Zeitschrift

Architektur + Wettbewerbe 212
Bauen für Senioren
Architektur + Wettbewerbe 212

Herausforderung »Social Design«

17. Dezember 2007 - Sibylle Heeg
Nein, es geht nicht um ein neues Interior Design Konzept – der Begriff Social Design wurde in den 1980er Jahren von Robert Sommer, einem amerikanischen Umweltpsychologen geprägt, und meint eine bestimmte Grundhaltung beim Entwerfen, eine stärkere Priorität für die Berücksichtigung der Nutzerbedürfnisse im Gegensatz zu mehr formalistischen Ansätzen in der Architektur. Social Design bedeutet »Creating buildings with people in mind« und erfordert Wissen über den Zusammenhang von physischer Umgebung einerseits und Befinden und Verhalten andererseits. Es bezieht die Nutzer bei der Planung ein, erforscht deren Reaktionen in konkreten Umgebungen, beispielsweise in Altenpflegeheimen mit sozialwissenschaftlichen Methoden. Es ist nahe liegend, sich beim Thema »Bauen für Senioren« mit der Frage der Grundhaltung, der ethischen Basis unseres Tuns als Architekten zu befassen, die ja im Laufe der letzten Jahrzehnte ja deutlichen Schwankungen unterworfen war.

Es ist noch nicht so lange her, da konnten wir es uns leisten, eine solche Grundhaltung, die den Bedürfnissen der Nutzer einen großen Stellenwert einräumt, abzuwerten, als kaum vereinbar anzusehen mit »guter« oder innovativer Architektur. Aber die Zeiten, in denen ambitionierte Architekturbüros sich dem Bau eines Pflegeheims am liebsten verweigert hätten, weil sie sich nicht in mit den Niederungen einer solchen Bauaufgabe beschäftigen wollten oder in sozial
reformerischer Attitude die Notwendigkeit solcher Einrichtungen bezweifelten, sind schon lange vorbei.

Im Jahre 2000 waren etwa 25 Prozent unserer Bevölkerung über 65 Jahre alt und im Jahre 2040 werden es an die 50 Prozent sein. Ältere Menschen werden dann die Hauptnutzergruppe unserer gebauten Umwelt sein. Die Bauaufgaben in diesem Bereich, seien es Seniorenwohnanlagen, Altenpflegeheime, Spezialeinrichtungen für Demenz oder Sterbehospize häufen sich schon jetzt, die Architektenschaft hat die Notwendigkeit erkannt, sich fortzubilden; man besucht Vorträge, bewirbt sich um Preise und versucht, trotz der vielen Einschränkungen durch Vorschriften und Notwendigkeiten »gute Architektur« zu machen. Wenn man realisierte und auch preisgekrönte Projekte aber kritisch ansieht und sich fragt, ob auf diese neue Herausforderung wirklich angemessen reagiert wird, kommen Zweifel auf, vor allem, wenn man nicht nur auf die »architektonische Qualität« sondern auf ihre Tauglichkeit im Sinne eines Social Design schaut.

Oft entscheiden sich bei ambitionierten Projekten Architekten wie Bauherren im – vermeintlichen – Konflikt zwischen anspruchsvoller und innovativer Architektursprache und Tauglichkeit für die spezifische Nutzergruppe für den eigenen Geschmack oder das gerade aktuelle ästhetische Repertoire, nicht wissend oder nicht wissen wollend, welche Nachteile damit für die Lebensqualität von älteren Menschen verbunden sein können.

Offenbar hat sich das bauliche Lösungsrepertoire noch nicht ausreichend auf die besondere Verwundbarkeit älterer Menschen eingestellt. Besonders gravierend ist dies, wenn sie körperlich hinfällig sind oder ihr Geist verwirrt ist. Andere Länder, wie zum Beispiel Schweden scheinen die Belange einer alternden Gesellschaft bereits viel weitergehend berücksichtigt zu haben, als wir. Ein Indiz dafür ist die Schwierigkeit, hierzulande zu erschwinglichem Preis für Senioren taugliche technische Produkte ohne stigmatisierende Anmutung zu bekommen.

Es scheint von den Planungsverantwortlichen noch nicht deutlich genug wahrgenommen zu werden, welche Dimension der Wandel zu einer von Älteren dominierten Gesellschaft hat. Die Wichtigkeit von Barrierefreiheit ist Dank der intensiven Lobbyarbeit der Behindertenverbände ins Bewusstsein gedrungen und in Vorschriften verankert, darüber hinaus ist aber nur bei einer kleinen Gruppe von Architekten eine Sensibilisierung für die besonderen Bedürfnisse Älterer erfolgt oder gar Handlungssicherheit entwickelt. Der notwendige Paradigmenwechsel hin zu Social Design, ist offenbar noch nicht ausreichend vollzogen. Noch ist nicht bewusst, welche immense Einschränkung von Lebensqualität durch eine nicht angemessene bauliche Umgebung verursacht werden kann, wie verwundbar eine Abnahme der altersbedingten Kompetenz machen kann. Vom amerikanischen Umweltpsychologen Powell Lawton geprägt wurde das gedankliche Modell der notwendigen Passung zwischen den Fähigkeiten der Menschen, mit Umwelt kompetent umzugehen und den Anforderungen, die Umwelt an sie stellt (»person-environment-fit«). Das heißt für Architekten und Bauherrn von Senioreneinrichtungen, dass es darum geht, sich sehr genau mit den Fähigkeiten und Grenzen der künftigen Nutzer zu befassen, um eine bauliche Umwelt zu schaffen, die weder über- noch unterfordert.
Eigentlich wissen wir es ja: Im Alter nimmt die Reichweite der Aktivitäten eher ab, das verfügbare Territorium schrumpft, und ist im schlimmsten Fall bis auf ein Bett in Pflegeheim reduziert. Wenn in dieser klein gewordenen Welt keine Rücksicht genommen wird auf altersbedingte Veränderungen wie beispielsweise die Sehschwäche, die Blendempfindlichkeit, das schlechtere Hören und die damit verbundene Schwierigkeit, sich bei lauten Hintergrundgeräuschen in halligen Räumen noch zu verständigen. Wenn die eingeschränkte Mobilität, die verlangsamte Reaktionsfähigkeit, das erhöhte Sicherheitsbedürfnis oder sogar der Abbau der kognitiven Leistungsfähigkeit durch Demenz einfach ignoriert wird, dann wird der Begriff des »Brutalismus« in der Architektur mit einem ganz neuen Sinn erfüllt und man muss sich ernsthaft fragen, ob wir als Architekten unserer sozialen Verantwortung noch gerecht werden.
Wenn sich (so geschehen vor einigen Jahren bei einem Pflegeheimprojekt in Berlin), ein Star-Architekt aus städtebaulichen Gründen erfolgreich weigern kann, zwei Teile einer Pflegeeinrichtung ebenerdig miteinander zu verbinden und schwer verwirrten Menschen damit zumutet, ihren Weg von einem Haus ins andere durch den Keller zu suchen, dann stimmt etwas nicht mit der Ethik dieses Berufs.

Es ist möglich – und der geneigte Leser möge die in diesem Heft dokumentierten Projekte daraufhin kritisch prüfen – ambitionierte Architektur und Verantwortung für verwundbare Menschen miteinander zu verbinden. Es ist möglich, eine Architektursprache zu entwickeln, die auf unauffällige, nicht stigmatisierende Weise die altersbedingt reduzierte Leistungsfähigkeit kompensiert und Sicherheit vermittelt, und gleichzeitig eine Fülle von Anregungen ohne Überforderung bietet.

Es wird dann allerdings nötig, ein Gebäude so auszubilden, dass Orientierung leicht fällt. Dies führt nicht zwangsläufig zu sturen, undifferenzierten Grundrissen, sondern kann durch unterschwellig wirkende räumliche Führung, besonders gestaltete Orte, die als »Landmarken« wirken und durch Blickbezüge zu Referenzpunkten nach außen erreicht werden. Hinweistafeln sind nur dann hilfreich, wenn auf den so elegant wirkenden »Silber auf Glas-Look« verzichtet wird und stattdessen große, kontrastreiche, gut lesbare Schilder in Augenhöhe angebracht werden.

