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ARCH+ 188
Form Follows Performance
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Anpassungen

28. Juli 2008 - Sabine Kraft
Klimatische Veränderungen haben den Menschen immer große Anpassungsleistungen abverlangt. Seit dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 11.500 Jahren führten Temperaturschwankungen um auch nur wenige Grad zu dramatischen Veränderungen der Lebensbedingungen, in deren Folge ganze Landstriche aufgegeben und neue Wege der Subsistenzsicherung gefunden werden mussten. In prähistorischer Zeit zeigte sich dies besonders deutlich im Wechsel vom nomadischen Dasein in den Wüstenrandgebieten zu einer Besiedlung der Flusslandschaften.[1] Letztlich erzeugte dieser Anpassungsdruck einen gewaltigen Schub in der kulturellen Entwicklung und brachte die frühen solaragrarischen Hochkulturen hervor. Auch die kleine Eiszeit ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die sich bis ins 19. Jahrhundert erstreckte und den Übergang in die Neuzeit markiert, ist in ihren Auswirkungen kaum zu überschätzen. Die Hungersnöte, die sie mit sich brachte, waren einer der Auslöser der französischen Revolution, und die Energiekrise des 18. Jahrhunderts, eine Folge der Holzverknappung, forcierte die Erschließung der fossilen Brennstoffe, eine der zentralen Voraussetzungen für die industrielle Revolution.

Beschäftigt man sich mit der aktuellen Klima-Energie-Problematik, so stimmt der Blick in die Zukunft nicht sonderlich hoffungsfroh – nicht wegen des Klimawandels oder irgendwelcher Endzeitszenarien. Niemand kann bisher die Auswirkungen der klimatischen Veränderungen genau benennen und gegenüber Prognosen ist eine gewisse Skepsis angebracht. Anlass zur Besorgnis gibt die Frage, inwieweit wir auf die anstehenden Anpassungsleistungen vorbereitet sind, oder uns auch nur bewusst ist, dass sie gewaltig sein müssen. Davon zumindest kann man mit Sicherheit ausgehen. Fast alle Faktoren, auf denen unsere heutige Lebensweise beruht, kulminieren krisenhaft mit dem Klimawandel. Wir haben die Fehler des Industrialisierungsprozesses als Zwerge in die Welt entlassen, zurückgekehrt sind sie als Riesen – und diese Fehler müssen offenbar im weltweiten Aufholen der Industrialisierung stets erneut durchlaufen werden. Ein Ende des irreversiblen Verbrauchs von Umwelt und Ressourcen ist kaum absehbar.

Vor diesem Hintergrund war die Arbeit an Heft 184 Architektur im Klimawandel von einem wachsenden Unbehagen begleitet, einem Unbehagen, dass sich irritierenderweise gegen im Einzelnen durchaus sinnvoll erscheinende Maßnahmen der Energieeinsparung und CO2-Reduzierung zu richten schien. Diese Maßnahmen beschreiben jedoch zusammengenommen eine Strategie, die im Wesentlichen auf Effizienzsteigerung beruht. Effizienzsteigerung ist eine Form der Optimierung; das Bestehende wird in seinen Voraussetzungen nicht hinterfragt, sondern allenfalls modifiziert. Eine solche Strategie lässt sich relativ kurzfristig umsetzen, ist jedoch in ihrer Reichweite zwangsläufig begrenzt. Warum also nicht das Eine tun und das Andere nicht lassen. Das Andere bedeutet, Wege aus der Sackgasse jenseits eingefahrener Gleise suchen, über Lösungen von Grund auf nachdenken, weiterführende Fragen aufwerfen, Aufgaben neu definieren. Und damit sind wir bei der vorliegenden Ausgabe.

Auch Form Follows Performance ist vor dem Hintergrund des Klimawandels zu lesen. Beide Hefte sind sich einig in der Unterscheidung zwischen Effizienz und Effektivität, betrachten Architektur bzw. Gebautes von der Kategorie des Verhaltens her und sehen in der Performance von Gebäuden nicht nur eine Funktion von Energiekennzahlen, sondern der sinnlichen Wahrnehmung in ihrer Gänze. Hier aber endet die Ähnlichkeit. Während „Architektur im Klimawandel“ sich auf der Suche nach einer überzeugenden Integration von Raum- und Klimakonzept einen Weg durch das Dickicht der aktuellen Fachspezifik und des überbordenden Spezialistentums bahnt, wird von den Autoren von „Form Follows Performance“, Michael Hensel und Achim Menges, ein eigenes Konzept für genau diese Integration vorgestellt. Dieses Konzept entstand in der Verschränkung von Forschung und Lehre, wobei dem Entwurf ein zentraler methodischer Stellenwert zukommt. Womit haben wir es zu tun? Genau genommen ist es eine Vision, was Architektur sein könnte oder besser: wie sie beschaffen sein sollte, deren grundsätzliche Machbarkeit im Entwurfsprozess mehrfach experimentell getestet wurde. Der Ausgangsgedanke ist ein denkbar einfacher: Die Evolution natürlicher Sys-teme erfolgt in Anpassung an die jeweiligen Umweltanforderungen. Anpassung bedeutet Spezialisierung, sprich Ausdifferenzierung. Diesem Vorgang verdanken wir die unendliche Vielfalt der Arten. Die Menschen gehören z.B. zu der Gruppe der Tetrapoden, der Vierfüßer. Jeder erkennt in den Flügeln des Vogels oder den Flossen des Wals die eigenen Arme, in den Krallen der Raubtiere oder den Hufen der Wiederkäuer die eigenen Finger bzw. Zehen wieder, dazu braucht es keine komplizierten Theorien.

