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Tel Aviv
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zur Zeitschrift: Hintergrund
Herausgeber:in: Architekturzentrum Wien

Die „Weiße Stadt“ von Tel Aviv

26. März 2008 - Ita Heinze-Greenberg
Die White City of Tel Aviv steht seit Sommer 2003 auf der UNESCO-Liste des Weltkultur- und Naturerbes der Menschheit. Bis dato standen nur zwei bzw. drei Objekte in Israel auf der insgesamt 628 Kulturdenkmäler zählenden Liste: die Altstadt von Akko, die archäologische Stätte Masada sowie auf Vorschlag Jordaniens die Altstadt und die Stadtmauern von Jerusalem. 2005 sind zwei weitere archäologische Stätten hinzugekommen. Mit der Weißen Stadt Tel Avivs ist ein Stadtensemble der Moderne aufgenommen worden – bislang durchaus noch eine Rarität auf der UNESCO-Liste. Die Eintragung des circa 140 ha großen dicht bebauten Gebietes im Zentrum der Mittelmeermetropole basiert auf der Erfüllung von zwei (Criterion ii und Criterion iv) der insgesamt sechs Aufnahmekriterien für Kulturgüter, welche besagen: „Das Objekt hat während einer Zeitspanne oder in einem Kulturgebiet der Erde beträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung der Architektur, der Großplastik oder des Städtebaus und der Landschaftsgestaltung ausgeübt“ und „ist ein herausragendes Beispiel eines Typus von Gebäuden oder architektonischen Ensembles oder einer Landschaft, die (einen) bedeutsame(n) Abschnitt(e) in der menschlichen Geschichte darstellt.“ Die Nominierungserklärung unterstreicht denn auch mit Nachdruck die als bedeutungsvoll herausragende Synthese verschiedenster Trends der Moderne und ihre Adaption an lokale geographische wie kulturelle Bedingungen: „Tel Aviv wurde 1909 gegründet und entwickelte sich unter dem Britischen Mandat (1920-1948). Die Weiße Stadt wurde ab den frühen Dreißigern bis 1948 gebaut. Basierend auf dem Stadtplan von Sir Patrick Geddes reflektiert sie moderne organische Planungsprinzipien. Die Bauten wurden von jüdischen Architekten entworfen, die in Europa ausgebildet wurden und dort praktizierten, bevor sie nach Palästina – Eretz Israel – auswanderten. Sie schufen ein herausragendes architektonisches Ensemble der Moderne in einem neuen kulturellen Kontext.“

Tel Aviv feierte die Aufnahme in die UNESCO-Liste mit Konferenzen, Ausstellungen, Straßenparties und beachtlichem Medienrummel. Die Journalisten kürten die Stadt zur größten „Bauhaus“-Stadt der Welt, unbeirrt von sachten bis deutlichen Hinweisen der Architekturhistoriker, doch den korrekten Umgang mit Begriffen und Bezeichnungen zu pflegen. Der damalige Tourismusminister Benyamin Elon von der rechtsgerichteten Moledet-Partei frohlockte: „Die Schaffung der Stadt Tel Aviv ist eines der stärksten Symbole für den Erfolg der zionistischen Bewegung. Dass ausgerechnet die UNESCO, die doch mit jener Organisation affiliert ist, die einst die abscheuliche Zionismus-Rassismus-Resolution verabschiedet hatte, die Besonderheit Tel Avivs anerkennt, ist von spezieller Wichtigkeit.“ Auch der linke Flügel meldete sich zu Wort und begann, am Mythos der auf Sand gebauten Weißen Stadt zu rütteln. Dies gipfelte ein Jahr nach dem bejubelten Listeneintrag in der Publikation White City, Black City, mit welcher Sharon Rotbard, Architekt und Dozent an der Jerusalemer Bezalel Kunstakademie, seine postzionistische Sicht auf Tel Aviv vorlegte. Was bei der durch die UNESCO gekrönten Erfolgsgeschichte der Weißen Stadt mitschwingt, ist seiner Meinung nach nicht etwa ein Loblied auf die gute, einfache Architektur, sondern das Bestreben, Tel Aviv von seinem politisch-historischen Kontext zu isolieren, die Stadt in eine aristokratisch europäische Zone zu transformieren, und sie, von der Geschichte des arabischen Jaffa losgelöst, als hygienisch reines, ja steriles Gebiet zu konservieren.

Solche Töne sind durchaus nicht neu. Tel Aviv stand von jeher im Fokus des zionistischen Diskurses und im Kreuzfeuer der Kritik. 1909 von sechzig jüdischen Familien als Gartenvorort der alten arabischen Stadt Jaffa gegründet, war die Stadt bis zur Eingemeindung Jaffas 1950 eine ausschließlich jüdische Stadt, in der jeder Bäcker, jeder Polizist, jeder Straßenarbeiter, jeder Lehrer, jeder Maurer jüdisch war. Das war damals etwas Besonderes und einmalig in der Welt. Thomas Mann, der die Stadt 1930 besuchte, nach einem Aufenthalt in Ägypten, wo er Studien für seinen Josephsroman anstellte, schrieb: „Ich habe die junge Stadt Tel Aviv besucht, jene rein jüdische Stadt, wo das Judentum wie nirgends sonst sich eines Selbstbewusstseins seiner unabhängigen nationalen Existenz erfreut.“

Der Name „Tel Aviv“ bedeutet wörtlich übersetzt „Frühlingshügel“. So hatte der Dichter und Schriftsteller Nahum Sokolov poetisch den Romantitel von Theodor Herzls 1902 in Leipzig erschienener zionistischer Utopie Altneuland ins Hebräische übersetzt. „Tel“ ist ein Grabungshügel und als solcher Zeichen für die Überreste alter Siedlungen, „Aviv“ bedeutet „Frühling“, symbolisiert also Neuanfang. Tel Aviv wurde mit der Zielvorgabe gegründet, sich an die Realisierung der Herzlschen Zukunftsvision zu begeben. Die Genese dieser Stadt stand daher ganz unmittelbar im Spannungsfeld der Debatten über die Ziele des Zionismus. Als erste jüdische Stadt – ab 1923 mit jüdischer Selbstverwaltung – präfigurierte sie den autonomen jüdischen Staat. Tel Aviv war das Labor der Unabhängigkeit.

Die kleine Ansiedlung in den Sanddünen entwickelte sich schon bald nach ihrer Gründung zum Anlaufpunkt von Einwanderern, die sie in immer neuen Wellen überschwemmten und sie in wildem Wachstum rasant anwachsen ließen. Bebauungspläne hinkten entweder der Realität hinterher oder waren zu anspruchsvoll, um vor der Realität Bestand zu haben. War die Wachstumsrate vor dem ersten Weltkrieg noch überschaubar, so änderte sich das mit der vielversprechenden Balfour Deklaration von 1917 und der 1920 folgenden Mandatsübernahme der Briten. Zehntausende vorwiegend aus Osteuropa stammende Einwanderer kamen ins Land, von denen sich viele in Tel Aviv ansiedelten. Der junge Arthur Koestler, als Palästina-Korrespondent des Ullstein-Verlages tätig, schrieb damals: „In den frühen Zwanzigerjahren breitete sich die Stadt dann mit wachsender Geschwindigkeit längs des Strandes aus. Sie wuchs mit jeder Einwanderungswelle in Sprüngen und Stößen – eine über die Dünen ins Land vorstoßende Asphalt- und Betonflut. Zum Planen hatte man weder Zeit noch Lust; Wachstum war fieberhaft und anarchisch wie das der tropischen Pflanzenwelt. Jeder Neuankömmling baute aus seinen mitgebrachten Ersparnissen das Haus seiner Sehnsucht, [...] ein wüstes Labyrinth von engbrüstigen Balkonen und bröckelnder Stukkatur.“

In der Regel war das Bild vom ersehnten Traumhaus vorgeprägt durch die Architektur der besseren Gesellschaftsschicht jenes Landes, das die Einwanderer verlassen hatten. Das Tel Aviv der Zwanzigerjahre war ein Spiegelbild der jüdischen Diaspora Osteuropas, bestens reflektiert in seinen zeitgenössischen Spitznamen „Klein Odessa“ und „Klein Warschau“. Schon der Altvater des Zionismus Herzl hatte die Psyche der Immigranten gut eingeschätzt, als er versprach: „Man trennt sich nicht von seinen lieben Gewohnheiten, sondern findet sie wieder.“ In seinem Zukunftsroman Altneuland schildert er ein Palästina unter jüdischer Kontrolle – aufgebaut von einem Team aus hundert jungen Architekten und Bauingenieuren, die als frische Studienabgänger von den Technischen Hochschulen der Schweiz, Österreichs und Deutschlands kamen; und zwar ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts: hochkarätige Ingenieurleistungen in historistisch-eklektizistischen Gewändern. Schon damals erntete sein völlig westlich assimiliertes Konstrukt, dieses Europa in Asien, harsche Kritik aus den eigenen Reihen, insbesondere von den sogenannten Kulturzionisten mit Achad Haam und Martin Buber an der Spitze. Doch Herzls Fraktion des politischen Zionismus verteidigte ebenso vehement das Primat der westlichen Kultur: „Wir werden nie zugeben, daß die Rückkehr der Juden in das Land ihrer Väter ein Rückfall in die Barbarei sei. Seine Eigenart wird das jüdische Volk innerhalb der allgemeinen westlichen Kultur entfalten, wie jedes andere gesittete Volk, nicht aber außerhalb, in einem kulturfeindlichen, wilden Asiatentum.“

Die Frage, in welcher Form neue jüdische Identität im alten Land Gestalt gewinnt, löste Diskurse aus, die bis heute unter verschiedensten Prämissen geführt werden. Mit der Revitalisierung der hebräischen Sprache gelang den Kulturzionisten ein entscheidender Sieg in der Auseinandersetzung um eine auf eigenen nationalen Traditionen fußende semitische Identität. Analog der Fragestellung: In welcher Sprache sprechen wir? stellten sich die Architekten des zionistischen Projekts die Frage: In welchem Stil bauen wir? Die Antwort gestaltete sich hier jedoch ungleich schwieriger. Hinsichtlich einer nationalen Formensprache mangelte es sowohl an einer hierfür notwendigen gewachsenen Verbindung zum Land als auch an Orientierungsbeispielen erhaltener historischer Bauten aus der Zeit der alten Hebräer. So waren die Verfechter des kulturzionistischen Ansatzes bei der Suche nach einer Identität schaffenden Architektur auf lokale semitisch-arabische Vorbilder angewiesen. Dies jedoch beinhaltete a priori Konfliktstoff. Der Umweg über die Rezeption arabischen Kulturgutes rückte die Akkulturation an die eigene Vergangenheit nahe an eine kulturelle Konversion. Von vielen Juden wurde dies abgelehnt, weil es letzten Endes einer neuen Assimilation gleichkäme, bzw. einer Banalisierung als rein folkloristische Attitüde. Davon abgesehen galt die arabische Architektur in Palästina – mit wenigen Ausnahmen – in den Augen der jüdischen Neueinwanderer durchweg als primitiv und unkultiviert. Der Wunsch, sich davon abzusetzen und Eigenes zu zeigen, überwog die Bestrebungen eines Dialogs mit dem Genius Loci.

Um Tel Avivs rasante bauliche Entwicklung in überschaubare Bahnen zu lenken, hatte die britische Mandatsregierung bereits 1921 einen Masterplan verlangt. Dieser wurde unter großem Zeitdruck von dem gerade ins Land gekommenen, an der TH München unter Theodor Fischer ausgebildeten Richard Kauffmann erstellt. Doch scheint sein Bebauungsplan bereits überholt gewesen, bevor er implementiert werden konnte.

