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Stadtarchitektur São Paulo
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São Paulo - Eine chronologische Stadtgeschichte

São Paulo ist die sechstgrößte Metropolregion der Welt und die wichtigste Stadt Brasiliens, wo sich die nationale Finanz- und Wirtschaftskraft konzentrieren. Dennoch sind die sozialen Territorien der Stadt zerrissen; für die Mehrheit gelten prekäre Lebens- und Wohnbedingungen, während sich die Reichen immer aggressiver in Wohlstandsinseln abschotten. Die Stadt ist in den letzten 160 Jahren von 30.000 auf fast 11 Millionen Einwohner exponentiell gewachsen – doch entgegen der landläufigen Meinung verlief ihre Stadtentwicklung weder chaotisch noch ziellos. Sie wurde durch bewusste politische und städtebauliche Entscheidungen gestaltet, die die Stadt bis heute prägen.

8. Januar 2009 - Raquel Rolnik
Von der Vila Bandeirante zur Kaffeestadt

Die Vila de São Paulo wurde 1554 von Jesuiten gegründet, die unter der Führung von Tupi-Guarani-Indianern von der Küstenstadt São Vicente aus die bewaldeten Hügel der Sierra do Mar erkundeten. Im 17. Jahrhundert diente die Vila de São Paulo als Ausgangspunkt für entradas e bandeiras: Expeditionen in das umliegende Hochland, um Indianer zu versklaven, Land zu besetzen und nach Erzen zu suchen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts blieb die Stadt relativ unbedeutend; vornehmlich von einer Mischbevölkerung aus Portugiesen und Indianern bewohnt, war die meistgesprochene Sprache das Tupi-Guarani. Dies änderte sich schlagartig, als der Kaffeeanbau um 1850 über das Rio Paraiba-Tal die Stadt São Paulo erreichte und, begünstigt durch das Klima und fruchtbaren Boden, weitere Anbaugebiete im Nordwesten der Stadt erschlossen werden konnten. Die günstige Verkehrslage zum Hafen Santos und die systematische Erschließung des Hochlandes durch die Eisenbahn schufen die idealen infrastrukturellen Voraussetzungen für den Kaffee-Boom.[1] Die Kaffeeindustrie – und das Kapital, das durch den Export in Umlauf gebracht wurde – lösten in São Paulo in den folgenden Jahren urbanistische, wirtschaftliche, ethnische und politische Transformationen aus und legte die Grundsteine für die Entwicklung zur Metropole des 21. Jahrhunderts.

