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Bauwelt 14.07
Glasfassaden
Bauwelt 14.07, Foto: Gabriel Dorfman
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Brasilia-Wettbewerb zum Fünfzigsten

André Malraux nannte sie die „Hauptstadt der Hoffnung“. Brasilia brauchte jedoch Jahrzehnte des Reifens und der Korrekturen. Der Architekturhistoriker Dorfman von der Universität Brasilia betont die heutigen Qualitäten.

5. April 2007 - Gabriel Dorfman
Am 16. März vor 50 Jahren wurde das Ergebnis des Wettbewerbs für die neue Hauptstadt Brasiliens bekannt gegeben. Zuvor hatte der Ausschluss ausländischer Architekten und Stadtplaner beim Wettbewerb weltweit Empörung ausgelöst. Auf die Frage, warum nicht Le Corbusier eingeladen worden sei, antwortete Oscar Niemeyer in den siebziger Jahren: „Wir sind Brasilianer und wollten unsere eigenen Pläne verwirklichen.“ Auch im Rückblick lässt sich uneingeschränkt sagen, dass von den 26 Entwürfen, die bei der Prüfungskommission eingereicht wurden, der mit dem ersten Preis gekrönte Vorschlag von Lúcio Costa (1902–1998) die meisten Qualitäten aufwies, ungeachtet seiner Mängel und Ungenauigkeiten. Vor allem eines unterscheidet Costas Entwurf von denen seiner Konkurrenten, und das ist die Fähigkeit, eine für die damalige Zeit angemessene Lösung zum Thema neue Hauptstadt zu bieten, eine wirklich „modern“ zu bezeichnende Lösung, ohne dabei den Ende der fünfziger Jahre vorherrschenden Trends bedingungslos zu verfallen – weder dem engstirnigen Funktionalismus noch den abstrusen Zukunftsvisionen, die damals als Inbegriff des avantgardistischen Städtebaus galten. Dem Preisgericht gebührt Anerkennung, diese Qualität bei Costas Entwurf erkannt und ihm mehrere weiterführende Vorschläge an die Hand gegeben zu haben – vor allem was die Verschiebung der Stadt in Richtung des Sees betrifft und die Verdoppelung der Wohngebiete, die östlich der alles dominierenden zentralen Achse liegen. Dies führte dazu, dass die Gesamtfläche der Wohngebiete um circa ein Drittel erweitert wurde.

Stadt der Stadtfunktionen

Costa ist es gelungen, den Städtebau seiner Zeit mit Bewähr­tem in einer Weise zu verknüpfen, dass die funktionale Ef­fi­zienz nicht um den Preis der Missachtung der Landschaft und des menschlichen Maßstabs gesucht wurde. Dass sich die funktionalistischen Merkmale seines Plans im Laufe der Zeit allerdings eher als Hindernis denn als Vorteil für die Organisation der Stadt erwiesen haben, liegt eben an jener damals vorherrschenden, allzu schematischen Auffassung von einer Stadt der Zukunft. Costa hat es nicht geschafft, sich bei seinem Entwurfskonzept von dieser Auffassung zu befreien, und darunter werden die Einwohner von Brasilia immer zu leiden haben.
Dennoch und trotz aller dem städtebaulichen Plan angeborenen Fehler, die sich nur begrenzt beheben lassen, hat sich die Stadt in der brasilianischen Realität fest integriert und bemerkenswert entwickelt. Nach den unzähligen, teils tragischen, teils komischen Pannen, die nach der allzu voreiligen Einweihung am 21. April 1960 aufgetreten waren, gewann die zu je­nem Zeitpunkt höchstens als Stadttorso zu bezeichnende An­sammlung von Gebäuden allmählich an Leben.
Aus diesem nüchternen Ensemble isoliert stehender Bauten auf fürchterlich staubigem rotem Steppenboden in den sechziger, siebziger Jahren ist inzwischen eine durchgrünte Stadt geworden, deren Mieten in guten Lagen zu den höchsten im ganzen Land zählen und deren Wohnungen sich daher nur die mittlere und obere Mittelschicht leisten kann. In einem Land wie Brasilien, dessen Gesellschaft durch eine abgründige Kluft zwischen Arm und Reich gespalten ist, führt dies oft dazu, die allgemeine soziale Ungerechtigkeit mit örtlichen städtebaulichen Mängeln zu verwechseln.
Die für brasilianische Verhältnisse außergewöhnlich privilegierte Stellung der Universität von Brasilia sagt viel über die wirtschaftliche Entwicklung der Hauptstadt aus. Obwohl die Bundesverwaltung und alle anderen politi­schen Einrichtun­gen in wirtschaftlicher Hinsicht nach wie vor bestimmend sind, wird die Stadt allmählich zu einem wichtigen Wissenschafts- und Dienstleistungszentrum, dessen Einfluss sich stetig Richtung Norden, Nordosten und Westen ausdehnt. Inzwischen stehen die aufstrebenden Regionen des brasilianischen Binnenlandes eher unter dem Einfluss von Brasilia als unter dem der viel weiter entfernten Städte Rio de Janeiro und São Paulo – was übrigens der Erfüllung einer der wichtigsten Erwartungen entspricht, die eng mit der Entscheidung für den Bau der neuen Hauptstadt verbunden war.

Die Superquadras

Zusammen mit Goiânia, der etwa 210 Kilometer entfernten, bereits 1937 gebauten Hauptstadt des Bundeslandes Goiás, bildet Brasilia eine immer mehr an Bedeutung gewinnende Wirtschaftsachse aus. Genau in diesen vielversprechenden wirtschaftlichen Aussichten der Stadt und ihrer Region liegen aber Gefahren, die die Bewahrung der städtebaulichen Qualitäten ernsthaft bedrohen. Denn ein wesentlicher Teil jener Qualitäten hängt direkt davon ab, dass die Bebauungsdichte bzw. das Verhältnis zwischen den bebauten und den unbebauten Flächen so bleibt, wie es Lúcio Costa in seinem Plan vorgesehen hat und wie es in den zentralen Stadtquartieren bis heute auch meistens geblieben ist. Die streng begrenzte Haushöhe und die Großzügigkeit der freien Flächen, die auf Pilotis stehenden Wohnhäuser und die dadurch gesicherte Bewegungsfreiheit der Fußgänger – all das macht das Wesentliche der Stadtlandschaft Brasilias aus. Solche vorzüglichen Merkmale lassen sich vor allem bei den Superquadras erkennen – den von Costa konzipierten Bausteinen der Wohngebiete, die die „Flügel“ der Stadt bilden. In diesen Superquadras spielt sich der Alltag der Bewohner ab.
Lúcia Costa sagte 1980: „Alle Traumata, Schocks, Regimewechsel und verschiedenartigen Philosophien konnten der Stadt nichts antun. Sie wächst und wird immer stärker. Sie gedeiht.“ 1987 hat die UNESCO Brasilia zum Weltkulturerbe erklärt – und zwar das gesamte städtebauliche Ensemble und nicht nur die repräsentativen Staatsbauten. Damit wurde schließlich die Einzigartigkeit der Stadtlandschaft anerkannt und geschützt, denn durch eine dem Profit gehorchende Verdichtung drohte immer mehr die Zerstörung des eigentlichen Wesens Brasilias, wie es vor fünfzig Jahren noch als Bild einer neuen Hauptstadt aus dem Wettbewerb hervorgegangen war.
Anmerkung:
Das Zitat von Oscar Niemeyer ist einem Gespräch mit Christian Hornig aus dem Jahr 1979 entnommen, das Zitat von Lúcio Costa einem Gespräch mit Romeo Rey von 1980.

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