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Radikale Architektur
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Land ohne Avantgarde

20. April 2008 - Thilo Hilpert
Zwei Bücher, die in diesem Februar ausgiebig in der Presse besprochen worden sind, formulieren widerstreitende Positionen zur Rolle des Jahres 1968 für die Kultur des Nachkriegsdeutschlands, die auch bedeutsam sind für die Beurteilung der Nachkriegsarchitektur in ihrem Verhältnis zur Moderne. Dabei handelt es sich um „Rebellion und Wahn“ von Peter Schneider und „Unser Kampf. 1968“ von Götz Aly. Pauschalisiert lässt sich sagen, dass Peter Schneider einer inzwischen verbreiteten, eher positiven Betrachtungsweise folgt, die diese Jahre als längst überfälligen Bruch mit einem verschleppten Konservativismus sieht, der sich eine Kontinuität zur Nazizeit nicht mehr eingestehen wollte. Dagegen sieht Götz Aly die Rolle dieses Kulturbruchs eher überbewertet, weil Modernisierung schon zuvor begonnen habe unter dem Schutz eines „Heilschlafs“, in den eine überdrehte Generation versetzt worden war. Aber Skepsis ist angebracht angesichts der Ungenauigkeiten seiner Aussagen. Denn die Art des radikalen Erwachens aus dem „Heilschlaf“ der 50er und 60er Jahre traf vor allem die niedergehaltenen Zöglinge der Heilanstalten selbst, die ohne brauchbare Traditionen dastanden, die alles neu lernen mussten wie den aufrechten Gang in den Künsten.

Gerade die einst wilde Fraktion des „Proletkults“ oder der „Rotzöks“ (Rote Zelle Ökonomie), zu der sich Götz Aly zählt, die damals nur das nackte Klasseninteresse gelten lassen wollte, bekommt es nun hin, die „bleierne Zeit“ zu stilisieren als „Heilschlaf“ und damit der eifernden Abscheu vor Experiment und zersetzender Moderne in der Kiesinger Ära ein nachträgliches Entschuldigungsschreiben auszustellen. Peter Schneider, der sich in seinem Roman von 1973 autobiografisch mit der literarischen Figur des Jakob Michael Reinhold Lenz aus dem 18. Jahrhundert überlagert, steht hingegen für die Suche nach kultureller Kontinuität. Er greift auf eine Figur aus dem Romanfragment von Georg Büchner zurück, die erst wieder in dieser Generation lektürewürdig geworden ist. Die Wiederentdeckung der Literatur des Vormärz, die zeitgleich erfolgt wie unter Architekten das erwachende Interesse für den Konstruktivismus und die „goldenen 20er Jahre“, war doch gerade erst ein Verdienst der 68er-Generation und stützte sich dabei auf solche „Väter“ wie den Weltenwanderer zwischen den Politblöcken, den Germanisten Hans Mayer.

Peter Schneider gehört in seiner Generation zu denen, die sich um die Wiederkehr des Intellektuellen bemühten, den die Kulturrevolutionäre der 68er-Zeit gerade abschaffen wollten („dem Volke dienen“); der Intellektuelle wurde wiederentdeckt als jemand, der zwischen den Zeilen lesen kann; das 1946 von Dolf Sternberger und anderen verfasste „Wörterbuch des Unmenschen“ hatte diesen Begriff verteidigt, den die Nazis zum Schimpfwort gemacht hatten: „In wessen Munde der „Intellekt“ ein Schimpfwort ist – man erinnere sich an die Rede von der „Intellektbestie“! –, der wird, wenn ihm die Macht überlassen bleibt, die Erde wieder „wüst und leer“ machen ...“

Wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Kuhnert, dann gilt Ihnen das Aufkommen und die Selbstbehauptung der Zeitschrift Arch , die mit dem Einschnitt von 1968 entstand, als ein Indiz für die Rolle eines intellektuellen Anspruchs. Eines Anspruchs auf eine konzeptionelle Denkebene, die dem Bauen vorgeschaltet ist und die sich mit Experiment und auch spekulativem Denken in der Kunst überschneidet. Auch um einen über die lokale Begrenzung hinausblickenden Dialog. Also um kommunikative Kompetenz.