Geldströme, Menschenströme: Die Erste Republik

In den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der Republik 1889 wurde São Paulo zum Magnet für Immigranten und Investitionen: Das durch den Kaffeeboom vorhandene Kapital konnte nicht weiterhin allein in die Plantagen investiert werden. Geldströme, Immigranten und der Ausbau der Infrastruktur waren ausschlaggebend für die schnelle und folgenreiche Industrialisierung der Region.[2] Seit der Abschaffung der Sklaverei 1888 und der Einführung der Lohnarbeit verfolgte der junge Staat eine gezielte Immigrationspolitik, um die Zahl der Arbeitskräfte auf den Kaffeeplantagen und in den neuen Industrien zu sichern. Italiener, Portugiesen, Spanier, Syrier und Libanesen, Juden und Japaner: Von den 250.000 Einwohnern der Stadt der Jahrhundertwende waren bereits über 150.000 Ausländer, größtenteils Europäer. Industrie und Immigranten siedelten sich in den Flussniederungen entlang der Bahnlinie an. Die ersten großen Arbeiterviertel São Paulos – Lapa, Bom Retiro, Brás, Pari, Belém, Mooca und Ipiranga – entstanden als Immigrantenkolonien entlang der Bahnlinien im Osten, Westen und Südosten der Stadt.
In diese Phase fällt auch die erste große Urbanisierungswelle São Paulos, als fließendes Wasser, Elektrifizierung und Straßenbahnen eingeführt und die Straßen asphaltiert wurden. Die Politik bezüglich dieser Modernisierungen war jedoch von Anfang an in den verschiedenen Stadtvierteln unterschiedlich; die Transformation der Kaffeestadt bestand auch in der Trennung der Wohnorte nach Tätigkeit und sozialer Gruppe. Diese Grundlage der städtischen Ordnung ist noch bis heute spürbar. Die zentralen Bezirke der Stadt waren den Eliten und dem Kapital vorbehalten; dort konzentrierten sich die Urbanisierungsmaßnahmen, für diese Gebiete wurden Baugesetze erlassen. Währenddessen entstand außerhalb dieses urbanen Umkreises ein rein funktionaler Raum, in dem sich das Arbeiten und Wohnen der Armen vorwiegend selbst organisieren musste.
Die Stadtverwaltung traf ihre politischen Entscheidungen lediglich in Abstimmung mit den Eliten von São Paulo, also jenem kleinen Teil der Bevölkerung, der bei den Wahlen der Stadtabgeordneten und ab 1911 auch des Bürgermeister mitwirken durfte. Die Kaffeeoligarchie São Paulos bestimmte während der Ersten Republik die Geschicke der gesamten Nation;[3] die Urbanisierung des historischen Zentrums war somit auch Ausdruck der radikalen Identitätsänderung, die diese Elite für die Stadt vorgesehen hatte. Eines der ersten großen städtebaulichen Projekte waren die beiden Parkanlagen von Joseph-Antoine Bouvard im Anhangabaú-Tal. Im Zentrum selbst, der „Dreiecksstadt“ mit Stadttheater und Esplanade, wurden die Kolonialstraßen und -gassen verbreitert; zu den ersten Stadterweiterungen gehörte auch das so genannte Neue Zentrum im Umfeld des República-Platzes mit neuen Boulevards, öffentlichen Parks, Caféhäusern und eleganten Geschäften und Kultureinrichtungen.
Ein gutes Beispiel für die Aneignung des Zentrums durch die Eliten – und ihre diskriminierende Begrenzung der öffentlichen Investitionen, Reformen und Gesetzgebung – ist die Entwicklung des West-Sektors der Stadt, mit dem Nord-Süd-Parcours Campos Elíseos, Higienópolis, Paulista.[4] 1879 kauften zwei deutsche Unternehmer ein Grundstück im Nordwesten des historischen Zentrums, unterteilten das Gelände in große Parzellen mit breiten Straßen und legten bepflanzte Alleen an. So entstand das Viertel Campos Elíseos als Modell eines Wohngebiets für den Geldadel. Um 1890 wurden dann im neuen Viertel Higienópolis die elegantesten Paläste der Stadt bezogen, und 1891 die Avenida Paulista eingeweiht. 1894 ließ der Bauingenieur und -unternehmer Joaquim Eugênio de Lima ein spezielles Baugesetz für die von ihm gebaute Avenida Paulista verabschieden: Demzufolge mussten zukünftige Bauten einen Abstand von zehn Metern zur Straße einnehmen und zu beiden Seiten durch einen zwei Meter breiten Streifen von „Gärten und Bäumen“ bepflanzt werden. Mittels solcher Gesetze garantierte man für bestimmte soziale Schichten Stadträume mit besserer urbaner Qualität, trotz des immensen Drucks, der permanent durch das Bevölkerungswachstum ausgeübt wurde.
Im Gegensatz zur reichen Innenstadt waren die Arbeiterviertel von einer Mischung von Fabriken und prekärem Massenwohnungsbau (Cortiços) geprägt; die urbane Infrastruktur beschränkte sich praktisch auf die Straßenbahn.

Der Plano de Avenidas und die Schienenstadt

Trotz ihrer Ungleichheiten und Aufsplitterung blieb die Stadtstruktur bis zum Ende der 20er Jahre dennoch relativ kompakt und behielt einige Grundbeziehungen zu ihrer natürlichen Geografie. Dies lag nicht zuletzt am Netz öffentlicher Straßenbahnen und Bahnhöfe, die die Grenzen der Urbanisierung festlegten. Während des Ersten Weltkriegs wuchs in São Paulo die Industrie für den Binnenmarkt weiter an, da durch den Zusammenbruchs der internationalen Handelsverbindungen die Importwirtschaft schrittweise durch die heimische Produktion von Kapital- und Konsumgütern abgelöst werden musste. Die Folgen dieser großmaßstäblichen Industrialisierung waren neben dem Aufkommen eines urbanen Proletariats auch ein großes Bevölkerungswachstum. Die Stadt verdichtete und vergrößerte sich zunehmend.
Mit der Weltwirtschaftkrise und dem Einbruch der Kaffeepreise (1929), dem Militärputsch (1930) und dem Widerstand der Kaffeeoligarchie gegen die neue Regierung (1932) brach für São Paulo eine Zeit permanenten Wandels und der ökonomischen Umorientierung an. Schließlich wurde unter dem Bürgermeister Fabio Prado ab 1934 der radialkonzentrische Plano de Avenidas des Stadtplaners – und späteren Bürgermeisters – Prestes Maia umgesetzt.[5] Dieser bevorzugte den motorisierten Verkehr gegenüber dem Schienentransport und legte mit den wichtigsten Verkehrsachsen bis heute die Struktur der Stadt fest. Gleichzeitig wurde mit dem Plano de Avenidas der Ausbau des öffentlichen Verkehrssystems auf Dieselbusse fokussiert. Einerseits war der Dieselbus flexibel genug, um die arme Peripherie der Stadt an das Verkehrsnetz anzuschließen, andererseits wurde erst durch ihn die Expansion des Stadtgebietes weit über die an sich tolerierbaren Grenzen hinaus möglich. Im Vergleich zur verhältnismäßig dichten Schienenstadt entstand nun ein neues Stadtmodell aus verstreuten Siedlungen ohne Infrastruktur und mit sehr niedriger Wohndichte, das die ganze Logik der öffentlichen Investitionen und Dienstleistungen für die Innenstadt infrage stellte. Der Vergleich zwischen den Stadtplänen und den Bevölkerungsangaben von 1914 und 1930 zeigt eine deutliche horizontale Expansion der Stadt: 1914 lag das Stadtgebiet bei 3.760 Hektar[6] und die Wohndichte bei 110 Bewohner pro Hektar; 1930 hatte sich das bewohnte Gebiet auf 17.653 Hektar vervierfacht, die Dichte hingegen auf 47 Bewohner pro Hektar halbiert. Von nun an blieb die Dichte mit 50 Bewohnern pro Hektar bis in die 70er Jahre relativ konstant.

Neues Zentrum und Avenida Paulista

In den 1950er Jahren begann die Vertikalisierung und Kommerzialisierung der Innenstadt. Das Stadtzentrum verlagerte sich in Richtung der Avenida Paulista. Dort wurden die ersten funktionalistischen Hochhäuser gebaut; die Einweihung des Conjunto Nacional[7] im Jahr 1956 verwandelt die Straße endgültig in das neue Finanz- und Geschäftszentrum. Ab Mitte der 60er Jahre waren zum ersten Mal in der Geschichte São Paulos die Bodenpreise des historischen Zentrums nicht mehr die teuersten. Paradoxerweise geschah dies während der wichtigen und kostspieligen Investition in die U-Bahn, die die Zentralität der historischen Mitte bekräftigte: Die beiden Linien des zukünftigen Netzes sollten sich in der Station Sé im historischen Zentrum kreuzen. Dort wurde dem radialkonzentrischen Prinzip folgend auch der große Bus-Terminal geplant. Darüber hinaus wurden große und breite Gehsteige angelegt und die wichtigsten Straßen in Fußgängerzonen umgewandelt. Das historische Zentrum zeichnete sich von nun an durch eine maximale Zugänglichkeit durch öffentliche Transportmittel aus – just in dem Moment, in dem sich die Eliten und Mittelschichten definitiv in ihren Autos abkapselten. Damit waren die Grundlagen geschaffen für die Pauperisierung des Zentrums, aus dem sich die Eliten sukzessive verabschiedeten.
Die endgültige Verschiebung vom historischen Zentrum zur Avenida Paulista und zum Jardins-Viertel findet in den 1970er Jahren statt; zu diesem Zeitpunkt ließen sich dort die Machtzentren des zweiten Brasilianischen Wirtschaftswunders (1968-73) nieder, darunter internationale Großunternehmen, Banken und Arbeitgebergremien.

Territoriale Ausgrenzung

Die staatlich forcierte Industrialisierung der 50er Jahre konzentrierte sich auf das Ballungsgebiet São Paulo und die riesige Wirtschaftskraft zog Migranten aus ganz Brasilien an. In diesen Jahren veränderte sich auch die Sozialgeografie der Stadt: In den 50er, 60er und 70er Jahre ging die ausländische Einwanderung zurück, während die Inlandsmigration anstieg, hauptsächlich aus Minas Gerais und dem Nordosten Brasiliens, aber auch aus dem Hinterland der Metropole. Das São Paulo der „baianos“[8] macht bis heute fast 20% der Stadtbevölkerung aus. Wenn zu Anfang des Jahrhunderts die Arbeiterviertel den vorwiegend europäischen Ausländern und das Stadtzentrum den Brasilianern vorbehalten waren, so ist heute die Peripherie vom Zuzug aus dem Nordosten geprägt. Je weiter entfernt und prekärer, desto höher der Anteil von Schwarzen, Mestizen und Migranten.
Während der urbanen Expansion der 60er und 70er Jahre wuchs São Paulo mit den Städten der heutigen Metropolregion zusammen, zuerst mit Osasco und Taboão da Serra im Westen, Guarulhos im Osten und dem so genannten ABC-Gebiet im Südosten. Dies geschah zumeist ohne Genehmigung der Stadtverwaltung durch irreguläre Besiedlungen und selbstgebaute Häuser. Der erste Schritt zu einer neuen legalen Ordnung der Stadt ist die Duldung. Auf diese Weise erreichen die irregulären Siedlungen einen gewissen Status der Legalität und bleiben in der Sphäre der öffentlichen Verantwortung. Das heißt nicht, dass die Stadtverwaltung andere Siedlungsformen anbietet oder möglich macht, sondern nur, dass manche Ausnahmen das Recht auf öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Dienstleistungen erhalten.
Die territoriale Ausgrenzung wurde durch den staatlichen Wohnungsbau weiter vorangetrieben. Ab den 1960er Jahren sollten die nationale Bank für Wohnungsbau (BNH) und die öffentlich geförderte Wohnungsbaugesellschaft „Cohab“ das alarmierende Wohnungsdefizit vermindern. Den öffentlichen Wohnungsbauprogrammen war in der Regel geringer Erfolg beschieden. Aber nicht nur das: Die Cohab ließ in den 70er und 80er Jahren riesige, ausschließlich zum Wohnen bestimmte Siedlungskomplexe in der äußersten Peripherie errichten, was die dort Wohnenden explizit vom Rest der Stadt ausgrenzte. Die Schlafstädte Itaquera 1, 2, 3 und 4 (35.000 Wohnungen und 165.000 Bewohner) oder Cidade Tiradentes gerieten so zu Ghettos mit niedrigem Einkommen, prekärer Ausbildung, hoher Arbeitslosigkeit, weit entfernt von den Orten, an denen es Lebenschancen gibt. Die in den 90er Jahren explodierende Gewalt in der Stadt steht ohne Zweifel mit dieser urbanen Struktur in Verbindung. Die Wirkung dieser Wohnblocks im Süden der Stadt waren noch schlimmer: die Errichtung des Wohnkomplexes Bororé im Viertel Grajaú im Jahr 1976 führte über 13.000 Bewohner in ein gerade als „Wasserschutzgebiet“ ausgewiesenes Areal. Während auf der einen Seite Umweltschutzgesetze verabschiedet wurden, ging die Urbanisierungs- und Wohnungspolitik der Stadt in die entgegengesetzte Richtung und konsolidierte den Industriekomplex im Süden der Stadt, wodurch sich das Zentrum insgesamt weiter nach Südwesten verlagerte, verstärkt durch den Ausbau der U-Bahn-Linie Nord-Süd von 1975. Das Arbeitsangebot erhöhte wiederum die Nachfrage an Wohnungen in der südlichen Peripherie. Heute ist im Süden der Stadt die größte Anzahl an Favelas und irregulären Siedlungen zu finden; gleichzeitig hat sich die Wasserqualität der aufgestauten Reservoirs und der Flüsse stark verschlechtert.
Die Wohnungsfrage bleibt ungelöst. São Paulo zählt zwei Millionen Favela-Bewohner, was einem Rekordwert von 20 Prozent der Bevölkerung entspricht. Die Peripherien verzeichnen das größte Bevölkerungswachstum, während in den zentralen Stadtvierteln die Bevölkerung in absoluten Zahlen abgenommen hat.

