beiden massigen, jeweils mit vier Pfeilern im Flussbett abgestützten Nachbarbrücken ein Bassin entsteht - bestens geeignet für Motorbootregatten und andere feuchtfröhliche Amüsements.

Die Passerelle Simone de Beauvoir bildet dafür die luftige Aussichtstribüne. Inmitten der Seine formt sie einen überdachten Platz, der auch für temporäre Installationen, Ausstellungen und andere Events geeignet ist - und der noch dazu Aussicht auf das atemberaubende Panorama der Seine-Stadt bietet: Im Hintergrund ragen die wie abgeschnitten wirkenden Turmrümpfe von Notre Dame aus dem Häusermeer, ist der Wipfel des Eiffelturms zu sehen und auch ein Stückchen von Montmartre.

Dietmar Feichtinger hatte all das vor Augen, als er die Brücke entwarf: „Die große Perspektive, die hat man nur auf dem Fluss, nur hier gibt es diese Offenheit, die weite Sicht und den großen Blick auf den Himmel.“ Warum vom Wettbewerb bis zur Fertigstellung ganze sieben Jahre vergingen, ist leicht erklärt: Erst hatte ein Sturm, der mit an die 160 Stundenkilometern über Paris gebraust war, nicht nur ein paar Dächer abgedeckt, sondern in der Folge auch die Brückenbauvorschriften verschärft. Dann gab es sowohl hier an der Seine als auch in London Probleme mit Schwingungen und Resonanzen auf neuen Fußgängerbrücken. Doch alle Probleme konnten gelöst und die Idee in Form gebracht werden.

Die Stadt entwickelt sich immer wieder aus sich selbst, nimmt Altes auf, modifiziert es zu Neuem, wandelt sich ständig, bleibt nie gleich. Staatspräsident Georges Pompidou, beispielsweise, hatte in einer anderen Zeit, in der die Geschwindigkeit des Automobils die alten Städte zu zerschneiden begann, die Uferzonen der Seine zu Schnellstraßen ausbauen lassen. Heute versucht man deren Rückbau, und an den Wochenenden gibt man den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt zurück, was man ihnen damals genommen hat: Der Verkehr wird umgeleitet, die Straßen werden zu Flaniermeilen. Auf alten, zu Cafés, Clubs, Discos umgebauten Schleppkähnen und Leuchtschiffen regt sich jede Menge Leben, und im Sommer wird seit einigen Jahren tonnenweise Sand auf den Promenaden aufgeschüttet, weil dann werden die Seine-Ufer zur Paris Plage, zum Strand von Paris.

Noch sind die neuen Stadtteile des 12. und 13. Arrondissements nicht ganz fertig gestellt, noch fehlt es ein wenig an urbaner Quirligkeit, doch auch das wird sich in absehbarer Zeit ändern. Die riesigen Lagerhallen in der Nähe des Gare d'Austerlitz sollen von den Architekten Jakob and Mac Farlane zu einem Mode-Shopping-Komplex umgebaut werden, weitere Projekte befinden sich in Planung. Es gibt kein eigentliches Sein, sondern nur ein ewiges Werden und Wandeln.

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