Sie fragen zu Recht, warum es in Deutschland in den beiden ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit keine Zeitschrift oder Flugschrift gab, die sich wie anderswo mit konzeptioneller Architektur oder Polemik befasste. Und: ob da nicht eine Ursache zu suchen ist für den Verlust an internationaler Aufmerksamkeit für Architektur von hier, trotz vielem Reden über „Baukultur“.

Die Ciamesen
In Deutschland hatte die Nachkriegsgeneration nicht nur den Elan ihrer Jugend eingebüßt, sondern auch die Erinnerung an die Moderne verloren. Eine Zeitschrift wie BAU, die Otto Renner mit Unterstützung seines berühmten Bruders im Dezember 1947 im Saargebiet (das bis 1960 französisch war) gegründet hatte, blieb eine publizistische Ausnahme, auf wenige Ausgaben beschränkt. Grafisch an den Arbeiten des Bauhausmeisters Herbert Bayer orientiert, machte BAU vor allem mit den Ideen Le Corbusiers bekannt, dessen für Marseille geplante Unité als erster Bau der Moderne nach dem Krieg in Europa ein Zeichen setzte.

Ein Dilemma konzeptionellen Denkens hat sich bei den deutschen Teilnehmern des ersten Kongresses der CIAM 1953 in Marseille schon gezeigt. Die Gruppe ehemaliger Mitarbeiter Ernst Mays, die Sozialdemokraten um Werner Hebebrand, reklamiert für sich ein Erbe der Moderne, ohne es wirklich verstanden zu haben. Hebebrand erfindet später zum Erstaunen aller für sich den Namen „Ciamese“, als er 1959 die Abrisspläne verteidigt, die dem Kaufhaus Schocken von Erich Mendelsohn aus den 20er Jahren gelten. Städtebau ist für ihn ein urbanes Management, das zur Bürostadt Nord in Hamburg führt. Hardt-Waltherr Hämer und Ludwig Leo aus der jüngeren Generation haben noch kein Selbstvertrauen gefunden und hüten sich, in der Zeit des beginnenden Kalten Kriegs ihre Beziehungen zur linken Kultur der 20er Jahre offenzulegen oder gar rassische Verfolgung wie bei Leo einzugestehen. Oswald Mathias Ungers trifft ebenfalls auf distanzierte Aufnahme; Gropius läuft herum, des Deutschen offensichtlich nicht mehr mächtig.

Allein in Berlin gibt es im Umfeld von Max Taut an der Hochschule der Künste in Charlottenburg solche Lehrer wie Eduard Ludwig, Wils Ebert und Georg Neidenberger, die von den Erfahrungen des Bauhaus geprägt sind. Viele Erneuerungstendenzen bis in die 70er Jahre gehen auf den Einfluss dieser Schule zurück.

Als architektonische Qualität findet sich in dieser Zeit vor allem eine Prägung durch die Einflüsse Heinrich Tessenows oder eine Schweizer Handwerklichkeit, die Max Bill als hervorstechende Tugend der Moderne seines Landes bezeichnete. In der Zeitschrift Bauen und Wohnen, die seit Mitte der 50er Jahre eine gemeinsame Redaktion aus Deutschen und Schweizern hat, ist dies laufend dokumentiert worden. Defizite im Nachkriegsdeutschland werden – wie in der Literatur so auch in der Architektur – durch Orientierung an der Schweiz kompensiert: im Westen nach der Gründung der Hochschule für Gestaltung in Ulm 1953 durch die Arbeit von Max Bill und im Osten nach 1956 durch Hans Schmidt, den alten Kommunisten aus der Redaktion von ABC, der Streitschrift von Mart Stam, El Lissitzky und Hannes Meyer (der im Osten zunächst nicht über seine modernen Wurzeln spricht). Was die Schweizer Architektur selbst an utopischen Defiziten hat, oder was ihr als künstlerisch-experimentelle Dimension fehlt, lässt sich einstweilen über Genf und die Einflüsse Le Corbusiers ausgleichen.

Über Jahre leidet die Architektur in Deutschland unter einer doppelbödigen, geradezu irreleitenden Architekturdiskussion, die noch bis in die 70er Jahre die Beiträge von Jürgen Joedicke bestimmt und durchdrungen ist vom Missverständnis eines heroischen Beitrags Hugo Härings in den 20er Jahren als Alternative zur Bauhausmoderne. Alfons Leitl hat als Chefredakteur von Baukunst und Werkform nach 1947 immer wieder mit einem wechselnden Personal von Architekturheroen eine vermeintliche Polarität zwischen organischer Architektur und rationalistischer Architektur zum Epochekennzeichen und zum ausschließlichen Thema der Architekturtheorie erklärt.

