Veranstaltung

Herzog & de Meuron
Ausstellung
8. Mai 2004 bis 12. September 2004
Schaulager
Ruchfeldstrasse 19
CH-4142 Münchenstein / Basel


Veranstalter:in: Schaulager

Poetik statt Fortschritt

Ein Blick in die Naturgeschichte der Architektur

Zurzeit zeigt das Schaulager in Basel eine Ausstellung über das Werk der Architekten Herzog & de Meuron. Begleitet wird sie von einem zur vorangehenden Schau in Montreal erschienenen Katalog mit dem ebenso lakonischen wie irritierenden Titel «Herzog & de Meuron: Naturgeschichte». Dieser wirft die Frage auf, was eine Naturgeschichte der Architektur anderes können soll als die gängige Architekturgeschichte.

26. Juni 2004 - Hans Frei
Es ist kaum möglich, sich die Natur in einer noch prominenteren Rolle zu denken als in jener, die sie im Rahmen der Architekturgeschichte bereits spielt. Mit guten Gründen wird Architektur oft als «zweite Natur» bezeichnet. Bis ins 18. Jahrhundert diente die Natur als Hauptstütze der Autorität architektonischer Idealvorstellungen. An dieser Rolle änderte sich auch dann nichts, als diese Idealvorstellungen aufgrund der Intensivierung naturwissenschaftlicher Forschung mehr und mehr entmystifiziert wurden. Im Gegenteil: Die Architektur geriet nur noch stärker in den Sog der Naturwissenschaften. Die Formalisierung der Natur bildete fortan auch die Grundlagen der Architektur. Vom Nervensystem bis zur Relativitätstheorie oder Molekularbiologie gibt es kein naturwissenschaftliches Thema, das von den Architekten nicht als Inspirationsquelle benutzt worden wäre. Die Anleihen bei der Naturgeschichte haben den architektonischen Fortschritt nicht nur beschleunigt, sie halfen auch, die Herrschaft der Architektur über die Natur zu vergrössern. Die Architekturgeschichte ist solchermassen - entgegen dem, was man gemeinhin annimmt - mehr als bloss eine systematische Sammlung, Beschreibung und Gliederung der Vergangenheit der Architektur. Sie ist eine Fortschrittsgeschichte und mithin auch eine Verkünderin von dem, was kommen muss. Während sie dem zugewandt ist, was geschehen ist, kündigt sie bereits an, was als nächste Station erreicht werden wird.

Piranesis lebende Monumente

Anders als die klassische Naturgeschichte besitzt eine Naturgeschichte der Architektur keinen Fahrplan. Auf was es hier ankommt, ist eine neue Sicht auf die Architektur und nicht ein Rückschritt zur Natur oder aber eine weitere Beschleunigung des Fortschritts. Man braucht sich zu diesem Zweck nur vorzustellen, wie ein Naturhistoriker die spezifische Wirklichkeit der Architektur betrachten würde. Verglichen mit dem gewaltigen Strom aus Anpassungen, Katastrophen, Mutationen, Symbiosen und Zufällen, der die natürliche Evolution ausmacht, erschiene ihm die Architekturgeschichte als dünnes Rinnsal. Seine Aufmerksamkeit würde hauptsächlich dem Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Entwicklungen gelten und weniger dem architektonischen Sonderfall. Mit nicht geringem Erstaunen müsste er dabei feststellen, dass vom gesamten Potenzial der natürlichen Evolution nur wenig für die architektonische Produktion abgezweigt wird. Ein kurzer Blick in die Naturgeschichte der Architektur genügt, um zu erkennen, wie dünn das Rinnsal des Fortschritts tatsächlich ist, aber auch, wie sehr der Fortschritt zum kategorischen Imperativ für die architektonischen Avantgarden geworden ist. Aber eine Naturgeschichte der Architektur könnte die Augen öffnen für eine viel breiter gefasste Weise der Entstehung von Formen, als es die blosse Verbesserung am Bestehenden darstellt.

Der erste Architekt, der die Naturgeschichte nutzte, um über Architektur nachzudenken, war Giovanni Battista Piranesi (1720-1778). Er war fasziniert vom antiken Rom, wo nach seiner Meinung die grossartigsten Monumente standen, die je von Menschen gebaut wurden. Doch leider waren sie zu seiner Zeit bereits am Verfallen, so dass er gezwungen war, die Grösse Roms aus den noch vorhandenen Spuren ebenso minuziös wie phantasievoll zu rekonstruieren. Während Johann Joachim Winckelmann und sein Kreis auf der «edlen Einfalt und stillen Grösse» insistierten, um die Überlegenheit der griechischen Kultur zu betonen, konterte Piranesi mit nichts als Grösse und Vielfalt. Die gewaltigen Steingebirge, die die Römer errichtet, und die blühende Vielfalt, mit der sie ihre Werke dekoriert hatten, brauchten in seinen Augen den Vergleich mit der Natur nicht zu scheuen.

Als einen weiteren Beweis für die kulturelle Vorherrschaft Roms führte Piranesi auch das aktuelle Erscheinungsbild der Ruinen an. Selbst im Zerfall sahen sie in seinen Augen noch grossartig aus. Es ist, als hätte er einen Verlust in einen Gewinn umzudeuten versucht. Der Zerfall hat die Erhabenheit der römischen Monumente letztlich nur gesteigert. Auf zahlreichen seiner über 2000 Radierungen zeigt Piranesi, wie die Natur das Werk der Römer fortsetzte, statt es zu zerstören, indem sie den steinernen Massen und Dekorationen organisches Leben einhaucht. Auf diese Weise entwarf er eine Stadt ausser Rand und Band, formlos, eine urbane Wildnis, in der jedes Gebäude gegen jedes kämpft, eine Welt der totalen Unordnung, wie Manfredo Tafuri kritisch anmerkte. Doch diese Kritik hätte ihn wohl kaum getroffen, denn seine Sache war es nicht, die Architekten, etwa im Namen einer formalisierten Natur, zur Ordnung zurückzurufen. Vielmehr wollte er die Grösse der Architektur an der Grösse und Vielfalt der Natur messen.

Smithsons Austauschprozesse

So sehr Piranesi durch seine Radierungen berühmt geworden ist, gegen die Idealisierung und gegen die Formalisierung der Natur hatte er keine Chance. Es gab zwar immer wieder Ansätze, die in eine ähnliche Richtung wiesen - so unter anderem in Konzepten wie dem englischen Landschaftsgarten, der Architektur zur Zeit der Französischen Revolution, in Sempers Stoffwechseltheorie oder Frank Lloyd Wrights organischem Bauen. Doch es dauerte mehr als 200 Jahre, bis Piranesis Vision der Konvergenz von Natur und Architektur eine adäquate Neuformulierung erfuhr. - In den sechziger Jahren entwickelte der amerikanische Land-Art-Künstler Robert Smithson (1937-1973) eine ähnliche Besessenheit für «heruntergekommene» Orte wie Piranesi. Einer seiner Ausflüge führte ihn nach Passaic, New Jersey, wo er sich durch den ruinösen Zustand einer Baustelle an römische Ruinen erinnert fühlte. Doch diese «Monumente von Passaic» hatten keine glorreiche Vergangenheit hinter sich, bloss eine fragwürdige Zukunft vor sich. Es handelt sich um Ruinen, so Smithson, die der Vollendung eines Werkes vorausgehen.

Es handelt sich also um einen Prozess, der einem von Menschen geschaffenen Werk innewohnt, der bereits mit seinem Entstehen verbunden ist und nicht erst nach seiner Vollendung wirksam wird. Es gehört jedoch zur Eigenart der zivilisierten Welt, diese Spuren üblicherweise fein säuberlich zu vertuschen. Smithson dagegen hatte sie stattdessen monumentalisiert. Die «Monumente von Passaic» repräsentieren das unumgängliche Austauschgeschäft des Homo Faber mit der Natur. Sie liegen irgendwo zwischen physischer Materie und abstrakter Form, zwischen Natur und Highway, losgelöst von beiden, keines alleine darstellend. Angesichts dieser Form von Konvergenz schreckte Smithson nicht davor zurück, von einem sexuellen Akt zu sprechen, der nicht bloss aus einer Kette von Vergewaltigungen besteht.

