Bauwerk

Semperit F & E
Najjar & Najjar - Wimpassing (A) - 2001

Semperit Forschungszentrum

18. Oktober 2002 - Andrea Nussbaum
„Form follows function“, dieses zur Doktrin der Kisten- und Riegelarchitektur erhobene Theorem, sagt eigentlich nichts darüber aus, ob sich die der Funktion folgende Form an der Geometrie orientieren muss. Dass sich die Materialisierung einer im Raumprogramm funktionalen, aber äußerlich irregulären Form allerdings nicht ganz leicht umsetzen lässt, weil die Architektur fertigungstechnisch der Autoindustrie bei weitem nachhinkt, mussten die Architekten Karim Najjar und Rames Najjar bei der Realisierung des neuen Forschungs- und Entwicklungszentrums im südlichen Niederösterreich erfahren.

Was in der Autoindustrie zum Fertigungsstandard gehört, stößt in der Architektur noch immer auf Schwierigkeiten in der Umsetzung. Wenn sie mit einfachen baulichen Methoden realisiert werden soll, dann sollte die Form besser einer Geometrie folgen und sich nicht frei entwickeln.


Gelungene Probe

Als die Brüder Najjar & Najjar ihren Wettbewerbsbeitrag 1999 abgaben, wussten sie, dass sie die Großform bauen konnten, jedoch realisiert hatten sie so eine noch nicht. Damit experimentiert ja, in ihrer Installation Bug zum Steirischen Herbst, aber nicht als gebautes Büro- und Laborgebäude.

Da sich der Bauherr Semperit (nicht zu verwechseln mit dem Pleite gegangenen gleichnamigen Reifenhersteller) in seiner Firmen-CI als Innovationsunternehmen versteht, und es sich bei dem Bau noch dazu um ein Forschungs- und Entwicklungsgebäude handelt, also um ein Gebäude, in dem in Labors Gummiprodukte, vor allem medizinische Schutzhandschuhe, erforscht und getestet werden, war nach der Juryempfehlung unter Vorsitz von Günther Domenig, der Neubau bald fixiert: Die Newcomer Najjar & Najjar hatten mit ihrer silbrigen Alu-Röhren-Architektur etablierte Büros ausgestochen; sie werden „The Tube“ bauen.


The Tube

Die Röhre entpuppt sich als klar durchdachter Atriumsbau. Die Haupterschließung erfolgt über das Firmengelände an der nordwestlichen Schmalseite. Zur Straße hin ist ein riesiger „Mund“, der metaphorisch als Ansaugöffnung gelesen werden kann.

Diese transparente Öffnung und die Situierung der Röhre in einem 45 Grad Winkel zur Bundesstraße, so dass man einen Einblick auf die dahinterliegenden Produktionsstätten gewinnt, ist auch schon alles, was den Kontakt zum Ort bestimmt.


Intelligenges Raumprogramm

Das zentrale glasüberdachte Atrium ist die achsiale Verteilerzone über die im Erdgeschoß links und rechts die Laborräume erschlossen werden. Eine Nirosta-Treppe, die in ihrem Design mit schräg gestellten Handläufen an Schiffstreppen erinnert, führt ins Obergeschoß, wo Verwaltungs- und Vorstandsbüros bzw. die Besprechungsräume untergebracht sind.

Hinter dem straßenseitigen „Mund“ befinden sich die Büros der Techniker und eine eingezogene Galerie. Damit sich die Wege des Vorstands sowie Besucher der international operierenden Semperit AG mit den Anlieferungen für die Labors nicht kreuzen, sind an den Längsseiten der Röhre Liefereingänge vorgesehen, die das Gebäude in der Querachse durchschneiden bzw. die Auflagen des Brandschutzes erfüllen.


Die Konstruktion

Das Spannendste an der Alu-Röhre aber war und ist ihre Konstruktion. Bei der Realisierung hatten die Architekten und die ausführenden Firmen mit Variablen zu operieren, die zwar kalkulierbar sind, aber in der Umsetzung eine größere bauliche Präzision als üblich verlangen. Da Aluminium relativ dehnbar und Temperaturschwankungen von Minusgraden bis zu über 40 Plusgraden ausgesetzt ist, musste dieser Faktor ebenfalls in den Griff zu bekommen sein. Hinzu kam bei der Ausführung, dass Aluminium mit seiner glänzenden Oberfläche keine Fehler verzeiht, denn was wäre die zweisinnig gekrümmte Röhre ohne eine perfekte Haut?


Anleihen beim Schiffsbau

Um der Haut die Homogenität zu verschaffen, wie sie heute bei Autokarosserien Gang und Gebe ist, musste man auf das „Glätten“ - wie es im Schiffsbau üblich ist - zurückgreifen, da die Software-Programme der Autoherstellung für die Architektur noch nicht zur Verfügung stehen. Ihre innovative Pionierleistung und der ungebrochene Wille zur Durchführbarkeit, den Karim und Rames Najjar mit ihrem Erstlingswerk gezeigt sind, wurde sogleich mit dem Aluminiumpreis 2002 belohnt.


[Tipp:
Im Rahmen seiner sonntags-Exkursionen lädt das Architektur Zentrum Wien am 17. 10. unter Teilnahme des Teams najjar + najjar zu einem Besuch des Forschungszentrums in Wimpassing ein.]

[Den Originalbeitrag von Andrea Nussbaum finden Sie in architektur aktuell, Österreichs größter Architekturzeitschrift.]

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