In den frühen 50er Jahren steckt dahinter nichts weiter als die Begünstigung des Kirchenbauers Rudolf Schwarz gegenüber dem „Fabrikarchitekten“ Egon Eiermann. Indem Leitl diese Schlüsseldiskussion des ersten Nachkriegsjahrzehnts – in Italien wird sie von Bruno Zevi mit einer echten Rezeption der Moderne verbunden – mit einem eigentlich unpassenden Personal bestückt (einmal ist Poelzig organisch, dann wieder Wright oder Bruce Goff – gegen Mies und manchmal auch Eiermann), dabei aber immer den eigentlichen Organiker Scharoun auslässt, verdeckt er, worum es ihm eigentlich geht – die Positionierung von Rudolf Schwarz als Leitfigur des Wiederaufbaus. Was praktisch bedeutete, dass Leitl nicht nur Scharoun niederhielt, sondern die gesamte Theoriediskussion in einem wenig authentischen Rollenspiel verwirrte.

Immerhin ist Baukunst und Werkform im Westen das Leitorgan für den Aufbau einer Moderne aus den Resten des Werkbunds gewesen. Dabei führte Alfons Leitl eine Blockbildung weiter, die er schon in den ersten Jahren des Faschismus als Redakteur bei der Bauwelt probiert hatte und wobei er – in politischer Nähe zum katholischen Zentrum – den Zusammenschluss von Rudolf Schwarz und Otto Ernst Schweizer mit den Nazis Paul Bonatz und Julius Schulte-Frohlinde zu einer zentristischen Wertemoderne vergeblich propagierte. Darum kann er dann in den frühen 50er Jahren nur wenig entschieden gegen die Umarmungsversuche der Nobelclique im feinen Zwirn, Rudolf Wolters und Friedrich Tamms, aus dem ehemaligen Führungszentrum Albert Speers vorgehen, die den Wiederaufbau im Wirtschaftswunderzentrum Düsseldorf kontrollieren.

Erst in der Diskussion um das Bauhaus 1953 vor dem Hintergrund des gescheiterten Projekts von Mies van der Rohe für das Theater in Mannheim wird dieses verschleppte Unbehagen am Rationalismus der Moderne im Westen offenbar. Als Rudolf Schwarz – kaum zu bremsen durch die Redakteure im Zentralorgan Neue Zeitung der amerikanischen Reedukation – die Bauhausleute wegen ihrer lockeren Sitten und schrägen Architekturauffassungen zur Mitschuld am Kulturterror der Nazis heranzog. Denn in seiner Polemik 1953 ging es nicht nur um Glaskörper, sondern um Wohnen und eine drohende Auflösung traditioneller Familienstrukturen durch das „Kollektiv“ und um konstruktivistische Tendenzen im Bauen, wie sie der ohnehin in Deutschland völlig vergessene Laszlo Moholy-Nagy unterstützt hatte – „man trägt jetzt wieder Wellblech und menschliche Innereien“ (Rudolf Schwarz).

Aber eine für Deutschland besonders wichtige Architekturthematik, die der traditionalistische Moderne Rudolf Schwarz offensiv vortrug, hat damals eigentlich kein wirkliches Forum gefunden. Eigenartig, dass Schwarz kaum für sich einnehmen konnte, wenn er die zerstörten Städte als Thema einer konservativen Architekturauffassung reklamieren wollte, auch in Abgrenzung zu Egon Eiermann, der die Ästhetik der Stunde Null als Chance für die Abrechnung mit den alten wurmstichigen Städten empfand. Die Aversion Eiermanns gegen eine Rolle von Baugeschichte, die in den Entwurf hineinragt, prägt den Fachbereich in Karlsruhe bis heute. Diese in Analogie zur Literatur als „Kahlschlagarchitektur“ benennbare Haltung geht nahtlos in die Schnellstraßenplanungen Ende der 50er Jahre über, wo in Stuttgart im Jahr 1960 der Bau von Erich Mendelsohn mit Billigung Eiermanns weggeräumt wird und in Ostdeutschland wenige Jahre später in Potsdam aus offensichtlich politischen Motiven das Stadtschloss einer Schnellstraße weichen muss (obwohl doch dort nur geringe Fahrzeugdichten fluktuieren).