Smithson stiess mit seiner Vorstellung von Austauschprozessen mit der Natur auf grosses Interesse. Dazu trug nicht zuletzt auch eine Ausstellung über das Formlose bei, die Yves-Alain Bois und Rosalind Krauss 1996 im Centre Pompidou in Paris eingerichtet hatten und in der mehrere Schlüsselwerke von Smithson stammten. Ausgehend von einer kurzen Definition von Georges Bataille, wurde das Formlose als etwas begriffen, was für sich alleine genommen gar nichts bedeutet. Erst wenn es auf etwas bezogen wird, um dieses zu disqualifizieren, entfaltet es einen (negativen) Sinn. So gesehen ist das Formlose nicht einfach eine Anti-Form mit instabilen Eigenschaften (z. B. flüchtig oder flüssig). Es stellt vielmehr eine radikale Attacke gegen die kalkulierbaren, ordnenden Systeme dar, die eine Form ausmachen. Es kommt ohne Krücken der Formalisierung aus und richtet sich gegen Bedeutungen, die a priori schon in der Materie stecken sollen. In diesem Sinne sind die römischen Ruinen und die Monumente von Passaic formlos, da sie gegenüber dem antiken Rom beziehungsweise dem künftigen Highway ganz offensichtlich einen Verlust an ordnenden Kräften darstellen.

Das Anliegen von Bois und Krauss war es zu zeigen, wie wichtig das Formlose und seine disqualifizierenden Wirkungen für die Kunst spätestens seit dem 20. Jahrhundert sind. Der Ausstellungskatalog war als «Gebrauchsanleitung» für den Umgang mit dem Formlosen gedacht. «Horizontalismus», «Puls», «niederer Materialismus» und «Entropie» dürfen nicht als äussere Eigenarten des Formlosen verstanden werden. Es handelt sich um vier Operationen des Disqualifizierens, die es einem Künstler erlauben, sich von der Herrschaft impliziter Bedeutungen der Materie zu befreien, die erstarrten Hierarchien zwischen Natur und Kunst, Materie und Inhalt, Konkretion und Abstraktion aufzuheben und davon ausgehend nach neuen Formen ihres Austausches zu suchen.

Herzog & de Meurons Alchimie

Einer der Gründe, warum Philip Ursprung die Architektur von Herzog & de Meuron in der Ausstellung von Montreal und im zugehörigen Katalogbuch als Naturgeschichte präsentiert, hat mit dem Fehlen geeigneter Erklärungsansätze zu tun. Die bisherigen Ansätze kreisten praktisch alle um die ewig gleichen Vergleiche mit Kunst (Beuys, Minimal Art), dieweil die schlauen Füchse sich längst in andere Reviere verzogen haben. Allerdings ist auch der von Ursprung gewählte Ansatz über die Naturgeschichte nicht ohne Probleme. Weder die Feuilletonisten noch der Alibi-Naturwissenschafter zeigen in ihren Katalogbeiträgen die erforderliche Gewandtheit im Crossing-over zwischen Natur und Architektur. Zudem sind die Kategorien, nach denen das Material geordnet wird, seltsam affektiert und haben nichts von der Sachlichkeit naturwissenschaftlicher Begriffe.

Wenn der Paradigmawechsel von einer Architekturgeschichte zu einer Naturgeschichte der Architektur trotzdem gelingt, dann liegt dies vor allem an Eigenschaften, die den Bauten und Projekten selbst innewohnen. Die Haltung von Herzog & de Meuron und die naturgeschichtliche Perspektive passen offensichtlich zusammen. Darauf haben die Architekten selbst vereinzelt hingewiesen, etwa in der Ausstellung «Architektur Denkform» (1988) oder in den «Gedanken zur geistigen Qualität des Materiellen», die im Essay über «Die verborgene Geometrie der Natur» (1988) dargelegt werden, oder in der Analyse von Austauschprozessen zwischen Stadtform und Naturform, die in «Eine Stadt im Werden» (2002) präsentiert wurden.

Wenn Kurt W. Forster und Alejandro Zaera Polo die Arbeit von Herzog & de Meuron als «alchimistisch» bezeichnen, richten sie die Aufmerksamkeit auf einen Umgang mit der Natur, der nichts mit Idealisierung oder gezielter Nutzniessung zu tun hat. Tatsächlich verstehen es Herzog & de Meuron brillant, zwischen formloser Materie und Formgesetzen zu switchen. Letztlich lässt sich in ihren Materialversuchen gar nicht mehr sagen, wo genau die Grenze zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen verläuft. Beide liegen auf der gleichen Linie, und es geht vor allem darum, den Bereich des Austauschs zu dehnen, um zu neuen Ausdrucksformen zu gelangen. Entropischer Verfall kann dabei ebenso zum konstitutiven Moment eines Projektes werden wie Materie, die in eine noch nie gesehene Form verwandelt wird.

Auch das Arbeiten mit Modellen wird nicht etwa durch a priori feststehende Absichten geleitet. Es handelt sich vornehmlich um ein unbestimmtes, zielloses Ausprobieren von Möglichkeiten, die sich durch die in der Werkstatt vorhandenen Materialien gerade so ergeben. Die Arbeitsmodelle gleichen Notationen vorüberziehender Wolken - bis sich plötzlich eine Konfiguration ergibt, die eine Lösung für das vorliegende Problem darstellen könnte. Der Prozess der Formalisierung setzt aber immer erst nach einem anfänglich unkontrollierten Herumtasten ein.

Poetik statt Fortschritt

Warum eine Naturgeschichte der Architektur? Wie zu Beginn dargelegt, steht dahinter weder der Ruf «Zurück zur Natur», noch geht es um eine grundsätzliche Kritik an der technologischen Ausbeutung der Natur. Es geht vielmehr darum, die Karten zwischen Natur und Architektur neu zu mischen. Das ist es, was die Projekte von Piranesi, Smithson und Herzog & de Meuron auszeichnet und miteinander verbindet. Der von ihnen praktizierte Paradigmawechsel enthält einen Wechsel von der Ausbeutung der Natur im Namen des technischen Fortschritts hin zu intensiveren Austauschprozessen im Namen poetischer Vielfalt.

Dies ist gerade heute von grösster Dringlichkeit, da den Architekten aufgrund von Fortschritten etwa im Bereich der Biotechnologien ungeahnte neue Möglichkeiten der Nutzniessung der Natur in die Hände gespielt werden. An diesem Punkt sollte klar sein, warum sich die Architektur nicht einfach nur weiter an den bisherigen Fahrplan der Architekturgeschichte als Fortschrittsgeschichte halten darf. Denn dies würde früher oder später zu einer «Domestizierung der Natur bis hin zur vollständigen Industrialisierung des Planeten» (Greg Lynn) führen. Und dort gibt es möglicherweise keinen Platz mehr für Architektur, weil es keine Wesen mehr gibt, die dem entsprechen, was wir heute unter einem Menschen verstehen. - Wenn der Fortschritt als ein Motor betrachtet werden kann, der die Architektur seit Jahrhunderten stetig vorantreibt, dann ist das Formlose ein Katalysator, der die Formalisierung aus der Materie herausfiltert und diese so in einem poetischen Sinne für neue, noch unbekannte Möglichkeiten öffnet. Poetik steht hier gegen Effizienz. Denn die vom Fortschritt angetriebene Architekturgeschichte ist ganz nach vorne orientiert. Utopia ist die nächste Station, die erreicht werden wird (wer hier aussteigt, ist selber schuld). Dagegen wirft die Naturgeschichte der Architektur ihr Licht eher auf eine breitere Entstehungsweise von Formen. Utopia liegt in diesem Fall nicht irgendwo vor uns als vielmehr im Hier und Jetzt, verborgen hinter den Formalisierungen der Natur. Mit etwas Glück und dank Architekten wie Herzog & de Meuron gelingt vielleicht eine Umstellung des architektonischen Denkens von Fortschritt auf Poetik.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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