Veranstaltung

REALSTADT
Ausstellung
REALSTADT © Jan Bitter
REALSTADT © Jan Bitter
2. Oktober 2010 bis 28. November 2010
ehemaliges Kraftwerk Berlin-Mitte
Köpenicker Straße 70
D-10179 Berlin


Veranstalter:in: BMVBS
Eröffnung: Freitag, 1. Oktober 2010, 19:00 Uhr

Einmal Gulliver sein

Eine spektakuläre Schau im ehemaligen Kraftwerk Mitte in Berlin zeigt 250 Architekturmodelle aus Karton, Servietten, Knete und anderem Material

5. November 2010 - Ingo Petz
Der programmatische Titel der Ausstellung „Realstadt.Wünsche als Wirklichkeit“ prangt auf einem der gelben Ortsschilder und weist darauf hin, wie wichtig das Träumen, Fantasieren, Schwelgen und bunte Planen ist, wenn es um die Idee der Stadt und ihrer architektonischen Organisation geht. „Städte sind aus Wünschen gebaut und von Wünschen durchlebt“, heißt es im Begleitheft der Schau, die der österreichische Kurator Martin Heller im Auftrag des deutschen Bundesbauministeriums konzipiert hat. Die Turbinenhalle des alten, 1961 erbauten Kraftwerks Mitte, das nach der Wende stillgelegt wurde, ist der perfekte Ort für eine Ausstellung, die das Wunschdenken betont: eine gewaltige Halle, hoch und weit, aus narbigem Beton und weinendem Rost, ein Friedhof alter Hoffnungen und ein Raum für neue Ideen und Wünsche. Es ist die erste Ausstellung an diesem Ort - und ein weiterer spektakulärer Ausstellungsraum für Berlin.

Die Schau zeigt auf zwei Etagen und 8000 Quadratmetern 250 Architektur- und Stadtmodelle und rund 60 Bildgeschichten zu Stadtentwicklungskonzepten in Deutschland: realisierte Bauvorhaben, Wettbewerbsbeiträge und solche, die nur der waghalsigen oder wahnwitzigen Idee wegen als Modell umgesetzt wurden. Wie das riesige Modell des Künstlers J. Michael Birn, der in „A question of Lust. Der Berliner Lustgarten a. D. 2057“ seine düstere Vision des Alexanderplatzes und Umgebung umgesetzt hat: futuristische Hochhäuser, die an Langs Metropolis erinnern, das wiedererrichtete Stadtschloss, das mit einem Shopping-Center verbunden ist. Daneben das großflächige detaillierte Modell des Bebauungsplanes für die Kölner Innenstadt. Natürlich entsteht so der Eindruck eines Legolandes, einer Miniaturstadt, einer fantastischen, bunten Welt, herrlich unproportional, schief und krumm, aus Papier, Karton, Holz oder Acryl, über die der Besucher mit neugierigen Augen reist. Das Modellbauen der Architekten ist ja sowieso eine Kunst, die nur selten ins Rampenlicht gerückt wird. Bei manchen fein verzierten Modellen wie dem des historischen Neuruppiner Rathauses fragt man sich, ob der Architekt nicht lieber Modellbauer bei Märklin geworden wäre.

Herrlich die kunterbunten Modelle von Kindern und Jugendlichen beispielsweise, die im Rahmen eines Projektes gefragt wurden, wie sie sich das Dortmund, Essen oder Bottrop ihrer Träume vorstellen. Und natürlich darf dabei eine Kirche nicht fehlen, die zu einer Schalke-04-Kirche umfunktioniert wurde. Man sieht geschwungene Tankstellen, wirklich schöne Unterführungen, märchenhaft verspielte Kindergärten, durchgeknallte Öko-Konzepte, berauschende Wälder, die Pläne der Initiative „Mediaspree versenken,“ die von idyllischen Hippie-Kommunen an der Spree träumt oder die riesigen DDR-Plattenbaumodelle, die als Kästen für die Bienenzucht genutzt werden sollen. Es gibt aber auch eine Reihe konventioneller Modelle wie das Ost-Berlin-Planmodell der DDR, das allein durch seine Größe imponiert und durch den blinkenden Fernsehturm. Zwischen den Modellen sieht man immer wieder Plakate, die Geschichten von innovativen Raumnutzungskonzepten oder Klimaschutzkonzepten erzählen und die mit Sprüchen wie „Pioniere sind das Salz der Erde“ oder „Utopien säen in den Rissen der Stadt“ betitelt sind. Das ist vielleicht etwas zu viel der Beschwörung des Wunschdenkens, denn die Schau funktioniert auch so wunderbar als Inspirationsspritze. Egal, ob sie Modelle und Ideen zeigt, die auf idealistischen oder ästhetischen Prinzipien fußen, oder auf rein wirtschaftlichen oder pragmatischen. Und manchmal vermengt sich auch alles zu einem anspruchsvollen Gebäude wie der gläsernen Manufaktur in Dresden, wo der VW-Konzern seine Phaetons baut.

Dass diese extrem sinnliche Schau so wunderbar frei von Scheuklappen und Ideologien ist, macht sie umso attraktiver. „Realstadt“ will ja nicht nur zeigen, was realistisch ist, sondern dass das, was realistisch und umsetzbar ist, häufig nur eine Frage des Wünschens ist. Die Schau fordert auf, mehr Mut zum Wunschdenken zu haben. Und dies ist mitunter eine recht aktuelle Thematik. Schließlich wird die Welt diesen Mut brauchen, um den komplexen Herausforderungen der Zeit wie Klimawandel, Umweltzerstörung oder soziale Ungerechtigkeit begegnen zu können. Wie haben die Toten Hosen einmal gesungen? „Es kommt die Zeit, in der das Wünschen wieder zählt.“

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