1925 trat der Tel Aviver Stadtrat an den schottischen Biologen und Stadtsoziologen Sir Patrick Geddes mit dem Auftrag eines neuen Leitplanes heran, der den damals 30.000 Einwohner zählenden Ort zu einer Stadt von 100.000 Bewohnern vergrößern sollte. Geddes, der mit dem Land bereits durch Planungen für die Hebräische Universität in Jerusalem und für neue Wohnviertel in Haifa vertraut war, verbrachte in der Folge zwei Monate in Tel Aviv zwecks intensiven Studiums der örtlichen Gegebenheiten. Wichtigste Charakteristika seines Bebauungsplans waren ein fein abgestimmtes, hierarchisch gestuftes Straßennetz, das von breiten Hauptstraßen bis zu ruhigen Wohnstraßen reichte, sowie die Einführung sogenannter home-blocks. Innerhalb dieser meist aus Zweispännern gebildeten Wohnblocks befanden sich halböffentliche Einrichtungen wie Kindergärten oder Waschräume, sowie gemeinschaftliche Grünanlagen. Rasen-, Tennis- oder Spielplätze sollten durch Rosen und Wein überwachsene Passagen – rose and wine lanes – miteinander verbunden werden. Diese über Nachbarschaftseinheiten geschaffene soziale Infrastruktur machte sicherlich die Stärke des Geddes-Plans aus. Einige dieser Wohnblöcke wurden in den Dreißigerjahren erfolgreich im Bereich des sozialen Wohnungsbaus (Meonot Ow’dim und Sh’chunot Poalim) umgesetzt. Sie bestehen zum Teil bis heute und zeugen noch immer von einer hohen Wohnqualität. Der Geddes-Plan wurde in der Folge Grundlage für die urbane Entwicklung der „Weißen Stadt“.

Die im Geddes-Plan einkalkulierte Bevölkerungszahl von 100.000 erreichte Tel Aviv schneller als gedacht, denn aus dem Strom der Immigranten wurde nach 1933 eine Flut. 1932 noch 60.000 Einwohner zählend, verdoppelte sich diese Zahl innerhalb von nur drei Jahren auf 120.000. Unter den aus Mitteleuropa, hauptsächlich Deutschland, stammenden Einwanderern befanden sich auffallend viele, meist junge Architekten. Sie versprachen sich ein großes Betätigungsfeld im Rahmen des Aufbaus der Nationalen Jüdischen Heimstätte und taten sich daher leichter mit der Entscheidung für eine Auswanderung nach Palästina als Berufsgruppen, die auf Sprache und Schrift angewiesen waren und daher englischsprachige Länder bevorzugten. Die meisten der zwischen 1932 und 1939 ins Land kommenden Architekten waren an renommierten europäischen Architekturschulen ausgebildet. Die deutschen Technischen Hochschulen in Berlin-Charlottenburg, München, Darmstadt, Stuttgart standen hier an der Spitze, gefolgt von den Architekturschulen in Paris und Wien. Acht Architekten hatten unter Walter Gropius, Hannes Meyer und Ludwig Mies van der Rohe am Bauhaus in Dessau studiert.

Der prominenteste unter den Bauhausschülern war zweifelsohne Arieh Sharon. 1900 im polnischen Jaroslav geboren, wanderte er als junger Mann nach Palästina aus, wo er sich zusammen mit anderen jüdischen Pionieren für das Leben in einem Kibbuz entschloss. Hier übernahm er die Verantwortung für die Planung und Ausführung von landwirtschaftlichen Bauten. 1926 entschloss er sich zu einem Studium im Ausland und ging ans Bauhaus nach Dessau, wo er unter Gropius und Meyers Ägide Architektur studierte. 1929 heiratete er Gunta Stölzl, die Leiterin der Bauhaus Webwerkstatt. Von 1929 bis 1931 stand er Hannes Meyers Berliner Baubüro vor. 1932 ging Sharon nach Palästina zurück, eröffnete in Tel Aviv sein eigenes Architekturbüro und wurde zu einem der führenden Architekten und Planer des Landes.

