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anthos 2008/3
Wohnumgebung
anthos 2008/3
zur Zeitschrift: anthos
Herausgeber:in: BSLA

Freiraumqualität und bauliche Verdichtung in Schwamendingen

Die bisherige bauliche Verdichtung in Schwamendingen hat die Freiraumstruktur stark verändert. Korrekturen für Erhalt und Aufwertung der quartierspezifischen Qualität sind notwendig.

12. September 2008 - Daniel Keller
Schwamendingen ist geprägt durch die wenige Stockwerke hohen und stark durchgrünten, von 1940 bis 1960 entstandenen genossenschaftlichen Wohnsiedlungen. Grösse, Grundriss und Ausstattung der Wohnungen sind nicht mehr zeitgemäss und die Bausubstanz in schlechtem Zustand. Deshalb müssen die Siedlungen saniert oder ersetzt werden. Ein Vergleich von Luftbildern zeigt aber, dass bei einer Bautätigkeit in der Regel die Freiraumstruktur komplett verändert wird und nur einzelne Bäume erhalten bleiben. Der besondere Wert des fliessenden grünen Freiraumes mit seinem imposanten Baumbestand geht schleichend verloren.

Freiraumqualität

Beim Vergleich der unterschiedlichen Siedlungstypen weisen die Reihenhäuser eine sehr hohe Freiraumqualität auf, die als Wertmassstab für die Quartierentwicklung dienen können, wie zum Beispiel die Siedlung Mattenhof, deren Freiräume von Gustav Ammann konzipiert wurden. Eine eindeutige Zonierung in die verschiedenen Öffentlichkeitsgrade, gute Bezüge der Wohnungen zum Freiraum und eine klare Erschliessung, die eine Belebung und gute Nutzbarkeit des halböffentlichen Freiraumes ermöglicht, sind nur einige der Qualitätsfaktoren.

Die Geschosswohnungsbauten der Nachkriegszeit haben als Qualität den fliessenden Freiraum mit grossen Baumvolumen. In dieser Siedlungsform fehlt aber häufig der Bezug des Wohnraumes zum Aussenraum. Abstandsflächen und Hochparterres prägen das Bild, Zonierung und Strukturierung des Freiraumes fehlen teilweise.

Geänderte Rahmenbedingungen

Die veränderten Anforderungen an Wohnraum und Gebäude führten zu einer Anpassung der Gesetze. Die Verdichtung nach innen als raumplanerisches Ziel schlägt sich auch im kantonalen Planungs- und Baugesetz sowie in der städtischen Bau- und Zonenordnung nieder. Diese lassen seit 1999 eine wesentlich dichtere Bebauung zu: In einer W3 können jetzt fünfgeschossige Gebäude erstellt werden. Mittels einer Arealüberbauung kann die Ausnutzung gegenüber der Regelbauweise noch zusätzlich markant erhöht werden. Aus Energie- und Kostengründen sind einfache Kuben mit grösserer Tiefe als bisher erforderlich. Im heute mehrheitlich zwei- bis viergeschossig bebauten Quartier entstehen so grossvolumige Gebäude mit bis zu sieben Vollgeschossen. Dies ist ein Bruch mit der Quartiertypologie, der die Freiraumqualität stark beeinflusst.

In Schwamendingen gibt es keine grösseren Parks. Der öffentliche Freiraum besteht aus Grünzügen, Schul-, Sport- und Badeanlagen, die jedoch nicht alle Funktionen eines Parks übernehmen können. Die Freiräume im direkten Wohnumfeld übernehmen diese Funktionen teilweise. Mit der baulichen Verdichtung gehen diese nutzbaren Freiflächen zum grossen Teil verloren, und die verbleibenden Flächen müssen für mehr Bewohnerinnen und Bewohner die Freiraumbedürfnisse erfüllen. Auch in neu geplanten siebengeschossigen Gebäuden wird – trotz Arealüberbauungsverfahren, welches eigentlich Qualität sichern soll – der Bezug zwischen Wohnraum und Freiraum nicht ausreichend thematisiert. Strukturmängel – wie der fehlende Bezug des Innen- zum Aussenraum – sind nicht gelöst. Privat nutzbare Vorzonen zu den Erdgeschosswohnungen sind schwierig zu realisieren, und die Unterbauung des Freiraumes mit Tiefgaragen schränkt die Anpflanzung von grossen Bäumen und damit eine raumwirksame Gliederung des Freiraums zusätzlich ein.

Vertiefung Leitbild

Die Stadt Zürich will die zukünftige Entwicklung des Quartiers nicht dem Zufall überlassen und hat ein Leitbild1 für die Erneuerung und die bauliche Verdichtung des Quartiers erarbeitet. Mit Qualitätskriterien und Empfehlungen wird das Leitbild zurzeit weiter konkretisiert. Um eine zielgerichtete Diskussion zu eröffnen, wurden neuere Projekte dokumentiert und ihre Qualität festgehalten. Neuere Siedlungen weisen gute Ansätze auf, wie in Schwamendingen gartenstadtähnliche Strukturen erhalten oder wie diese neu interpretiert werden können.

Sämtliche Siedlungen mit voll ausgeschöpfter Ausnützungsziffer zeigen jedoch starke Mängel im Freiraum und im Bezug von Bebauung zum Freiraum. Eine Umsetzung alter, stimmiger Konzepte – wie dasjenige des Mattenhofs – in eine heutige Form sollte möglich sein, verlangt aber, dass die verschiedenen Disziplinen von Anfang an intensiv zusammenarbeiten. Die bauliche Dichte und die Gebäudehöhe müssen beschränkt und weitere quantitative und qualitative Kriterien formuliert werden. Wie ist Wohnen im Grünen und mit eigenem Garten neu zu interpretieren? «Gartenzimmer» müssen nicht unbedingt die Form eines Hausgartens haben, sie müssen auch nicht zwingend im Parterre liegen.

Baumanalyse

Der Baumbestand wurde schnell zu einem zentralen Thema der Diskussion. Es ist zwar bekannt, dass der Baumbestand ein wesentliches quartierprägendes Element ist, detaillierte quartierspezifische Angaben fehlten jedoch, insbesondere zu den Faktoren, die den Baumbestand verändern. Deshalb wurde 2007 eine flächendeckende Baumkartierung (Stammumfang >80 cm) durchgeführt, um den Wert des Bestandes mit den 7000 Bäumen aufzeigen zu können.

Allgemein wurde zum Baumbestand festgestellt, dass rund zehn Arten das Bild bestimmen (siehe Grafik); dass einzelne Arten das Bild in besonderen Lagen und Quartierteilen prägen (siehe auch Plan); dass die Artenvielfalt in den öffentlichen Freiräumen am grössten ist und mehr als 70 Prozent der Bäume aus der Zeit der Bebauung des Quartiers stammen. Die Bäume bilden ein Baumdach, aus dem nur einzelne Gebäude ragen; einige besonders wertvolle Ensembles stechen hervor. Krankheiten, Schädlinge und die Klimaveränderung schränken die Verwendung verschiedener Arten zukünftig ein.

Die wichtigsten Erkenntnisse in Bezug auf die bauliche Verdichtung sind:
• Die ältesten Bäume stehen vorwiegend in öffentlichen Grünflächen sowie am Zürichberg in der offenen Landschaft – Flächen, die bisher von der Bautätigkeit ausgenommen worden sind.
• Bei Gebäudesanierungen, Ersatz-, Neu- und Anbauten werden die vorhandenen Bäume in der Regel gefällt.
• Würden alle gesetzlichen Grenzabstände und sinnvollen Gebäudeabstände (5 m) bei baulichen Massnahmen eingehalten, könnten mehr als die Hälfte der Bäume am heutigen Standort nicht mehr ersetzt werden.
• Der zunehmende Bedarf an Tiefgaragen geht vor allem auf Kosten grosser Bäume.
• Jeder vierte bis sechste Baum in Bauzonen weist – unabhängig von der Grösse – Kappungen auf, in öffentlichen Grünräumen ist es nur jeder fünfzehnte.

Die Erkenntnisse bestätigen leider, dass häufig Fachwissen fehlt und dass der Wert von Bäumen in der baulichen Entwicklung unberücksichtigt bleibt. Sie zeigen auch, dass in den öffentlichen Freiräumen eine fachgerechte Pflege sichergestellt ist und deshalb die Bäume dort beeindruckende Volumen bilden und ein hohes Alter erreichen können.

Aus den Erkenntnissen hat Grün Stadt Zürich eine umfangreiche Liste von Empfehlungen abgeleitet. Die wichtigsten Empfehlungen sind:
• Zehn einheimische Arten sollen weiterhin das insgesamt ruhige Bild prägen, in dem eingestreut besonders attraktive Arten gut zur Geltung kommen.
• Teile des Quartiers werden weiterhin durch einzelne Arten geprägt.
• Alte und besonders wertvolle Bäume und Ensembles sind zu schützen und fachgerecht zu pflegen.
• Das Bild der die Gebäude überragenden Bäume ist beizubehalten, es sind den Gebäudehöhen angemessene Baumvolumen zu pflanzen.
• Bereits in Bauleitbildern ist der Baumbestand zu berücksichtigen, er ist zu erhalten oder es ist Raum zu schaffen, um ihn ersetzen zu können, insbesondere bei geplanten Tiefgaragen.
• Abstände zu den Gebäuden sind genau zu betrachten und sinnvolle Abstände einzuhalten.
• Baumpflanzungen sind mit den Nachbarn abzusprechen, der Freiraum ist parzellenübergreifend zu planen.
• Verantwortliche sind auszubilden, und es ist sicherzustellen, dass diese für die Baumpflege kompetente Fachleute beiziehen.

Umsetzung

Für die Umsetzung der Empfehlungen ist die zielgerichtete Vermittlung an die jeweiligen Ansprechpartner entscheidend. Grün Stadt Zürich überprüft nun, wie die bisherige Praxis aussieht, wie andere Städte vorgehen2 und welches die richtigen Mittel und Wege für die Stadt Zürich sind. Die Einflussnahme auf allen planerischen Stufen ist notwendig, sei dies bei der Revision der Bau- und Zonenordnung und einschlägiger Gesetze, bei der Erarbeitung von Leitbildern und Konzepten und vor allem bei der Beurteilung der Baugesuche.

Das raumplanerische Ziel der Verdichtung nach innen ist unbestritten. Das Beispiel Schwamendingen zeigt aber, dass es wichtig ist, nicht nur auf die Entwicklung zu reagieren, sondern aktiv und mit allen Mitteln in den Prozess steuernd einzugreifen. Das richtige Mass und die Geschwindigkeit der baulichen Verdichtung sowie die ortsspezifischen Qualitätskriterien sind zu beachten. Bestimmend dafür, wie lebenswert ein Quartier ist, ist die Freiraumqualität im Allgemeinen und in Schwamendingen der Baumbestand im Besonderen. Wird die Entwicklung dem Markt überlassen, der sich vorwiegend an den Ausnutzungsziffern, Grenzabständen und der eigenen Parzelle orientiert, können die quartierspezifischen Qualitäten und damit die Identität des Quartiers nicht erhalten bleiben, denn die Summe von gelungenen architektonischen Einzellösungen ergibt noch lange keine stimmige städtebauliche Entwicklung.

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Für den Beitrag verantwortlich: anthos

Ansprechpartner:in für diese Seite: Daniel Haidd.haid[at]fischerprint.ch

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