Es gab in Deutschland keine direkte Auswirkung der Diskussion, die Ernesto Rogers 1959 beim CIAM-Kongress in Otterloo mit den Smithsons geführt hatte über Autobahnschneisen und ihre zerstörerische Wirkung im Stadtbild von London. Die internationale Architekturdiskussion kam also selbst dort nur gefiltert an, wo sie existenzielle kulturelle Themen des Landes reflektierte. Egon Eiermann hat sich nie auf die Angebote der CIAM eingelassen, sie in Deutschland zu vertreten. Wirklich politisch dachte und argumentierte in dieser Zeit eigentlich nur Richard Döcker, der 1928 die Bauleitung der Weißenhof-Siedlung innegehabt hatte, als er sich 1953 für den Aufbau des Glaskubus von Mies als Theater in Mannheim ebenso starkmachte wie 1959 gegen den Abriss des Mendelsohn-Baus in Stuttgart – nach damaligem Verständnis ein Gegenmanifest des organischen Bauens zum Rationalismus von Mies.

Motion without Vision

Vergleicht man die Architektur- und Kunstdiskussion bis zum Ende der 50er Jahre einmal nur mit der in England, dann sind die Unterschiede augenscheinlich – Ausstellungen, Vorträge, Bücher; die Independent Group in London. Auch der Einfluss von Emigranten wie Nikolaus Pevsner und Arthur Korn auf Theorie und experimentelle Orientierung gehörte dazu. Das Buch „Vision in Motion“, das posthum in Chicago über die Arbeit Moholy-Nagys erschienen war (und das sich in Deutschland nicht einmal in der Bibliothek der Hochschule für Gestaltung in Ulm fand), war in London das einflussreichste Werk visueller und gedanklicher Inspiration. Die Ausstellung Theo Crosbys von 1956 „This is Tomorrow“ war auch durch die Typografie des Katalogs ein Ereignis. Sein Raumfachwerk als Pavillon zum Kongress der UIA 1961 in London hätte eigentlich den Delegierten aus beiden Teilen Deutschlands verdeutlichen müssen, was eine konstruktive Neuerung vermag, wenn sie mit den Entwicklungen von Kunst und Typografie verbunden wird. Und nicht nur als konstruktive Leistung zurücktritt wie beim Pavillon „Stadt von morgen“ zur Interbau 1957 in Berlin. Man muss nur einmal die beiden Kataloge nebeneinanderlegen – den aus London von 1956 und den aus Berlin von 1957 – und man hat die Zeit der Stagnation vor Augen, die eine ganze Generation bis nach 1968 noch als Lähmung erfährt.

Wie kompliziert die Konstitutionsbedingungen für eine theoretisch und experimentell orientierte Architektur in Deutschland damals waren, zeigt sich recht deutlich an der 1960 gegründeten europäischen Gruppe GEAM, an deren Entwicklung Architekten aus Deutschland wie Werner Ruhnau, Günter Günschel und auch Frei Otto einen sehr wichtigen und inzwischen vergessenen Anteil hatten. Eckhard Schulze-Fielitz, der nach 1961 mit seiner visionären Raumstadt bekannt wurde, entwarf 1963 zusammen mit Yona Friedman, der zu einer internationalen publizistischen Größe geworden ist, die Brückenstadt über den Ärmelkanal. Man muss seinen Weg ins utopische Denken der Raumstadt, mit der er gegen die Kleinhaussiedlungen polemisiert, als bewusste Distanzierung von der betonten Illusionslosigkeit der Generation der Väter verstehen. Sein Vater wird in den Erinnerungen von Paul Bonatz als ein Nationalsozialist beschrieben, für den sich utopisches Denken verbot, weil es in megalomanen Wahn ausgelaufen war. Visionäres Entwerfen war also der Versuch, auszubrechen aus der Blockade einer ganzen Generation, die das Zukunftsdenken in der Architektur gleichsetzte mit Größenwahn.

Götz Aly hat diese Zeit ohne Träume als Abgrenzung von einem bis zur Entleerung getriebenen Idealismus der faschistischen Bewegung gedeutet. Ausgerechnet die Architekturstudenten in den Jahren nach 1968 wussten die visionären Beiträge Schulze-Fielitz’ nicht zu schätzen und schimpften sie „Technokratie“. Da es in Deutschland keine polemische Publizistik im Umfeld der Gruppe GEAM gegeben hat – so wie Cimaise in Frankreich oder auch die Flugschriften von Archigram in England – hatten die Beiträge der Mitglieder dieser Gruppe hierzulande ziemlich punktuell Wirkung.

Als einziger Intellektueller verfügte Udo Kultermann in dieser Zeit über einen ausgearbeiteten Begriffsapparat, um diese Tendenzen zu verallgemeinern. Von ihm eigentlich hätte der Bildband kommen können zu den visionären Utopisten. Er kannte die Originale der suprematistischen Malerei von Kasimir Malewitsch ebenso wie die Projekte der noch unbekannten japanischen Architektur; mit Oswald Mathias Ungers machte er eine Ausstellung zur „Gläsernen Kette“. Dann, nach einer weiteren Ausstellung 1963 als Leiter des Museums in Mosbroich, die gleichzeitig jungen Künstlern wie Architekten, insbesondere denen von GEAM galt, wurde ihm bedeutet, dass er zwar als Leiter des Museums weiterbezahlt werden würde, aber Ausstellungen von ihm wollte man nicht mehr sehen. Mit seiner Übersiedlung in die USA 1964 verschwinden seine theoretischen Beiträge aus der deutschsprachigen Architekturpresse.

Wenn man das Intermezzo von Joseph Ryckwert 1958 in Ulm richtig versteht – seine Beiträge zu „Meaning and Building“, die weder in der Zeitschrift der Hochschule noch beim Schweizer Werkbund erscheinen können –, dann versteht man das Ausmaß einer vertanen historischen Chance.

„Heilschlaf“ oder „unter Quarantäne“ oder ganz einfach nur „örtlich betäubt“? Der Heilschlaf, so es ihn denn gegeben hat, ist Mitte der 60er Jahre, als Hans Filbinger die Schließung der Hochschule für Gestaltung in Ulm betreibt, in eine Phase eingemündet, die – im späteren Wortschatz der Studenten gesprochen – ganz einfach Repression war. Heute bedarf es geradezu archäologischer Akribie, um die verschütteten Diskussionen in Deutschland, die sehr wohl mit internationalen Diskussionen korrespondieren, wieder freizulegen. Als in Stuttgart 1967 die erste große Retrospektive zum Bauhaus veranstaltet wurde, waren es Studenten aus Ulm, die – geradezu in einem dem Zeitgeist vorauseilendem Ungehorsam – dem greisen Walter Gropius ein Megaphon aufnötigten, womit er sich recht beherzt für das Fortbestehen der Hochschule für Gestaltung einsetzte.

„Warum rufen Sie nicht gleich nach dem Staatsanwalt, Herr Schmidt?“

Während im Westen mit der Nachkriegsmoderne eine gefilterte Form für den labilen Konsens der Wiederaufbaujahre gesucht wurde, war es für den Osten geradezu charakteristisch, dass sich die führenden Architekten in allen Segmenten des Bauwesens – Edmund Collein, Gerhard Kosel, Richard Paulick, auch Hermann Henselmann, Hanns Hopp, sogar Kurt Liebknecht – damit abfanden, ihre Prägung durch die Moderne der 20er Jahre zu leugnen und allenfalls noch als inhaltliche Füllung für die stilistischen Vorgaben aus Sowjetrussland einzubringen. Insofern war die Entscheidung im Januar 1951, das populäre Denkmal von Mies van der Rohe für Liebknecht-Luxemburg nicht zu erneuern, ein Signal für die zukünftige Entwicklung der Architektur im Osten. Vielleicht war der Architekturstil der frühen 50er Jahre mit den biederen Fassaden der Wiederaufbauprojekte, der Alleen in Berlin oder Rostock, nicht nur eine Konzession an den kleinbürgerlichen Geschmack der Führungskader, sondern auch als einschläfernde Beruhigung benutzt worden, angesichts der radikalen sozio-ökonomischen Veränderungen, die sich vor dem Hintergrund der Zerstörungen in den Städten kaum mit revolutionärem Pathos zelebrieren ließen. Ein solcher „Heilschlaf“ wäre eine weitere Deutungsmöglichkeit für den bis zum Ende der 50er Jahre dominierenden Neoklassizismus.
Auch das, was es an Diskussionen über die Moderne im Osten gegeben hatte, geriet bald in Vergessenheit. Nur einmal, anlässlich der Weltfestspiele der Jugend 1951, hat es eine offen dokumentierte Diskussion gedanklicher Relevanz gegeben, in der Ludwig Renn, Schriftsteller und Offizier der Interbrigaden in Spanien, mutig und ohne Scheu den abstrusen Beiträgen des stilistischen Vordenkers Kurt Liebknecht entgegenhielt – nicht der Klassizismus, sondern das Bauhaus sei das nationale Erbe, an das es anzuknüpfen gelte.
Ansonsten war nur zwischen den Zeilen des offiziellen Organs Deutsche Architektur herauszulesen, dass es auch im Osten zu Diskussionen kam. Kaum dokumentierte Ausbruchsversuche gab es im Anschluss an die beginnende Industrialisierung des Bauens, als 1959 Hermann Exner, ein Schüler Adolf Behnes, sich der politischen Verdächtigungen des stalinistisch erstarrten Altlinken Hans Schmidt und seiner Angriffe auf Bauhaus und Nachkriegsmoderne mit dem Ausruf erwehren musste: „Warum rufen Sie nicht gleich nach dem Staatsanwalt?“