Bei seiner Rückkehr hatte er für die junge jüdische Stadt Tel Aviv nichts als desillusionierte Worte übrig: „Ich erinnere mich, als ich nach sechs Jahren Abwesenheit vom Bauhaus zurückkam, schlenderte ich durch Tel Aviv und war von ihrer Architektur sehr deprimiert. Nach Berlin, das in den späten Zwanzigern die lebendigste Stadt der Welt war mit ihren Beiträgen zur Literatur, den Künsten, dem Theater und der Architektur, war Tel Aviv ein Schock.“ Zusammen mit anderen „Leidensgenossen“ machte sich Sharon in den folgenden Jahren daran, Tel Aviv in eine Weltstadt zu verwandeln. In Anlehnung an die Berliner Architektenvereinigung „Der Ring“ gründeten sie den „Chug“ (hebr. Ring), in dem sich die junge Tel Aviver Architektengeneration zusammenschloss: Ze’ev Rechter und Sam Barkai, beide kamen gerade als überzeugte Corbusianer aus Paris zurück, Carl Rubin und Joseph Neufeld hatten bei Erich Mendelsohn in Berlin gearbeitet, Chlenov war ein Pariser Beaux-Arts Student, Lindheim kam aus den USA, und viele mehr, die fast alle Auslandserfahrung bei der zeitgenössischen europäischen Avantgarde mitbrachten. Journalistisches Sprachrohr des Chug war die einige Zeit von Julius Posener editierte Zeitschrift HaBinjan (hebr.: der Bau).

Posener selbst traf im Herbst 1935 in Palästina ein und ließ sich nach einem kurzen Intermezzo in Erich Mendelsohns Jerusalemer Büro in Tel Aviv nieder. Im Koffer hatte er ein Empfehlungsschreiben Le Corbusiers, welches ihm erlaubte, in dessen Namen Aufträge zu akquirieren. Dazu kam es offenbar nicht, aber Posener antwortete den guten Wünschen, die ihm Le Corbusier mit auf den Weg gegeben hatte, mit einer ausführlichen Beschreibung seiner ersten Eindrücke vom Land. Bezaubert vom magischen Licht des Orients schwärmte er von der Schönheit der Natur, wobei er Le Corbusier an eigene Erfahrungen erinnerte: „Ich habe viel an Sie gedacht bei der Betrachtung dieser Landschaft, die ich nach manchen Ihrer Zeichnungen aus Algier wiederzuerkennen meinte.“ Von der modernen Architektur Zions wusste Posener jedoch nur Enttäuschendes zu berichten: „In Tel Aviv drängen sich die Mietshäuser auf Grundstücken von 15 mal 50 m, gehen auf enge, staubige Straßen hinaus; aber all dies ist ‚modern’. Eckfenster, Betonplatten zum ‚Schutz’ von ich weiß nicht was, allenfalls zum Schutz der ästhetischen Theorien ihrer Architekten; zu breite, zu niedrige Fenster, brutale Öffnungen, durch die das Licht abrupt in die Schlafzimmer fällt, statt wie in Frankreich durch irgendeine ‚Vorrichtung’ zwischen der Lichtquelle und dem Inneren gefiltert zu werden. Beim Anblick eines Hauses kann man sagen: Dein Architekt hat 1926 Stuttgart (oder Breslau) verlassen. Er ist bei diesem letzten Schrei von vorgestern geblieben. Er hat nie geahnt, dass Palästina nicht Schlesien ist und dass es bei gewissen Problemen der Architektur seit 1926 einen Fortschritt gegeben hat.“ Posener bezieht sich hier vermutlich auf die beiden Werkbund-Ausstellungen in Stuttgart-Weißenhof von 1927 und Breslau von 1929 oder möglicherweise auf die beiden Warenhäuser, die Mendelsohn 1927 bzw. 1928 in Stuttgart und Breslau fertigstellte. Man meint überhaupt aus seinen Sätzen Mendelsohn herauszuhören, der nie einen Hehl aus seiner ablehnenden Meinung über die deplazierten Kopien schlechter europäischer Moderne in Tel Aviv machte. Allerdings war es auch der Abfall aus seiner eigenen Formelwerkstatt – die dynamischen Ecklösungen und Treppenhäuser – die er in Tel Aviv wiederfand. Das kränkte ihn, eben weil die Nachahmung möglich war. Er selbst meinte, man müsse in Palästina anders bauen und predigte eine Synthese aus „östlicher Weisheit und westlichem Wissen“, von der er meinte, sie sei „ein Betätigungsfeld, das dem ganzen Land mehr zugute kommt und menschenwürdiger ist als aller nationalistischer Übermut.“ Die neue jüdische Hauptstadt empfand er als Fremdkörper: „Tel Aviv schneidet sich selbst vom arabischen Hinterland ab und entwickelt sich zu einem hundertprozentig jüdischen Geschäftszentrum mit einem eigenen Hafen, eigener Sprache, eigener Kleidung. Es wird zu einer Enklave inmitten der arabischen Welt, die eine Vereinigung anstrebt.“

Mendelsohn gab seiner negativen Haltung gegenüber der rein westlich ausgerichteten Metropole Tel Aviv Ausdruck durch die Wahl seines eigenen Domizils: Er bezog eine alte arabische Windmühle in Jerusalem. In seiner Architektur versuchte er über die Verarbeitung von Elementen aus der lokalen Bautradition seine propagierte Ost-West-Synthese umzusetzen. Posener bemerkte dazu, Mendelsohn habe sich – ganz wie einige andere seiner Jerusalemer Architektenkollegen – in die arabische Architektur verliebt. Seine Bauten in Palästina bewertete er letztlich als hybride Strukturen.

Im Rückblick hat Posener seine Meinung über die Tel Aviver Moderne revidiert. Er beurteilte sie weitaus positiver als noch in seinem Corbusier-Brief. Dazu mögen ihm seine Erfahrungen als Chefredakteur von HaBinjan verholfen haben, die ihm eine Innenansicht gewährten. Wenn er in späteren Jahren über die moderne Architektur sprach, die damals in der jungen Mittelmeermetropole entstand, so verwies er gerne auf die glückhafte Fügung, die die Neueinwanderer aus Deutschland und Mitteleuropa mit dem Neuen Bauen verband, und unterstrich dies stets durch eine Geste sich ineinander verschränkender Finger. Er meinte damit, dass zwischen den Flüchtlingen und der vom Faschismus diskreditierten Moderne so etwas wie eine gegenseitige Solidaritätserklärung in einer neuen Heimat entstand. Und dass die modernen Bauten in Palästina – wie die Migranten – gleichsam von Europa zu ihrem Ursprung, zu ihren mediterranen Wurzeln zurückgeführt wirkten.
Zweifellos gab der pragmatische Funktionalismus der modernen Architektur den Tel Aviver Architekten eine Art Leitlinie an die Hand, die sowohl wirtschaftlich adäquate als auch ästhetisch befriedigende Lösungen für den Aufbau des Landes und ihrer neuen Stadt parat hielt. Dass unter den äußeren Zwängen der in den Dreißigerjahren dramatisch ansteigenden Wohnungsnachfrage für Flüchtlinge und der technisch noch unterentwickelten Bauindustrie des Landes einige Errungenschaften und Qualitäten der Moderne auf der Strecke blieben, dürfte nicht weiter verwundern. So vermisst man vor allem bei den Innendispositionen der Wohnungen die revolutionären Ansätze des offenen Grundrisses eines Mies van der Rohe oder Le Corbusier.

Die zweckorientierte, rationale moderne Architektur passte ins Konzept einer zionistisch-sozialistischen Ideologie, die auf die Formung des Neuen Menschen, den Neuen Israeli, abzielte. Ihn galt es aus der multikulturell geprägten Masse der einwandernden Diaspora-Juden herauszuschälen bzw. neu zu erschaffen. Traditionelle ethnische Kulturwerte des Judentums spielten dabei keine Rolle, sie wurden im Gegenteil bekämpft. Präexistierende Identitätsmodelle bei Immigranten, seien sie nun jüdisch traditionell oder westlich bourgeois geprägt, sollten aufgelöst werden. Gegen die in den Zwanzigerjahren noch vorherrschende eklektizistische Vielfalt setzte das sichtlich geschichts- und traditionslose Neue Bauen eine kulturelle Neutralität, die sich beim Aufbau einer neuen Gesellschaft als gemeinsamer Nenner für alle Einwanderer instrumentalisieren ließ. Anders ausgedrückt: Der zionistischen Vorstellung eines nationalen Neubeginns am Punkte Null kam die ästhetische tabula rasa der Moderne entgegen. Eine Architektur, die sich lediglich an Zweckmäßigkeit orientierte, konnte den Beginn einer neuen Entwicklung markieren, die alle Beteiligten gleichschaltet und eine Basis für eine neue soziale und nationale Identität schafft. Die White City of Tel Aviv wurde zum Sinnbild des nationalen Neuanfangs.

Mit ihrer Eintragung in die UNESCO-Welterbeliste wurde sie als erfolgreiches Modell gekürt. Dies ist in erster Linie der lokalen Denkmalpflege zu verdanken. Über jahrelange wissenschaftliche Recherche und Dokumentation hinaus leistete sie harte Überzeugungsarbeit bei den örtlichen Entscheidungsträgern gegen eine Politik der Abrissbirne. Nur allmählich konnte ein öffentliches Bewusstsein geschaffen werden, das nicht allein archäologische Funde aus der Zeit König Davids und Salomons als erhaltenswert ansieht, sondern sich der Erkenntnis öffnet, dass das moderne Israel selbst bereits schützenswerte Kultur vorzuweisen hat.

Die Wertschätzung des physischen, des baulichen Erbes ist in Israel eine relativ junge Entwicklung, die vielfach noch in den Kinderschuhen steckt. Wenngleich die Vergangenheit im Judentum grundsätzlich ein Gegenstand der Verehrung ist, so ist die traditionelle jüdische Geschichtsform das Buch – das, was Heinrich Heine das „portative Vaterland“ nannte. Im modernen Israel sind nun Bauten, Siedlungen und ganze Stadtviertel Beleg seiner neuen nationalen Geschichte, seiner Errungenschaften, wie immer man sie bewerten mag, und stehen als Dokumente und Basis eines neuen reflexiven Selbstverständnisses zur Verfügung. Das neue Erbe ist materiell, physisch, das heißt, die neuen Kapitel des großen Buches jüdischer Geschichte sind haptischer Natur – verortet und anfassbar. So heißt eine vor einigen Jahren für den Schulunterricht entwickelte Broschüre der relativ jungen Disziplin der Denkmalpflege in Israel nicht zufällig: „Die Vergangenheit berühren und für das Morgen erhalten.“ Allein die Tatsache, dass der moderne Staat Israel inzwischen ein gebautes kulturell schützenswertes Erbe vorzeigen kann und damit auch ein neues kollektives Gedächtnis schafft, symbolisiert den Anfang einer weiteren Phase innerhalb seiner modernen Geschichte. Für Israels junge Generation, die nach anderen Legitimationsstiftern als Holocaust und Bibel verlangt, bedeutet die Aufnahme der White City of Tel Aviv in die Welterbeliste einen wichtigen Schritt zur Normalisierung des Staates, der ihn als vergleichbar, weil an seinen eigenen Leistungen messbar, und damit gleichwertig in die internationale Völkergemeinschaft aufnimmt. Der israelischen Denkmalpflege steht nun die vielleicht schwerste Aufgabe bevor, denn mit der Annahme der Eintragung als universelles Kulturgut sind konservatorische Auflagen in Verantwortung der Welt gegenüber verknüpft.

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Für den Beitrag verantwortlich: Hintergrund

Ansprechpartner:in für diese Seite: Martina Frühwirthfruehwirth[at]azw.at

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