Shopping Center, Hypermarkets und Robocops

Obwohl der relative Anteil São Paulos an der Industrieproduktion Brasiliens zurückgegangen ist, bleibt die Stadt weiterhin ein großes und dynamisches Industriezentrum. Demgegenüber hat sie sich nicht zu der „Dienstleistungs-Metropole“ entwickelt, die einige Untersuchungen Anfang der 90er Jahre vorauszusehen glaubten. Das Ballungsgebiet der Stadt kann heute die größte Konzentration an Spitzenproduktion, Spitzenforschung und Spitzentechnologie des Landes vorweisen und in der Region wird nahezu ein Drittel des nationalen Bruttosozialprodukts erwirtschaftet.[9]
Auch wenn die Industrie nicht verschwunden ist, so hat sie sich doch in ihrer Struktur radikal verändert. Dies hat Folgen für die Struktur des Arbeitsmarktes und für die räumliche Organisation der Stadt: Einige große und mittlere Unternehmen verlassen ihren Sitz nahe der großen Bahn- und Autobahnachsen (die Bahnlinie Santos–Jundiaí und die Autobahnen Anchieta und Presidente Dutra), während sich Tausende kleinere Fabriken inmitten der Stadt oder zum Teil sogar in der äußersten Peripherie ansiedeln. Das offensichtlichste Merkmal dieser neuen territorialen Organisation ist eine sich über das ganze Stadtgebiet erstreckende Zersiedelung; die Ära der großen Industriesitze mit riesigen Auf- und Abladehallen und Lagerflächen und Massen uniformierter Arbeiter scheint in São Paulo zu Ende gegangen zu sein.
Die neue urbane Wirtschaft hat widersprüchliche Wirkungen auf den Stadtraum: einerseits wird die innere Spaltung der Industriestadt verringert, die zwischen prekärer Peripherie (Nord-West-Ost-Südost) und der reichen und gut ausgestatteten Stadt im Südwesten eindeutig trennte; andererseits können die ehemaligen Industriegebiete zu Wohn-, Gewerbe- und Freizeitarealen umgenutzt werden. Unternehmen wie Big, Makro und Extra haben sich multipliziert und eine ganz neue Logik in die Konsumgewohnheiten der Paulistaner eingeführt. Die neuen tertiären Großinvestitionen wie Shopping Centers und Hypermarkets fragmentieren das soziale Stadtgewebe in den älteren Stadtgebieten. Bis heute wurde nichts unternommen, um das bestehende sozioökonomische Gewebe zu integrieren und weiterzuentwickeln anstatt es zu ersetzen oder zu zerreißen. Das diffuse und fragmentierte Auftreten neuer Handelsformen in der Peripherie bricht die typische Dualität São Paulos nicht auf, sondern stellt sie auf fraktale Art und Weise wieder her. Die Folgen für die sozialen Räume liegen auf der Hand: Je nach Einkommen findet das urbane Leben in kontrollierten, geschützten oder verletzbaren Geografien statt. São Paulo bleibt zweigeteilt: eine rasend schnell wachsende Zahl von Favelas auf der einen, private Wohnsiedlungen, Shopping Centers und Unternehmenszentren auf der anderen Seite. Der legale und reiche Teil verfügt über Infrastruktur; der illegale Teil existiert in armen und prekären Verhältnissen, und dessen Bevölkerung hat viel mehr Schwierigkeiten, Arbeit zu finden oder Zugang zu Kultur- und Freizeitangeboten zu erhalten.
Das Phantom der Gewalt verschärft diese Teilung. Die mittleren und oberen Schichten setzen den öffentlichen Raum immer mehr mit einem Raum für Kriminalität, Gefahr und Verwahrlosung gleich, schotten sich in ihren gesicherten Wohnsiedlungen und Shopping Centers ab und verlassen den Straßenraum – oder privatisieren ihn durch aufwendige Überwachungsstrategien. Das urbane Zusammenleben wird dadurch immer schwieriger und das durchmischte urbane Sozialgewebe unwiederbringlich zerstört.
Am Ende handelt es sich um die Auflösung eines São Paulo der offenen Grenzen, das der individuellen und kollektiven menschlichen Entwicklung durch intensiven Austausch und soziale Interaktion viele Möglichkeiten bot. Die internen Grenzen erscheinen jetzt physisch in Form von Mauern, Gittern und Wachthäusern, sie haben die Stadt besetzt und die Stadtbewohner auf ein Leben in der Familie und unter Gleichgestellten reduziert. Somit ist die fraktale Stadt eine Anti-Stadt, deren Urbanitätsmuster jene Heterogenität verneinen, die ja paradoxerweise die wahre Quelle ihrer Macht und ihres Reichtums ist.

São Paulo heute: Globale Megastadt?

São Paulo erlebt derzeit etwas Zweideutiges: Stärke und Energie des Wachstums nehmen ebenso zu wie das Unbehagen der Bewohner. Durch den Überfluss an Kreditangeboten und den Rückgang der Arbeitslosenquote ist die Dynamik der Spekulation weiter gewachsen; die Bedeutung der Kulturproduktion São Paulos reicht über die Landesgrenzen hinaus, genauso wie die Quantität und Qualität seiner Spitzentechnologie. Das Unbehagen besteht im Unvermögen, sich in der Stadt frei zu bewegen; die Paulistaner ersticken an der Luftverschmutzung der Autos, Busse und Lastwagen, sind durch die Entfernungen gelähmt und haben Angst, auf die Straße zu gehen. Mit der latenten Anwesenheit der Gewalt und der Ausgrenzung wird das zivile Zusammenleben im Alltag immer weiter erschwert.

Währenddessen sind die Zeitungen jeden Tag voll mit neuen Immobilienangeboten. Wer dies sieht, könnte denken, dass nun endlich alle Paulistaner eine Behausung haben könnten – Schluss mit Favelas und prekären Besiedlungen in den Naturschutzgebieten der Peripherie. Jedoch entspricht dies leider nicht den Tatsachen. Auf der einen Seite besteht ein sichtbarer Druck, das Bauvolumen immer weiter zu steigern: Anstelle von einfachen Häusern werden Hochhäuser errichtet, die Wohngebiete der Metropole erstrecken sich bis an den Rand der Autobahn. Auf der anderen Seite gibt es kaum Angebote für die Menschen mit Einkommen von 0 bis 3 Mindestlöhnen, die jedoch 87 % des Wohnangebotsdefizits in der Stadt repräsentieren. Im Jahr 2005 fehlten in São Paulo 188.700 Wohnungen, während 402.807 Häuser und Wohnungen leer standen. Wenn sich dies fortsetzt, wird sich das Bild in den nächsten zehn Jahren immer weiter verschlechtern: Häuser, Wohnungen, Gebäude, ja ganze Viertel ohne Menschen – und die schändliche Reproduktion des Prekären für die Mehrheit.[10]

Auf dem Gebiet der Produktion und des Verkaufs von PKWs schlagen wir indessen alle Rekorde – zugleich standen wir noch nie so still. Das Verkehrsmodell, das sich allein auf das Auto stützt, ist mehr als unzulänglich, und große Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr und nichtmotorisierte Alternativen wie Fußgänger- oder Fahrradwege sind überfällig.

Auf dem Gebiet der Politik scheint die Stadt jedoch (endlich) ein Reifestadium erreicht zu haben; sie sagt dem Individualismus und der Isolierung den Kampf an und kümmert sich verstärkt um den öffentlichen Raum. Programme wie „Cidade Limpa“ (Saubere Stadt)[11] setzen den Unternehmen und privaten Interessen klare Grenzen, um die Qualität der Stadtlandschaft zu verbessern; dieses Unterfangen signalisiert die Bereitschaft der Paulistaner, ihre Stadt als kollektives Eigentum anzunehmen und zu verwalten. Ähnliche Anzeichen sieht man in der Vielfalt und Kraft sozialer und gemeinschaftlicher Organisationen, die für eine solidarische und zivile Stadt kämpfen. Sie nehmen ihre Rolle als Protagonisten des urbanen Lebens ernst, das sich nicht auf das alle zwei Jahre wiederkehrende Ritual der Wahlpflicht beschränken lässt.


Anmerkungen:
[1] Ab 1867 wurde die Eisenbahnlinie zwischen dem Hafen Santos und der Kleinstadt Jundiaí im Nordwesten São Paulos gelegt, später das gesamte Hochland mit einem strahlenförmigen Netz von Bahnlinien erschlossen.
[2] Zunächst betraf dies hauptsächlich die Textil- und Lebensmittelindustrie. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg konnte das Land seinen Bedarf an Textilien zu 85% selber decken.
[3] Das Wahlrecht war auf Männer mit Einkommen über 21 Jahre beschränkt; die nationale Wahlbeteiligung gemessen an der Gesamtbevölkerung lag für die Präsidentschaftswahlen zwischen 2,2% (1894) und 5,7% (1930).
[4] Dieser Parcours wurde später durch das Viertel Jardins erweitert, das nach dem Vorbild der englischen Gartenstädte angelegt wurde. Vgl. Renato Anelli
[5] Zur Entwicklung und Umsetzung des Plano de Avenidas siehe den Text von Renato Anelli in diesem Heft.
[6] 1 ha = 10.000 qm oder ungefähr ein Häuserblock
[7] Siehe dazu den Beitrag von Jens Brinkmann in diesem Heft.
[8] Die Migration aus dem Nordosten Brasiliens, einem armen und stark bevölkerten Gebiet, das unter Trockenheit leidet, Richtung São Paulo, war ein bedeutendes soziales Phänomen im Laufe des 20. Jahrhunderts, besonders seit der ersten Hälfte der 50er Jahre. Der Begriff „baianos“ (eigentlich Bewohner aus Bahia) wurde seitdem in São Paulo zur geringschätzigen Bezeichnung aller aus dem Nordosten stammenden Menschen.
[9] http://www.emplasa.sp.gov.br/metropoles/cme.asp
[10] Zur Problematik des Leerstands in der Innenstadt, vgl. de Brito Cruz
[11] Cidade Limpa: 2007 erließ Bürgermeister Gilberto Kassab ein Gesetz, das die kommerzielle Außenwerbung drastisch einschränkt: ein Geschäft mit 10 Quadratmeter Fassadenfläche darf jetzt nur noch auf 1,5 Quadratmetern werben, bis zu 100 Quadratmeter Fassadenfläche auf 4 Quadratmetern. Die absolute Mehrheit der Paulistaner befürwortet diese Maßnahme als deutliche Verbesserung des Stadtbilds.

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