Evolutionäres Entwerfen ist seit rund 15 Jahren, seit dem Aufkommen der Blobs, en vogue. Es dient meist der Erweiterung des formalen Arsenals der Architektur. Die Frage, wie ein Gebäude evolutionär in Anpassung an die äußeren Umstände entstehen kann, wurde nie gestellt. Ganz sicher entsteht es nicht, indem der Computer mit Hilfe genetischer Algorithmen beliebige Formen evolviert, deren Auswahl durch pseudorationale Evaluierungskriterien oder das willkürliche Einfrieren des Prozesses erfolgt, wie Eisenman es einmal erläuterte, und die dann für ihre Materialisierung eines Heers an Spezialisten und Technikern bedürfen. Das hier vorgestellte Konzept grenzt sich entschieden von diesem Missverständnis des biologischen Vorbilds ab. In der Natur gibt es die platonische Trennung zwischen der Form und dem Stoff, aus dem die Form besteht, nicht. Das Hervortreiben von Formen entsteht im Prozess ihrer Materialisierung. Hier beginnt die eigentliche Innovation und hier liegt der Ansatzpunkt für eine in ihre Umwelt eingepasste Architektur, deren Performance aus dem Wechselspiel zwischen äußeren Faktoren und Form gewordener Materialität resultiert.

Nach der ersten Euphorie über die Entschlüsselung des genetischen Codes zeigte sich sehr bald, dass damit noch nicht viel gewonnen ist, solange wir die komplexen physiologischen Prozesse der Umsetzung der Codes nicht nachvollziehen können. Die Natur verfolgt keinen Blaupausendeterminismus, das würde die Entstehung von Neuem in der Anpassung an spezifische Umwelten ausschließen. Im Schlüsselbegriff des Materialsystems, den Hensel und Menges geprägt haben, ist die Simulation solcher physiologischen Prozesse in vereinfachter Form enthalten. Materialsysteme bedeuten einen Maßstabssprung vom Organismus bzw. dem Gebäude auf die Ebene von Strukturen. Natürliche Systeme gewinnen ihre Leistungsfähigkeit, sprich Performance, unter anderem aus der internen Differenzierung von Strukturen. Auch Strukturen sind nichts anderes als im Hinblick auf spezifische Umweltanforderungen Form gewordene Materialität. Dieser Zusammenhang von Form- und Materialwerdung lässt sich auf allen Maßstabsebenen verfolgen, aber Strukturen bieten einen guten Ansatzpunkt für die Übersetzung des Differenzierungsprozesses natürlicher Systeme in die Architektur – und darum vor allem geht es im Konzept von Hensel und Menges. In der strukturellen Differenzierung der raumbildenden Begrenzungen von Gebäuden könnte das neue performative Potenzial von Architektur liegen. Dabei ist weder die direkte Nachahmung eines biologischen Vorbilds noch eine Quasi-Lebendigkeit von Architektur gemeint. Auch das wären fatale Missverständnisse. Die Forschung an diesem Konzept bewegt sich auf einer proto-architektonischen Ebene. Klassische Gebäudeentwürfe stehen noch aus. In dem Sinne handelt es sich wirklich um eine Vision. Es wurde eingangs von den Anpassungsleistungen gesprochen, die der Klimawandel einfordern wird. Was könnte passender sein, als das Nachdenken über eine Architektur, die im Zusammenspiel mit der Umwelt ihre Qualitäten entfaltet?

Ausblick: Mit dem Wettbewerb „Simple Systems, Complex Capacities“ wollen wir, die Redaktion und die Autoren, für eine breitere Diskussion des vorgestellten Konzepts sorgen, und natürlich erhoffen wir uns auch eine Weiterentwicklung dieses Konzepts und Anregungen, die vielleicht von ganz anderer Seite kommen. Außerdem: Zurzeit scheint fast alles losgelöst von den jeweiligen Inhalten Design zu werden bis dahin, dass Design alles ist. Das Konzept von Hensel und Menges steht dieser Haltung diametral entgegen: In der Natur gibt es kein Design, außer für die Anhänger des Creationismus.

Rückblick: Die schwarzen Seiten wurden von Bruno Schindler in ARCH eingeführt. Sie dienten der Untergliederung des Heftes und übernahmen die Aufgabe des kritischen Blicks. Von daher sind sie in einem spezifischen Kontext entstanden, aber ihre Besonderheit: die Argumentation mit Bildern hebt sie auch über diesen Kontext hinaus. Der Reprint zeigt eine typische Auswahl:?Zwei der vier Doppelseiten sind eher „fachspezifisch“, sie lassen sich in Beziehung zu der vorliegenden Ausgabe setzen, während die anderen zwei sich Themen des Abendlands widmen, die wie ein falscher Fünfziger immer wiederkehren.

[1] Vgl. Eitel, Bernhard. Wüstenränder. Brennpunkte der Entwicklung, in: Spektrum der Wissenschaft 5, 2008, S. 70 ff

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