Die Artikulation einer Moderne im Osten zu Beginn der 60er Jahre hat nach der Zeit einer gedämpften Baukultur zwar andere Inhalte und Akzente als im Westen, nahm aber einen ähnlichen Verlauf. Zu Anfang des Jahres 1962 wurde Bruno Flierl Chefredakteur der Deutschen Architektur, die in den ersten zehn Ausgaben so etwas wie den theoretischen Kern für eine Moderne im Sozialismus formulierte. Flierl hatte wie seine Altersgenossen im Westen, Ludwig Leo und Günter Günschel, in den frühen 50er Jahren die gleichen Lehrer an der Hochschule der Künste in Charlottenburg gehabt. Eine Ausgabe berichtete über die Metabolisten und neue urbanistische Tendenzen; ihre gewaltigen Wohnstrukturen wurden mit den Ideen Le Corbusiers für Unités verschmolzen und mit der alten Diskussion um Hauswirtschaft und Kommunehäuser verbunden. René Sanger, der beratender Ingenieur beim Bau des französischen Pavillons 1958 bei der Weltausstellung in Brüssel war, wurde bereits im gleichen Jahr Mitglied der ostdeutschen Bauakademie und vermittelte dort die Grundlagen für die Technologie des Schalenbaus. Der Schalenbau wurde zur Kompensation für die in Ostdeutschland strikt abgelehnte Tendenz zu plastischen Architekturvolumen im Sinne einer organischen Architektur à la Häring und Finsterlin, die sich gleichzeitig im Westen regte.

Schon 1963 verebbt der programmatische Impuls, den Bruno Flierl in die Architekturzeitschrift getragen hatte. Im Jahr 1965 erscheint in Ostdeutschland zwar, von ihm herausgegeben, ein Reprint mit Beiträgen aus dem Organ der Avantgarde ABC aus den 20er Jahren, in dem Hans Schmidt sich nun endlich zu seinen Ursprüngen in der Moderne bekennt; doch das erste informative Buch zum Bauhaus des Kunsthistorikers Lothar Lang, das ebenfalls 1965 in der DDR erscheint, ist nicht in einem Architekturverlag, sondern im Verlag der ostdeutschen Formgestalter publiziert worden.

Obwohl die Orientierung der DDR an der französischen Architektur den Westen Deutschlands mit dem Interesse am industriellen Bauen geradezu übersprang, hat sich im Osten kein Einfluss der französischen Nachkriegskunst wie der Ecole de Paris bemerkbar gemacht. Insofern ist die Behauptung missverständlich, es habe in Ostdeutschland seit Mitte der 60er Jahre eine Wiederentdeckung des Bauhauses gegeben. Denn sie war nicht nur sehr zurückhaltend, sondern auch sehr selektiv, was das Interesse für die Bauhauspädagogik und ihre Förderung von Individualität und individuellem Ausdruck anbelangte. Eine Analyse der Kunstpädagogik in Ostdeutschland für diese Periode ist längst überfällig ...

„Die Agenten der Kulturkritik isolieren“
Lieber Herr Kuhnert, der Rückblick auf den Neubeginn der Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg, bei dem man sich langsam aus der Gegenwart an den Rand der eigenen Jugend herantastet, findet immer einen Einschnitt am Übergang von den 60er zu den 70er Jahren. Nicht, weil sich da nur ein Generationskonflikt entladen hätte, sondern weil es damals international zu einem erwachenden historischen Bewusstsein gekommen ist. Der Begriff der „Politisierung“ gibt nur eine grobe Orientierung, die mit solchen programmatischen Werken wie „Kapitalistischer Städtebau“ aus dem Jahr 1972 von Hans G Helms und Jörn Janssen verbunden ist. Nicht einmal die „Funktionalisten“ haben ihre Kunstpraxis so reduktionistisch definiert. Die Frage ist nun eigentlich, inwiefern eine kritische Architekturtheorie in den letzten Jahrzehnten aus diesen Anfängen heraus zu komplexeren Ansätzen geführt hat und über eine Denunziation experimenteller Praxis in Gestalt von „Agenten der Kulturkritik“ hinausgekommen ist?

Nachdem ich jetzt nochmals die Texte von Peter Neitzke, Jörn Janssen oder auch Jörg C. Kirschenmann gelesen habe, verbietet sich eigentlich der Ausdruck „Kinderkrankheiten“ dafür, denn er wäre eine Entschuldigung für die immer wieder schweigend hingenommene Simplifizierung kultureller Zusammenhänge, die man allenfalls einer pauperisierten Klasse beim Betreten des Elfenbeinturms zugestehen kann. War dieser sich auf „Entlarvung“ und Ideologiekritik beschränkende Ansatz der Anfang zu einer kritischen Architekturtheorie oder ihre Diskreditierung? Jedenfalls war es der spezifisch deutsche Beitrag in einer internationalen Bewegung des erneuten Interesses für Architekturtheorie und die Geschichte der Moderne. Da findet sich in dieser vielgelesenen Schrift eine summarische Bemerkung über die „Alpine Architektur“ Bruno Tauts, bei der man sich schon damals hat fragen müssen, was denn solch gefährlicher Unsinn über den im Exil gestorbenen und auch am meisten vergessenen Architekten der 20er Jahre sollte: „Ein vorzügliches Beispiel für die Korrespondenz zwischen städtebaulichen und faschistisch-monopolistischen Ordnungsvorstellungen geben die Texte und Skizzen jenes unter dem Namen „Die gläserne Kette“ bekannt gewordenen Trutzbundes deutscher Architekten ...“ Oder was sollte die Gleichsetzung von Hans Scharoun mit dem Nazi-Ideologen Alfred Rosenberg, um eine Kontinuität der Nachkriegsmoderne mit der Architektur des Faschismus zu belegen. Insofern muss man Götz Aly bei seiner Schelte (die eine Selbstkritik ist) auf die Generation der 68er Recht geben.

Es gibt nur einen sehr begrenzten Einfluss des ersten Kongresses zur „Architekturtheorie“, den der Lehrstuhl von Oswald Mathias Ungers im Dezember 1967 in Berlin veranstaltete. Der Kongress schloss an die Seminare an, in denen Ungers seit 1964 den internationalen Entwicklungsstand von Entwerfen und konzeptioneller Arbeit zu systematisieren versuchte – durch Kontakte zu Team X, durch Diskussion der Stadttheorie und durch Auseinandersetzung mit den Traditionen Mies van der Rohes; dazu wurde eine ganze Heftreihe publiziert. Bis auf den Beitrag von Julius Posener aber blieben die Vorträge aus Deutschland hinter dem zurück, was Colin Rowe, Reyner Banham oder Kenneth Frampton zum Zusammenhang von Architektur, Kultur und Gesellschaft zu sagen hatten.

Die tieferen Wurzeln für die eigenartig konstruktiv-praktizistische Rollenzuweisung deutscher Architektur in der internationalen Arbeitsteilung hat mit dieser eigenen Gebrochenheit in Theorie und Experiment mehr zu tun als man gemeinhin wahrhaben möchte. Eine Freiheit des künstlerischen Ausdrucks und der sinnlichen Anschauung ließ sich durch sachliche Analyse allein, und sei sie noch so scharf, nicht wiederfinden. Wen wundert es, dass man in New York oder auch Paris den Absolventen solcher Architekturschulen zunächst einmal wenig Neugier entgegenbrachte, auch wenn es manchmal ein zweckbestimmtes Missverständnis war, Architekten aus diesem Land allein eine baukonstruktive Kompetenz zuzubilligen.

Für Günter Günschel, 6. Juni 1928 – 2. Januar 2008

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