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Stadtarchitektur São Paulo
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São Paulo zwischen Wachstum und Schrumpfung

Die Urbanisierung der Favela Paraisópolis

8. Januar 2009 - Héctor Vigliecca
Informeller Urbanismus

Fast eine Million Einwohner der Stadt São Paulo wohnen in Favelas genannten Armenvierteln und nahezu zwei Millionen in informellen Siedlungen. Seit den 1970er Jahren sind dies die Stadtteile mit der größten Dynamik und dem größten Wachstum; sie haben die Informalität und das Ungeregelte von der Ausnahme zur Regel werden lassen. Das Wachstum der informellen Siedlungen übertrifft dasjenige der formellen Stadt bei Weitem. Dennoch hält sich der Glaube beharrlich, die städtischen Armutssiedlungen seien Ausnahmeerscheinungen in der Stadtlandschaft.
Ein paradigmatisches Beispiel dieser dualen Stadt ist das Viertel Morumbi/Paraisópolis im Südwesten São Paulos. Hier koexistieren und kollidieren zwei Situationen miteinander und ignorieren sich dennoch gegenseitig– trotz des Bewusstseins gegenseitiger Abhängigkeit. Morumbi liegt südwestlich des Pinheiros-Flusses und gilt als eines der exklusivsten Viertel São Paulos. Dort findet man riesige Privatvillen, luxuriöse gated communities mit ausgefeilten Sicherheitssystemen und elegante Hochhäuser mit privaten Grünanlagen. Paradoxerweise gibt es jedoch ebendort, mitten in Morumbi, auch eine der größten rechtswidrig errichteten Siedlungen der Stadt: die Favela Paraisópolis. Auf einem Gelände, das ein Gefälle von bis zu 35 Prozent aufweist und von verschiedenen offenen Abwasserkanälen durchzogen ist, zählt dieses Konglomerat von ein- bis dreigeschossigen Bauten annähernd 82.000 Einwohner, von denen 46.000 jünger als 14 Jahre sind.
Die Besonderheit dieser Favela, die nahezu vollständig auf privatem Land gebaut ist, findet sich in ihrem Zentrum: Hier trifft man auf ein bereits früher angelegtes städtisches Wegenetz mit Straßen und kompletter Infrastruktur. Der für Favelas auffällig sorgsame Umgang mit den angrenzenden Gebäuden, ablesbar durch private Investitionen, sowie die sichtbare Vielfalt von Typen und Gebrauchsformen lässt einen Zusammenhang zwischen privilegierter Lage und Verantwortung erkennen. Doch bereits im Inneren der hier angrenzenden Häuserblöcke verschlechtert sich der Zustand der Häuser.

Städtebauliche Erneuerungsmaßnahmen

Konventionelle Sofortmaßnahmen für solche städtische Brennpunkte beschränken sich meist auf von Erdrutsch oder Überschwemmung bedrohte Bauten; demgegenüber werden alle anderen Aktionen wie planvollen Teilabriss zur Aufwertung des Stadtraums als Verschwendung und als unverantwortlich abgelehnt. Die Gegebenheiten dieses Gebietes sind jedoch unvereinbar mit herkömmlichen Planungsmodellen, wie sie in „formellen“ Bereichen mithilfe von Verordnungen auf Grundlage einer normativen Gesetzgebung stattfinden können. Der Ausgangspunkt für unser Projekt war deshalb der „spontane Wille zur Verpflichtung gegenüber der Stadt“.
Das Projekt verfolgt eine Strategie der räumlichen Hierarchisierung über ein Wegenetz in Kombination mit der punktuellen Setzung einzelner Großwohnbauten. Das Ziel dieser strukturierenden Maßnahmen ist es, durch „Infiltrationen und Motoren der Urbanität“ einen kontinuierlichen Erneuerungsprozess einzuleiten – ohne vorhandene soziale Strukturen zu zerstören.

Neue Hierarchisierung durch das Wegenetz

Die wichtigste Maßnahme zur Strukturierung des Gebietes ist die Einbindung des bestehenden Straßenrasters an das Verkehrsnetz der Umgebung, um die problematischen Zonen von Parisópolis an die neuen Wohnviertel (Córrego Antonico und Córrego do Brejo) anzuschließen. Die Wege funktionieren zugleich als Sichtachsen, die klare Orientierung und kollektive Bezugspunkte schaffen. Die Bauten, die der Neustrukturierung weichen müssen, werden durch neue Wohn-, Dienstleistungs- und Geschäftsbauten in unmittelbarer Umgebung ersetzt. Über dem Córrego do Brejo wird anstelle der Abbrissbauten ein Park errichtet.

Neue Zentren

Inmitten der bestehenden Wohngebiete wird im Abstand von jeweils zwei Feldern des Erschließungsrasters je ein Wohn- und Geschäftsriegel quer über eine Wegachse gesetzt. Diese mehrstöckigen Riegel ersetzen einerseits die an der Stelle abgerissene prekäre Wohnbebauung, wirken andererseits als Katalysatoren auf ihr urbanes Umfeld: An den Kreuzungspunkten zwischen Wegen und Riegel entstehen öffentliche Räume, die das Blockinnere zugänglich machen und damit aufwerten. Der zu beobachtende positive Konsolidierungsprozess an den Haupterschließungswegen soll dadurch nach innen ausgeweitet werden.

Die Talsohlen und Berghänge

Aufgrund von Erdrutsch- und Überschwemmungsgefahr wird die Wohnbebauung in der Talsohle und in starken Steillagen vollständig abgerissen (Grotão und Grotinho). Dadurch werden die Hügel freigelegt und über die Sichtachsen im Stadtraum präsent. Die alte Wohnbebauung wird hier durch eine andere Wohntypologie ersetzt: bis zu acht Geschossen hoch in die Hügel eingebaut und jeweils über zwei Zugänge auf verschiedenen Niveaus erschlossen, so dass man auf teure Aufzüge verzichten kann. Die neuen Freiflächen werden zum Teil in Grünanlagen und Freizeiteinrichtungen umgewandelt. Höfe und Treppenanlagen dienen als Pufferzone zum Schutz vor Erdbeben.

Neue Wohnquartiere

Insgesamt schlägt dieser Entwurf vier neue Wohntypen vor: neue Zentren als urbane Katalysatoren, Bauten für die Berghänge, Bauten für die Talsohlen und eine Wohnbebauung für die Abrissflächen. Da nicht alle Bewohner wieder unmittelbar auf dem gleichen Grundstück angesiedelt werden können, entsteht am Rand von Paraisópolis ein neues Wohnquartier mit 3.000 neuen Wohnungen in einer offenen Bebauungsstruktur. Bei der Entwicklung dieser Wohntypen wurden herkömmliche Modelle des sozialen Wohnungsbaus nicht angewendet, da diese nicht auf die städtischen Besonderheiten ihrer jeweiligen Standorte eingehen können.

Das Projekt wurde mit dem Preis des Instituts der Architekten Brasiliens (Instituto dos Arquitetos do Brasil) in der Kategorie „städtische Intervention“ 2005-2006 – São Paulo ausgezeichnet.

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Für den Beitrag verantwortlich: ARCH+

Ansprechpartner:in für diese Seite: Anh-Linh Ngoberlin[at]archplus.net

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