Zeitschrift

ARCH+ 188
Form Follows Performance
ARCH+ 188
zur Zeitschrift: ARCH+

Reaktive Flächenstruktur

27. Juli 2008 - Achim Menges
Jedes Material steht in Wechselwirkung mit der es umgebenden Umwelt. In der Architektur bekannt ist vor allem die Längenausdehnung, also die Veränderungen der Abmessungen eines Stoffes bei Temperaturwechseln, und das Schwinden bzw. Schwellen bei Schwankungen des Feuchteanteils. Im Architekturentwurf, in Planung und Konstruktion wird meist versucht, dieses dem Material inhärente Verhalten weitmöglichst zu eliminieren oder durch entsprechende Toleranzbereiche abzufangen. Die spezifische Reaktion eines Materials auf wechselnde Umwelteinflüsse bietet jedoch die Chance, dieses Verhalten einem alternativen, auf Materialsystemen beruhenden Entwurfsansatz zugrundezulegen.

Das Ziel des Forschungsprojekts von Steffen Reichert ist die Entwicklung einer selbsttragenden Haut, die ihre Porosität und Luftdurchlässigkeit der relativen Luftfeuchtigkeit selbsttätig anpassen kann, ohne hierfür zusätzliche mechanische oder elektronische Hilfsmittel zu benötigen. Das reaktive Verhalten wird durch Schwankungen der Luftfeuchtigkeit ausgelöst, die den Feuchteanteil eines hygroskopischen Materials beeinflusst und durch Schwinden bzw. Schwellen die Geometrie eines Bauteils ändern kann. Die Formveränderung eines solchen Elements kann dann in einem größeren System strategisch für die Anpassung an spezifische funktionale und performative Anforderungen genutzt werden. Ein Beispiel für solch reaktive Systeme in der Natur sind Fichtenzapfen, die sich noch wiederholt öffnen und schließen, auch nachdem sie vom Baum gefallen sind. Das hygroskopische Zellmaterial an der Unterseite der Schuppen des Zapfens nimmt bei steigender Luftfeuchtigkeit Flüssigkeit auf und schwillt an. Durch diese Längendehnung der Unterseite krümmt sich die Schuppe, öffnet den Zapfen und gibt den Samen frei, der jetzt auf günstigen, feuchten Nährboden fällt. Die Bewegung der Schuppen ist voll reversibel; sie weisen, wie eingehende Tests gezeigt haben, auch nach zahlreichen Öffnungs- und Schließzyklen keine Materialermüdung auf.
Das Verständnis und die Instrumentalisierung einer solch komplexen Dynamik der Wechselwirkungen aus Umwelteinflüssen, Materialeigenschaften und Systemverhalten bildet die Grundlage des hier vorgestellten Projekts. Die ersten Experimente betrachteten zunächst das Verhalten einfacher Furnierverbund-Elemente. Deren Formveränderung bei zunehmender Luftfeuchtigkeit und die dafür benötigte Reaktionszeit wurden in Abhängigkeit zu den wichtigsten Kennwerten wie Faserausrichtung, Adsorptionsfähigkeit und das Verhältnis aus Länge, Breite und Schichtstärke des Elements untersucht. Die Erkenntnisse dieser Versuchsreihe mündeten in der Definition einer Komponente, von der die Entwicklung eines Gesamtsystems ausgeht. Diese Komponente besteht aus zwei funktionalen Bereichen, einer tragenden Unterkonstruktion und zwei flüssigkeitsempfindlichen Furnierelementen. Um planare Verbindungsflächen sowohl zu den angrenzenden Komponenten als auch für die Furnierelemente ausbilden zu können, besteht die Unterkonstruktion aus einer Faltstruktur mit ebenen Deckflächen und Flanken. Diese Faltstruktur kann an einem Stück aus einem Plattenmaterial ausgeschnitten und auf- bzw. zusammengefaltet werden, d.h. Zusammenbau und Herstellung basieren auf einem ebenen Schnittmuster. Die erforderlichen geometrischen Eigenschaften der Strukturkanten wurden in einem auf assoziativer Geometrie aufbauenden parametrischen Modell verankert, das eine hohe Variationsbandbreite der Komponentengestalt zulässt. Die Schnittmuster des zweiten wichtigen Bestandteils jeder Komponente, der zwei dreieckigen Furnierelemente, sind ebenfalls in Abhängigkeit zur Faserrichtung in diesem parametrischen Modell definiert, da die Längenveränderung bei Zunahme des Feuchtegehalts hauptsächlich parallel zur Faserrichtung erfolgt.

Die Komponente kann sich bei starken Feuchtigkeitsschwankungen innerhalb von weniger als 20 Sekunden öffnen, wobei die Wasseraufnahme zu einer Krümmung des Furniers führt und dadurch eine Öffnung zwischen der Unterkonstruktion und den Elementen freigegeben wird. Diese Veränderung der lokalen Porosität und Luftdurchlässigkeit des Systems erfolgt in direkter Wechselwirkung mit den jeweiligen mikroklimatischen Bedingungen, die Komponente vereint in einem einfachen Furnierelement die Funktionen von Feuchtigkeitssensor, Stellmotor und Stellklappe. Die unmittelbare lokale Reaktionsfähigkeit jeder einzelnen Komponente wird Teil eines emergenten Klimamodulationssystems.

Auch die geometrische Definition der aus einer Vielzahl von Komponenten bestehenden Gesamtform spielt für die Wechselwirkung aus System und Umwelt eine wichtige Rolle. So hat die Kurvatur der Fläche nicht nur Einfluss auf deren Tragverhalten, sondern auch auf die Ausrichtung und Lage der Elemente im Feuchtigkeit zu- bzw. abführenden Luftstrom. Um die kritische Relation einzelner Komponenten, deren Lage im Gesamtsystem und der sie umgebenden mikro- und makrothermodynamischen Gegebenheiten im Entwurfsprozess besser fassen zu können, wurde die Gesamtform mathematisch definiert. Dies ermöglicht eine rechnergestützte Evolution des parametrischen Systems in direkter Rückkopplung mit dem thermodynamischen Simulationsverhalten einzelner Elemente und der Gesamtstruktur. Das so entstandene Materialsystem besteht aus 600 Komponenten, die aufgrund ihrer Lage und Funktion in der Gesamtstruktur alle geometrisch unterschiedlich sind, aber auf derselben Logik basieren. Die direkt aus dem parametrischen Modell auszulesenden Schnittmuster, Herstellungs- und Konstruktionsdaten erlaubten es, einen vollmaßstäblichen, funktionstüchtigen Prototyp anzufertigen. Wird dieser Schwankungen der Luftfeuchtigkeit ausgesetzt, beginnen die Furnierverbundelemente durch ihre Formveränderung die Luftdurchlässigkeit der Struktur zu verändern, die zugleich Tragwerk und reaktive Haut ist. Diese übergeordnete Integration von Form, Struktur und Material erlaubt eine direkte und differenzierte Anpassung an Umwelteinflüsse, ohne die Notwendigkeit zusätzlicher elektronischer oder mechanischer Kontrollelemente.

[Projekt von: Steffen Reichert
Projektbetreuung und Text: Achim Menges]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: ARCH+

Ansprechpartner:in für diese Seite: Anh-Linh Ngoberlin[at]archplus.net

Tools: