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Stadtarchitektur São Paulo
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Das brasilianische Projekt

Urbane Maßstäbe - Architektur als Symbiose von Landschafts- und Stadtraum

São Paulos Stadtbild zeichnet sich durch eine einzigartige Symbiose aus Geographie und Stadtraum aus. Die unterschiedlichen Maßstäbe Landschaft, Stadt und Architektur sind hier in besonderer Weise miteinander verknüpft. Die natürliche Topographie, als eine Abfolge von Plateaus, zerschnitten durch unzählige Täler, hatte großen Einfluss auf die Entwicklung der Stadt und ihre Architektur. Dabei hat die sukzessive Entwicklung städtischer Schichten eine Reihe bemerkenswerter Architekturen hervorgebracht. Der Conjunto Nacional (1955-60), der einen gesamten Stadtblock auf dem Höhenrücken der Avenida Paulista besetzt und das Centro Cultural São Paulo (1979-82), das in den Hang des ehemaligen Flusstals des Itororó gebaut ist, sind beispielhaft für den Umgang mit den extremen Voraussetzungen der Stadtgeographie. Beide Gebäude zeichnen sich durch außergewöhnliche architektonische Qualitäten und ein hybrides Nutzungskonzept aus, das ihnen einen öffentlichen Charakter verleiht.

8. Januar 2009 - Jens Brinkmann
Geographie und Stadt

Geographisch ist São Paulo eine Stadt voller Brüche, zerschnitten durch Flüsse, die tiefe Senken in den weichen Sandstein gegraben haben und die in dem wasserreichen Gebiet natürliche Grenzen bildeten. Die Stadt liegt auf einem Hochplateau mit einer Höhe von 740-830 Metern. Wichtigstes Element des Stadtraumes ist der zentrale Höhenzug, der sich über eine Länge von 14 km erstreckt. Er trennt den Fluss Pinheiros von den Flüssen Tietê und Tamanduateí. Die charakteristische Topographie des Stadtgebiets wurde 1899 zum ersten Mal von Theodoro Sampaio, einem brasilianischen Geographen, detailliert untersucht. In seinen Aufzeichnungen heißt es: „Am linken Ufer des Flusses Tietê gelegen, erstreckt sich die Stadt über die Hänge der Hügel, die zwischen diesem und seinem kleineren Zufluss Tamanduatehy liegen. Die Stadt zeigt eine Geländekontur voller Unregelmäßigkeiten sowie einen markanten Höhenunterschied zwischen ihren unterschiedlichen Teilen und den breiten Senken.“[1]
Das Bild der geteilten, zweigeschossigen Stadt wie Sampaio es beschreibt, erklärt auch den Prozess der Stadtentwicklung São Paulos. Die erste Phase seit der Gründung 1554 ist die Besiedlung der höher gelegenen Gebiete. In dieser Zeit nutzen die Siedler die einfach zu erschließenden Teile der Topographie. So ist die frühe Geschichte São Paulos geprägt durch die Anpassung des Menschen an die schwierigen Bedingungen des Ortes. Dies wird anhand der drei Hauptwege des alten Stadtzentrums nach Süden deutlich. Die Rua da Liberdade, Rua Santo Amaro (deren teilweise Umbenennung in Avenida Brigadeiro Luís Antônio jüngeren Datums ist) und Avenida da Consolação verlaufen alle auf dem Grat der Höhenrücken. Hier fand man eine gute Bodenbeschaffenheit zum Bau fester Straßen vor, die auch starken Regenfällen standhalten konnte. Die einzige Verbindung nach Norden überquerte den Rio Tietê. Nach Osten führte eine Straße in Richtung des Paraíba-Tals. Die übrigen, weitläufigen Gebiete entlang der Flüsse blieben über Jahrhunderte ungenutzte Sumpfgebiete, die aufgrund von Überschwemmungen und der Verbreitung von Krankheitserregern schwer zu besiedeln waren.

Die zweite Phase der Urbanisierung kennzeichnet die Besiedlung der tiefer gelegenen „Resträume“, also der Flusstäler und Senken. Dabei war es vor allem eine neue Verkehrsinfrastruktur, die diese besetzte. Den Beginn dieser Entwicklung markierte 1867 der Bau der Santos-Jundiaí Eisenbahnverbindung. Mit der Umwandlung des Anhangabaú-Flusstals in einen öffentlichen Park erreichte dieser Prozess 1915 auch das höher gelegene Gebiet der Kernstadt.[2] 1930 entwickelte der Architekt Prestes Maia ein städtebauliches Modell radialer Straßen, die konzentrisch um das Stadtzentrum angeordnet sind. Als Prestes Maia 1938 Bürgermeister wurde, begann die Umsetzung dieses an europäischen Vorbildern ausgerichteten Stadtmodells.[3] Der Bau der beiden ersten wichtigen neuen Straßen Avenida Nove de Julho und Avendia Vinte e Três de Maio in ehemaligen Flusstälern bildete den Beginn einer Entwicklung, in deren Zuge viele Flüsse kanalisiert wurden. Dieser Prozess wurde Anfang der 50er Jahre durch ein neues Schnellstraßensystem nach US-amerikanischem Vorbild stark beschleunigt.

Neue Landschaft

1957 beschreibt ein anderer brasilianischer Zeitzeuge, der Ingenieur und Geograph Aziz Nacib Ab’Sábers die Stadt. Anhand seiner Aufzeichnungen werden das Ausmaß und die Geschwindigkeit der städtischen Veränderungen, nur knapp ein halbes Jahrhundert nach Theodoro Sampaio, deutlich. Hier zeigt sich, wie schon in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts natürliche Elemente der Landschaft und städtische Strukturen zum Bild einer neuen Landschaft zu verschmelzen begannen. Dieses Bild hat sich mit der Zeit immer mehr verstärkt. Heutzutage kann man das beeindruckende Phänomen an vielen Stellen des Stadtraums erleben, an denen sich von Brücken und Viadukten weite Blicke in die Stadt ergeben.
Aziz Nacib Ab’Sáber schreibt: „Auf der höchsten Stelle des Höhenzugs verläuft die Avenida Paulista, der geraden Achse der Topographie des zentralen Rückgrats folgend. Auf beiden Seiten des Höhenzugs erstrecken sich Stadtteile und unzählige Gebäude. Auf den auf mittlerer Höhe gelegenen Plateaus, die durch flache Hügel am linken Ufer des Tietê-Flusses gebildet werden, verbindet sich die Masse der kompakten Blöcke des Stadtkerns mit der vertikalen Silhouette der Wolkenkratzer und Hochhäuser. In diesem Teil der Stadt, mehr als in anderen, werden die Elemente des natürlichen Reliefs vollständig durch die zerklüfteten und unregelmäßigen Linien der großen städtischen Konstruktionen verdeckt.“[4]
Das rasante Wachstum São Paulos und die daraus resultierende vollständige Überformung des Stadtraums innerhalb weniger Jahrzehnte hat für die Entwicklung der Stadt eine besondere Bedeutung. In nur hundert Jahren hat sich São Paulo von einer kolonial geprägten Kleinstadt zum Zentrum einer Stadtregion mit globaler Bedeutung entwickelt. In dieser Zeit sind 150 Millionen Menschen nach Brasilien gekommen, um dort zu leben; ein Großteil nach São Paulo. Die wachsende wirtschaftliche Bedeutung der Stadt beschleunigt das Wachstum und führt zur Verdichtung und radikalen Vertikalisierung des Stadtraums.
Durch die Verschiebung des Zentrums hin zur Avenida Paulista entstand eine neue Form der Zentralität, die vollständig mit der Idee der ringförmig um einen Mittelpunkt wachsenden Stadt brach. Das Konzept des linearen Zentrums, die starke Vertikalisierung entlang einer wichtigen städtebaulichen Achse, wiederholte sich im Folgenden mehrmals, wie das Beispiel der Avenida Brigadeiro Faria Lima in den 80er Jahren und die Avenida Luís Carlos Berrini in den 90er Jahren zeigt.

Urbane Maßstäbe

Mitte der 50er Jahre wurde São Paulo zum Symbol der modernen brasilianischen Gesellschaft. Die Zeit war geprägt durch den kulturellen Aufbruch und wichtige infrastrukturelle Errungenschaften. In diese Dekade fallen die 1951 erfolgte Gründung der Kunstbiennale São Paulo durch den Industriellen Francisco Matarazzo Sobrinho, nach Venedig die zweitälteste der Welt, und 1957 der Bau des Museu de Arte de São Paulo (MASP), auf Initiative des Verlegers Francisco de Assis Chateaubriand, verwirklicht von der Architektin Lina Bo Bardi. Insbesondere der Conjunto Nacional von David Libeskind steht neben dem Copan-Gebäude von Oscar Niemeyer (1951-55) und dem Ibirapuera Park (1954) ebenfalls von Niemeyer und Roberto Burle Marx für das neue Gesicht einer ganzen Epoche.
Die 1963 an die Macht gelangte Militärregierung stürzte das Land jedoch in eine tiefe politische und kulturelle Krise. Erst Ende der 70er Jahre setzte erneut ein Prozess langsamer kultureller Öffnung ein. Das Centro Cultural São Paulo der beiden Architekten Eurico Prado Lopes and Luiz Benedito de Castro Telles und das Kultur- und Freizeitzentrum SESC Pompeia (1977-86) von Lina Bo Bardi sind Ausdruck dieser gesellschaftlichen Entwicklung, die ihren Höhepunkt 1985 in freien Wahlen fand.
Der Conjunto Nacional und das Centro Cultural São Paulo repräsentieren städtebaulich die beiden markanten Phasen der Stadtentwicklung. Ihre gesellschaftliche Relevanz liegt in der Erweiterung des öffentlichen Raums; zum einen durch innere Passagen als Verbindung der umliegenden Straßen, zum anderen durch die räumliche Flexibilität eines offenen Territoriums, das die Grenze zwischen Innen und Außen aufhebt. Durch ein hybrides Raumprogramm[5], in Form einer Vielzahl kultureller Angebote und der Mischung städtischer Grundnutzungen, sind Architekturen entstanden, die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Interessant ist auch der Umstand, dass Libeskind, Prado Lopes und de Castro Telles in sehr jungem Alter die Möglichkeit zur Verwirklichung von Bauten solcher Größe und Komplexität erhielten. Hier zeigt sich ein Gesellschaftsmodell, das den Glauben an die Arbeit des Architekten als Tätigkeit im öffentlichen Interesse zeigt. So sind beide Gebäude, gerade in ihrem Status als Ausnahmeerscheinungen, auch Visionen einer neuen brasilianischen Gesellschaft: Das eine als Ausdruck einer neuen städtischen Lebensqualität, das andere als Zeichen politischen Wandels.


Anmerkungen:
[1] Theodoro Sampaio: Apontamentos para o Dicionário Histórico e Geográfico Brasileiro, 1899.
[2] Der Anhangabaú Park verbindet die umliegende Stadt mit dem Theater (1911) und dem Viaduto do Chá (1892), der Tee-Brücke, die als erster Viadukt symbolisch für das städtebauliche Überschreiten der durch die lokale Topographie geschaffenen Grenzen steht. Der Anhangabaú Park wurde später zum Parkplatz und in den 50er Jahren zu einer mehrspurigen Schnellstraße ausgebaut. Heutzutage ist die Schnellstraße durch einen öffentlichen Platz überbaut.
[3] Während Maias Amtsperiode durchlief São Paulo eine Reihe wichtiger städtebaulicher Veränderungen, die großen Einfluss auf die Entwicklung der Stadt hatten (Ulhoa Cintra Schema und Y-System). Sein radiales Modell (Ulhoa Cintra Schema) begünstigte die zukünftige unbegrenzte horizontale Ausdehnung der Stadt.
[4] Vgl. Aziz Nacib Ab’Sáber: Sítio Urbano de São Paulo, 1957.
[5] Auch Le Corbusiers Überlegungen zu neuen Formen des Wohnens in Verbindung mit gemeinschaftlichen und öffentlichen Funktionen waren für die Entwicklung von Gebäuden mit vielschichtigen Nutzungen von großer Bedeutung. Seine Unité d’Habitation in Marseille (1945-52) ist ein wichtiges Beispiel dieses Gebäudetyps.

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