Es wird auch immer wichtiger, bei der Licht- und Farbgestaltung die altersbedingten Einschränkungen des Sehens zu berücksichtigen und nicht nur den Geschmack des Architekten oder Bauherrn. Dann würden die beliebten Allzwecklösungen mit »Down-Lights« abgelöst werden von einer differenzierten Lichtgestaltung mit hohem Anteil an blendfreiem indirekten Licht, ergänzt um eine Modulation der Lichtfarbe und Intensität, die sich auf die Stimmung und den Tag-Nacht Rhythmus von Pflegeheimbewohnern positiv auswirkt.
Es würden kräftige Farben eingesetzt werden, die auch vom gealterten Auge noch gut wahrgenommen werden können, mit Farb- und Helligkeitskontrasten, wo etwas gut erkennbar sein soll. Der Architekt würde mit Tränen in den Augen, aber mit gutem Gewissen auf voll verglaste Türen verzichten, an die der verzweifelte Nutzer später neckische Scherenschnitte kleben muss, um Unfälle zu verhindern.

Es würde in Pflegeheimen auch keine Flure mit Verglasungen bis zum Boden mehr geben, die für viele Ältere eher Unsicherheit erzeugen, als Geborgenheit vermitteln und in denen bei Nacht von der Straße aus demenzkranke Menschen im Nachhemd besichtigt werden können. Treppen in Pflegeheimen hätten Setzstufen und sicher anmutende Geländer – nicht nur dünne Stahlseile –, sie würden an einer Wand entlang geführt werden und Sicherheit vermitteln – und nicht wie eine Flugzeugtreppe frei in den Raum ragen.

Bei der Innenraumgestaltung insbesondere der Materialwahl würde nicht nur die visuelle Wirkung eine Rolle spielen, sondern auch die anderen Sinne angesprochen werden und bei der Materialwahl würde auch der haptische Reiz oder – wie exotisch – der Geruch eine Rolle spielen.

Ein Flur im Pflegeheim wäre dann nicht von einer kafkaesk anmutenden, monotonen Ansammlung von Türen geprägt – die vom Personal in seiner Hilflosigkeit mit Ährenkränzen geschmückt wird – sondern ein räumliches Erlebnis, weil zum Beispiel die Form der Wände das Ausschreiten dynamisch begleiten, den Raum mit Farbe und Licht strukturieren und sich immer wieder Ruhepunkte mit attraktiven Blickbezügen anbieten.

Bei Preisgerichten würden nicht nur Sach- und Fachpreisrichter, sondern auch Senioren als Interessenvertreter der künftigen Nutzer mitreden, für die es eine wesentliche Rolle spielen dürfte, ob die Architektur für das neue Pflegeheim irgendeine Assoziation zu einem Wohnhaus zulässt, in dem man den Rest seiner Tage verbringen möchte. Dann wäre auch wichtig, ob die Innenraumgestaltung so offen ist, dass ein Stückchen persönlicher Aneignung möglich ist oder sogar nahe gelegt wird, und sei es durch ein Hirschgeweih am Lieblingsplatz des passionierten Jägers.

Die Architektur von Pflegeeinrichtungen und Wohnanlagen würde dann mehr Bezug nehmen zu aktuellen fachlichen Entwicklungen in der Altenhilfe, die schon lange von den institutionell geprägten Konzepten weg gekommen sind und kleinräumige Wohnformen bevorzugen. Es würde sich eine Typologie entwickeln, die weniger spektakulär, weniger von architektonischen Leitkonzepten geprägt ist und es würde das Bemühungen deutlicher werden, Wohnorte für ältere Menschen zu einem ganz normalen Stück Heimat zu machen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Architektur + Wettbewerbe

Ansprechpartner:in für diese Seite: Arne Barthaw[at]kraemerverlag.com

Tools: