Zeitschrift

anthos 2006/4
Erlebniswelten - Inszenierungen
anthos 2006/4
zur Zeitschrift: anthos
Herausgeber:in: BSLA

Wahrnehmung verändert Landschaft

1. Oktober 2006 - Karsten Feucht
Seit 2002 bietet die IBA Fürst-Pückler-Land mit grossem Erfolg «sinnliche Tagebauerkundungen» an. Diese geführten Wanderungen durch stillgelegte Braunkohle-Tagebaue kurz vor deren Flutung machen Landschaftsbereiche, die jahrzehntelang gesperrt waren, erstmals zugänglich. Durch die Art der Besucherführung wird eine neue Wahrnehmung der bisher eher als Schandflecken betrachteten «Restlöcher» eröffnet.

In die Wahrnehmung führen

Den dramaturgischen Rahmen der vom Autor zusammen mit dem Künstler Rainer Düvell entwickelten Tagebauerkundung bilden Informationen und Installationen während der Tour – wie zum Beispiel ein Imbiss an weiss gedeckter Tafel direkt am schwarzen Kohleflöz oder ein mit Helium gefüllter Luftballon, der als «Boje» den zukünftigen Seewasserstand auf 38 Meter Höhe über dem jetzigen Grund des Sees anzeigt. Hauptsächlich aber geht es darum, die Besucher in ihre eigene Wahrnehmung zu führen. Dazu werden die Teilnehmer aufgefordert, einen Teilabschnitt schweigend zu gehen oder sich mit verbundenen Augen von anderen führen zu lassen. Anschliessend werden sie angeregt, ihre Eindrücke mitzuteilen.

Wirklichkeitsebenen aufdecken

Je nach Herkunft erlebt jeder Besucher die Grube anders. Durch die Äusserungen der Teilnehmer treten diese verschiedenen Wirklichkeitsebenen des Ortes zu Tage. Der eine fühlt sich in eine unwirkliche Welt versetzt. Vor den Augen des anderen entsteht eine Landschaft, die er mit anderen Orten der Welt vergleicht. Der ehemalige Bergmann befindet sich in seinem «Tagebau-Restloch Nr. 244», während der umgesiedelte Bewohner sich an seine für immer verlorene Heimat erinnert.

«Sich einen Begriff machen»

Das Mitteilen des Erlebten ist für den Erkundenden der entscheidende Moment, das, was er sieht, spürt und erlebt, zu begreifen. Denn erst im Sprechen macht man sich einen Begriff. Die eigene Wahrnehmung kommt durch das Zuhören der anderen zu ihrem Recht. Im Mitteilen und Zuhören konstruieren die Teilnehmer die Wirklichkeit des Ortes.

Landschaft als soziale Konstruktion

Indem sie kommunizieren, werden die Beobachter zu Akteuren. Sie verleihen den Tagebaugruben eine neue Bedeutung und Wertigkeit. Durch den Tourismus der IBA wird also aus dem technisch zu bewältigenden «Sanierungsfall Tagebaurestloch» ein Raum für einzigartige Natur-Erlebnisse, für Kommunikation und Begegnung sowie für neue Identifizierung mit der Heimat. Im Zusammenspiel von Inszenierung, Erlebnis und Gespräch entsteht eine neue Landschaft.

Grube als Bühne

Aus dieser Art der sinnlichen Tagebauerkundung ist nicht zuletzt auch ein öffentlich sehr rege wahrgenommenes Theaterprojekt hervorgegangen, das der Schweizer Regisseur Jürg Montalta mit Bewohnern des abgebaggerten Ortes Bückgen direkt im Tagebau inszenierte. Dabei gelang es ihm, ehemalige Bückgener direkt an den Ort ihres schmerzhaften Verlustes heranzuführen. Viele von ihnen hatten ihn bereits verdrängt oder scheinbar vergessen. Die lebhaft erzählten und dargestellten Geschichten auf einem im Sand nachgezeichneten Grundriss liessen die Vergangenheit der verschwundenen Gemeinde vor den Augen der Zuhörer wieder aufleben und machten eine wesentliche Wirklichkeitsebene der Landschaft auch für andere begreifbar. So entstand für die Protagonisten wie für das Publikum eine tief greifende Erfahrung – auch mit heilender Wirkung. Eine Teilnehmerin brachte das so auf den Punkt: «Jetzt ist es verschmerzt, jetzt freu’ ich mich auf den See!»

Tourismus und Theater als Landschaftsgestaltung

Am Tagebau selbst hat sich seit den Touren und Veranstaltungen – ausser einigen wenigen sanierungstechnischen Veränderungen – kaum etwas verändert. Doch die Grube ist nur scheinbar dieselbe geblieben: Deren veränderte öffentliche Wahrnehmung und die entsprechende Kommunikation über sie haben sie «renoviert». Wenn heute «Tagebaulandschaft »gesagt wird, ist nicht mehr dasselbe gemeint wie vor drei Jahren. Konnotierte man mit ihr vorher «devastiert, zerstört, hässlich», so meint man heute «aussergewöhnlich, zukunftsorientiert, interessant». Insofern sind die Touren und Veranstaltungen in der Grube auch als ein Mittel der Landschaftsgestaltung zu verstehen.

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Für den Beitrag verantwortlich: anthos

Ansprechpartner:in für diese Seite: Daniel Haidd.haid[at]fischerprint.ch

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