Zeitschrift

ARCH+ 188
Form Follows Performance
ARCH+ 188
zur Zeitschrift: ARCH+

Am Anfang einer neuen Architektur des Performativen

Architektur befindet sich an einem Wendepunkt.

Nie zuvor standen Architekten im Zeitraum weniger Jahre so umfassende, neue technologische Möglichkeiten zur Verfügung, die alle Teilbereiche des Entwerfens, Planens und Bauens betreffen. Nie zuvor sahen sich Architekten einer Situation gegenüber, die – nicht nur aufgrund des Klimawandels – ihren Aufgabenbereich so grundsätzlich in Frage stellt.

27. Juli 2008 - Michael Hensel, Achim Menges
In der derzeitigen Architekturdiskussion und -produktion äußert sich dies durch zwei Phänomene, die sich im gegenseitigen Aufschaukeln gleichsam neutralisieren: Die Überforderung mit den Möglichkeiten neuer, digitaler Formfindungsmethoden und computergestützter Herstellungsverfahren auch in der Architektur kulminiert in einem gestalterischen Befreiungsschlag von materialspezifischen, konstruktiven und herstellungsbedingten Zwängen, der reflexartig die Auseinandersetzung mit einem neuen Formenkanon zur Priorität erhoben hat. Die grundlegenden Eigenschaften herkömmlicher Entwurfsmethoden und -ziele werden im wörtlichen Sinne nur oberflächlich in Frage stellt. Dies gilt auch für die hilflosen Versuche, der zeitgenössischen, objekt-fetischisierenden Architektur den Deckmantel des Ökologischen überzustülpen, der zwar alle technischen Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung des Objekts ausreizt, aber die entscheidende Frage der Relation zwischen architektonischem Objekt, menschlichem Subjekt und gebauter Umwelt weitgehend außer Acht lässt. Während das technologische Potenzial die Grenzen des Machbaren stets aufs Neue sprengt, stagniert die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Zweck und Ziel dieser Entwicklungen. Hinter der doppelt gekrümmten Fassade zeitgenössischer Architektur hat sich wenig Grundsätzliches verändert.

Nie zuvor war eine kritische Betrachtung und grundlegende Revision unserer tradierten Vorstellungen und festgefahrenen Definitionen von Architektur und Bauen so notwendig wie heute. Nie zuvor waren die Chancen einer solchen Infragestellung aufgrund eben jenes technologischen Fortschritts so günstig wie heute.

Wenn wir die Potenziale des Rechners nicht im Abstreifen aller formalen und konstruktiven Constraints sehen, sondern das computerbasierte Arbeiten als die Möglichkeit begreifen, eine enge Schnittstelle zwischen dem virtuellen und dem realen Raum zu schaffen, wenn wir die Beschaffenheit der materiellen Welt nicht als zu überwindend betrachten, sondern in ihren Logiken und Zwängen neue Wege erschließen, dann bedarf es einer Entwurfsmethodik, welche die tradierte Hierarchie von Form und Konstruktion durch einen Prozess integraler Formgenerierung und Materialisierung ersetzt. Wenn wir den Rechner nicht nur als besseres Zeichenwerkzeug benutzen, sondern die Herstellungs- und Fügungslogiken direkt an der Schnittstelle von CAD/CAM-Technologien einbetten, können wir jene Konstruktionsmethoden hinter uns lassen, die sich auf das Auswählen und Verteilen von Norm- und Gleichteilen im Raum beschränken. Wenn wir die Anpassung an Umweltbedingungen nicht als nachgeordnetes Optimierungsverfahren begreifen, sondern durch kontinuierliche Rückkopplung und analytische Verfahren in einen generativen Entwurfsprozess einbetten, wird die Modulierung von Raumklima, Licht, Schall zum integralen Bestandteil der Umweltgestaltung. Performance ist keine Frage der Anwendung von Lehrbuchprinzipien, sondern der räumlichen Differenzierung.

Nie zuvor hatten wir eine so große Chance, Architektur jenseits des Irrglaubens an eine totale räumliche und klimatische Kontrolle in der performativen Wechselwirkung von Material, Struktur und Umwelt zu entfalten. Nie zuvor hatten wir so gute Voraussetzungen, Architektur jenseits des repräsentativen Selbstzwecks tektonischer Objekte als differenzierte und reichhaltige Lebensräume zu konzipieren.

Nie zuvor hatten wir das technologische Potenzial, den Menschen und seine Umwelt in den Mittelpunkt einer alternativen Vorstellung von Nachhaltigkeit zu stellen. Woran es fehlt, ist ein intellektuelles Verständnis dieser ungeahnten Möglichkeiten und entsprechende, alternative Entwurfsansätze. Dies ist Ziel und Zweck dieser Ausgabe.

Nie zuvor war die Erforschung und Entwicklung solcher Entwurfsansätze so relevant wie heute, denn nie zuvor wurde auf unserem Planeten mehr gebaut.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: ARCH+

Ansprechpartner:in für diese Seite: Anh-Linh Ngoberlin[at]archplus.net

Tools: