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Istanbul wird grün
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Apartkondu – oder warum ich Howard Roark hasse und den Müteahhit liebe [1]

Der „Müteahhit“ ist einer der wichtigsten und zugleich fragwürdigsten Akteure in der heutigen Istanbuler Baupraxis. Er finanziert und wickelt jede Art von Bauvorhaben für seine Kunden ab, kennt sich aus im unkontrollierbaren Bau-Dschungel und weiß, wie man die geltenden Baugesetze und bürokratischen Hindernisse umgeht. Er trifft schnelle und eigenständige Entscheidungen – nicht unbedingt im Sinne guter Architektur, aber stets auf sein finanzielles Wohlergehen bedacht.

20. November 2009 - Hüsnü Yeğenoğlu
Istanbul 1987. Beim Aufräumen der Wohnung meines verstorbenen Vaters finde ich in einer der Schubladen seines Schreibtisches mehrere Skizzen, die er irgendwann auf dem dünnen Briefpapier eines „Rotary“-Hotels in Genf gezeichnet haben muss. Ich sehe den Grundriss eines Grundstücks mit einer eigenartigen Kontur, den Schnitt eines Appartementgebäudes und Entwürfe für verschiedene Wohnungstypen.

Unter den Skizzen liegt eine Eigentumsurkunde, aus der deutlich wird, dass er 1958 ein 2.522 Quadratmeter großes Grundstück in Fulya Mahallesi im Stadtteil Şişli zusammen mit einem Freund erworben hat. Links oben auf der Urkunde klebt ein kleines Schwarzweißfoto von ihm – ich sehe in das Gesicht eines optimistischen jungen Mannes. Mit dem eleganten Sakko, den mit Pomade nach hinten gekämmten Haaren und seinem festen Blick erinnert er mich augenblicklich an den idealistischen Architekten Howard Roark, gespielt von Gary Cooper, in dem Film The Fountainhead (USA 1949). Die Vorstellung, ein Grundstück in Istanbul geerbt zu haben, erregt mich. In Gedanken sehe ich mich schon auf der Dachterrasse eines von mir entworfenen Gebäudes stehen und die großartige Istanbuler Stadtlandschaft genießen.

Die tanzenden Autos

1988. Bei meinem ersten Besuch in Fulya kommt die Ernüchterung schnell. Das Gebiet in Hanglage ist unübersichtlich und zerklüftet, ich kann beim besten Willen nicht erkennen, wo das Grundstück genau liegt. Der obere Bereich des abschüssigen Terrains ist mit Erde aufgefüllt und dient als Parkplatz. Neben der Einfahrt steht auf einem verrosteten Schild in großen Buchstaben „GÜVEN-OTOPARK“. Hier übergeben Besitzer ihre Autos an junge Männer, die sie mit äußerster Präzision, rasend schnell und so kompakt wie möglich nebeneinander parken. Das zeitgleiche Manövrieren mit mehreren Autos auf engstem Raum sieht aus wie ein Ballett, aber mit tanzenden Autos. Ich bilde mir ein, einige Ähnlichkeit zwischen den Konturen des Parkplatzes und denen des Grundstücks zu erkennen, frage einen der Fahrer nach dem Betreiber und werde zu einer schäbigen Bude geführt, wo hinter einem Schreibtisch ein kahler Fettsack mit einem Schnurrbart so groß wie eine Schuhbürste sitzt. Ohne Umschweife behaupte ich, dass sein Parkplatz sich auf meinem Grundstück befände und er es auf absehbare Zeit räumen müsste, außer wenn er mir nachweisen könnte, dass das Grundstück doch ihm gehört.

Erst hinterher habe ich begriffen, dass meine Herangehensweise absurd, ja gefährlich war. In den stark verdichteten Stadtteilen des Istanbuler Zentrums sind Parkplätze absolute Mangelware und daher big business und außerordentlich attraktiv. In Istanbul gibt es eine sehr aktive und gut organisierte Parkplatzmafia, die leerstehende Grundstücke mietet oder besetzt, um sie als Parkplätze zu betreiben, meistens mit Wissen der Stadtverwaltung und der Polizei. Diese Leute sind nicht zimperlich und warten sicher nicht auf einen Architekten, der sie mit abenteuerlichen Behauptungen konfrontiert.

Die Qualität der Gecekondus

Das steile Gelände direkt unterhalb des Parkplatzes besteht aus einer verwilderten Landschaft mit dichten Sträuchern, hohen Pappeln und stinkendem Hausmüll, durchzogen von schmalen Trampelpfaden, die zu kleinen einstöckigen Häusern, so genannten Gecekondus, im unteren Teil des Geländes führen. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat deren Bewohner nach Istanbul gebracht, wie mir Engin, einer von ihnen, der mich zum Tee einlädt, erklärt. Engin führt mich durch sein Haus, das aus zwei kleinen Zimmern besteht. Das eine Zimmer wird tagsüber als Wohnküche benutzt, abends wird hier für die Kinder die Couch ausgeklappt und zum Schlafen werden Matratzen auf den Boden gelegt. In dem zweiten Zimmer stehen dicht nebeneinander drei Einzelbetten, einige Kleiderschränke und Koffer in allen Größen, als wäre ein Umzug nur eine Sache von Minuten. Strom wird direkt von der städtischen Elektrizitätsleitung abgezapft, was die vielen in der Luft hängenden Kabel, die die Häuser mit den entlang der Straße stehenden Strommasten verbinden, verraten. Obwohl auf Andermanns Grundstück gebaut und daher illegal, sind die Häuser inzwischen durch die Stadtverwaltung an die öffentliche Kanalisation angeschlossen. Das Ganze erinnert mich eher an eine primitiven Eigenbau-Version der suburbanen Gartenstadt als an Wohnen unter menschenunwürdigen Umständen, wie man es mit diesen sogenannten Slum-Vierteln oft assoziiert.

Informalität ohne Chaos

Was mich am meisten fasziniert ist die Tatsache, dass das Fehlen „professioneller Planung“ hier mit Sicherheit nicht zu chaotischen Zuständen geführt hat. Obwohl die Häuser nicht nach einem vorab entwickelten Bebauungsplan angeordnet, gebaut und erschlossen wurden, lassen sich an dem Entstandenen durchaus die Eigenschaften einer „natürlichen“ Raumorganisation ablesen.

Gleichzeitig wird mir aber deutlich, dass ich, wenn diese Häuser wirklich auf dem Grundstück stehen, das ich suche, mit großen Problemen rechnen kann, wenn ich hier bauen wollte. Der Eigentümer eines Grundstücks zu sein, auf dem die Mafia eine Goldgrube von einem Parkplatz betreibt, erscheint mir aber genauso wenig verlockend. In einer solchen Situation liegt es nahe, einen Rechtsanwalt einzuschalten. Nur ist ein Prozess um ein Grundstück in Istanbul eine äußerst schwierige, wenn nicht völlig aussichtslose Sache. Neben der Tatsache, dass ein Gerichtsverfahren mindestens einige Jahre dauert, bedeutet ein positives Urteil noch lange nicht, dass es auch umgesetzt werden kann. Im Prinzip will niemand sich die Finger an den Gecekondus oder an der Grundstücksmafia verbrennen.

Der Komisyoncu

1990. Ich mache die Bekanntschaft von Guy Bavends, einem der letzten Istanbuler Kosmopoliten alter Schule. Der gepflegte Herr ist von französischer Abstammung und bei unserem ersten Treffen sicher schon fünfundsiebzig Jahre jung. Ein Mann, der die Damen mit Handkuss begrüßt, ein immer perfekt gekleideter sympathischer Opportunist und der charmanteste Lügner, den ich je kennen gelernt habe.

Bavend ist einer der typischen Akteure des Istanbuler Bautheaters. In der Schweiz als Architekt ausgebildet, aber de facto jemand, der gute Beziehungen hat, ein Komisyoncu (Vermittler), der weiß wo, wann und in welchem Ton man „wichtige“ und „einflussreiche“ Personen anspricht und sich hierfür gut bezahlen lässt. Ohne den geringsten Zweifel behauptet er, für mich den passenden Bauunternehmer finden zu können. Im Laufe der Zeit wird mir zunehmend deutlich, dass Bavend ein sehr galanter Parasit ist, der vom Schweiß und Geld anderer lebt, aber einem trotzdem immer das Gefühl vermittelt, unentbehrlich zu sein, was ich von Architekten, jedenfalls in Istanbul, nicht behaupten kann.

Inzwischen wurde das Gelände durch Beamte vom Katasteramt eingemessen und zur Erleichterung aller Beteiligten befindet sich mein Grundstück ziemlich genau zwischen dem Mafiaparkplatz und den Gecekondus. Ich selbst bin auch nicht untätig und entwerfe entsprechend dem geltenden Bebauungsplan für Fulya ein fünfgeschossiges Appartementgebäude mit einer kleinen Garage für elf Autos. Mein architektonisches Ego treibt mich, hier ein interessantes Gebäude zu bauen. Ein Juwel in einer halbrunden Form, die wie eine Hand den großen gemeinschaftlichen Garten mit den hochgewachsenen Pappeln einrahmen soll. Während ich mir so meine kleine Utopie ausdenke, fühle ich Roarks strengen, skeptischen Blick in meinem Nacken brennen.

Der erste Müteahhit

1994. Bavend kommt mit einer frohen Botschaft. Ein „Müteahhit“[2] (Projektentwickler, Bauunternehmer) zeigt Interesse. Bei unserem ersten Treffen lerne ich gleich die ganze Familie Tetikçi kennen. Der ältere Bruder ist der Geschäftsführer der Firma, die eigentlich mit thermischen Maschinen und Straßenbau handelt. „Wir investieren auch in Häuser, Tourismus, Leder- und Teppichhandel, wir sind sehr flexibel“, antwortet der ältere Tetikçi auf meine Frage nach der baulichen Kompetenz der Firma. Die Tetikçis sind ein prima Beispiel für diese wichtigste Komponente im Istanbuler Baugeschäft.

Eigentlich lässt sich Müteahhit nicht übersetzen, da ein solcher viel mehr ist als ein einfacher Bauunternehmer. Er hat ein intuitives Gespür für Geschäft und Handel, unterhält ein kafkaesk labyrinthisches Netzwerk mit Beamten vom Stadtplanungsamt, Politikern im Stadtparlament und Polizeibeamten und er hat zumindest „sehr gute“ Verbindungen zur Mafia, wenn er nicht selbst dazu gehört. Er kann äußerst schnell und unkonventionell auf Veränderungen des Marktes reagieren und weiß selbstverständlich genau, wie der Kunde wohnen möchte. Er kann lügen, ohne jemals rot zu werden und tut dies keineswegs, weil er ein geborener Lügner ist, sondern nur, weil das Geschäft und seine Professionalität es erfordern.

Jemand wird in der Regel nicht Müteahhit, weil er Interesse am Bauen hat, sondern weil das Bauen im Vergleich zu sonstigen ökonomischen Aktivitäten einen viel höheren Gewinn erbringt. Ist darum der Müteahhit skrupellos, wie behauptet wird?
Ja, weil er eine yap-sat-kaç (bauen-verkaufen-abhauen) Mentalität kultiviert, in welcher der schnelle persönliche Gewinn die alles bestimmende Triebfeder ist. Ja, weil er zeigt, dass das Recht immer manipulierbar ist und derjenige, der sich trotz alledem noch daran hält, ein Dummkopf. Ja, weil er deutlich macht, dass egozentrisches Plündern städtischer Ressourcen und das Umgehen öffentlicher Regeln und Gesetze sich für ihn persönlich immer lohnt.

Nein, weil ohne ihn Istanbul niemals die Form angenommen hätte, die es inzwischen hat. Der Müteahhit ist, ohne diesem Ziel jemals bewusst nachgestrebt zu haben, der wahre Stadtplaner, derjenige, der dafür gesorgt hat, dass in der Stadt für Millionen von Migranten genügend Wohnraum in allen Preisklassen entstanden ist. Er ist derjenige, der dafür gesorgt hat, dass das Gecekondu-Proletariat zum Nulltarif Besitzer städtischer Appartements geworden ist. Wenn es stimmt, dass der ökonomische Fortschritt Istanbuls in den letzten zwanzig Jahren hauptsächlich mit der Wertsteigerung der städtischen Grundstücke und (illegal-informellen) Bauaktivitäten zu tun hat, dann ist der Müteahhit der unermüdliche Motor dieses Prozesses. Nach dem Erdbeben von 1999 ist der Müteahhit überhaupt der größte Sündenbock und Prügelknabe geworden für alles, was im Istanbuler Baugeschäft faul und korrupt ist. Dies ist äußerst scheinheilig, denn er konnte nur deswegen so erfolgreich sein, weil sehr viele bei „seiner“ Plünderung mitgewirkt und mitprofitiert haben: Grundstücksbesitzer, Politiker, Beamte, Handwerker, die Bauarbeiter und die gesamte Bauindustrie. Roark würde ihn mit Sicherheit verachten, aber der Müteahhit verkörpert durchaus den wahren „Geist“ von Istanbul.

Die Baugenehmigung

1996. Für einen sich selbst respektierenden Müteahhit gibt eine Baugenehmigung nicht an, was die Behörde zulässt, sondern die untere Grenze dessen, was auf einem Grundstück möglicherweise gebaut werden könnte. Ihm geht es hauptsächlich darum, diese Grenzen soweit wie möglich zu überschreiten, um so den Gewinn zu maximieren. Das Gebäude erweitern, ein oder zwei Stockwerke hinzufügen und die Abstandsnormen nicht einhalten sind nur einige Beispiele dafür, wie man die Baugenehmigung ausdehnen und aufblasen kann. Weil im Prinzip alle Beteiligten die Bauregeln missbrauchen, kann dieser Vorgang als durchaus demokratisch bezeichnet werden. Sogar die städtischen Beamten profitieren von diesem System, da sowohl der Erhalt der Baugenehmigung als auch alle Änderungen, die im Nachhinein erfolgen, abgekauft werden müssen. Aus dieser Perspektive betrachtet erscheint das Bauen eines Appartementgebäudes, das von der ursprünglichen Genehmigung abweicht, für alle Beteiligten finanziell notwendig, vernünftig und sinnvoll. Eigentlicher und wirklicher Verlierer in diesem Spiel ist die städtische Ökologie, die in der persönlichen Wahrnehmung aller Beteiligten aber absolut keinen Wert darstellt. Wer aber denkt dann überhaupt noch an die Stadt als Ganzes, würde Roark zu Recht fragen.

Die Baugrube

1997. Nach einem Jahr voller für mich nicht nachvollziehbarer Verhandlungen mit der städtischen Behörde liegt die Baugenehmigung auf dem Schreibtisch des Müteahhit. Besonders stolz ist er auf die Tatsache, dass es ihm gelungen ist, eine zweistöckige Tiefgarage von 3.600 Quadratmetern genehmigt bekommen zu haben, womit die Grundfläche der Tiefgarage inzwischen größer ist als die aller Appartements zusammen. Nach Mitteilung dieser frohen Nachricht und dem flotten Ausheben einer enormen Baugrube ohne Dammwände, die die Nachbarhäuser und die Straße entlang dem Grundstück vor dem Abrutschen sichern würden, bekommen die Tetikçis unerwartet finanzielle Probleme und alle Bauaktivitäten werden gestoppt. Die ausgehobene Baugrube wird zu einem mit Schlamm und Regenwasser gefüllten Krater, in dem Kinder aus der Nachbarschaft lange Zeit ihre Spielzeugboote fahren lassen und Fliegen gemütlich ihre Eier ausbrüten.

Der nächste Müteahhit

1998. In dieser ausweglosen Situation interveniert Bavend. Der Müteahhit, der auf dem Nachbargrundstück, das bei meinem ersten Besuch noch Parkplatz war, ein siebenstöckiges Bürogebäude gebaut hat (obwohl der Bebauungsplan nur Gebäude mit fünf Stockwerken und einer Wohnfunktion zulässt), möchte das Projekt übernehmen. Kömüryapı, so heißt der neue Bauunternehmer, ist neben seinen Bauaktivitäten auch im Devisenhandel aktiv. Nach dem obligatorischen Besuch beim Notar fangen die Bautätigkeiten zügig an. Als ich nach längerer Abwesenheit die Baustelle wieder aufsuche, ist die erste Hälfte der Tiefgarage schon gebaut, was mich sehr freut. Zugleich glaube ich, das Opfer einer optischen Täuschung zu sein, da nach mehrmaligem Zählen die Garage nicht aus zwei, sondern nunmehr fünf Geschossen besteht und außerdem die gesamte Grundstücksfläche von 2.522 Quadratmetern in Beschlag nimmt. Dies wäre doch viel wirtschaftlicher, ist die Erklärung von Kömüryapı und die Behörde würde sicher auch damit einverstanden sein, da in diesem Gebiet ein großer Mangel an Parkplätzen bestünde. Ich müsse mir wirklich keine Sorgen machen. Meine inzwischen reichlich strapazierte Architektenwelt stürzt irreparabel zusammen, ich sehe deutlich, dass mein Entwurf auf die tatsächliche Entwicklung absolut keinen Einfluss hat. Ich bin verzweifelt und spüre, wie sehr Roark mich jetzt verachtet. Nach langen Gewissenskonflikten beschließe ich, mich auf das offene Spiel der Kräfte einzulassen.

Das Gebäude

1999. „Überdecktes Parken 24 STUNDEN geöffnet“ steht auf dem großen Spanntuch direkt über der Einfahrt. Nach der Anzahl der abgestellten Autos zu beurteilen, gehen die Geschäfte äußerst gut. Meine Befürchtung, der Müteahhit könnte sich auch schon mit der Garage zufrieden geben und den Rest einfach nicht mehr bauen, erweisen sich jedoch als unbegründet.

Ein räumliches Problem, für das unter „normalen“ Umständen wochenlange architektonische und statische Umplanung erforderlich wäre, wird mit einer Skizze auf dem Deckel einer Pizzaschachtel auf der Stelle gelöst. Worum geht es? Auf dem Nachbargrundstück hat Kömüryapı sein Bürogebäude direkt auf die Grundstücksgrenze gebaut, ohne den offiziell erforderlichen Abstand einzuhalten. Daher muss der Appartementblock mit seiner ganzen Achse verschoben werden, will man den Bewohnern auf der Stirnseite des Gebäudes noch die Möglichkeit geben, ihre Fenster zu öffnen. Die halbrunde Form des Gebäudes wird mit einigen Strichen in eine S-Form verändert. Die Schnelligkeit dieser Umplanung ist eindrucksvoll, ja schwindelerregend, aber zugleich äußerst bedenklich. Auch die abgetreppte, dem Gefälle des Geländes folgende Kontur des Gebäudes steht der Wirtschaftlichkeit im Wege und wird aufgegeben, so dass es jetzt wegen seiner Monumentalität durch Anwohner die „Chinesische Mauer“ genannt wird.

Geht der Müteahhit hier nicht zu weit? Durchaus nicht, denn inzwischen stehen überall Wohngebäude vergleichbarer Größe so dicht nebeneinander, dass die schmalen und dunklen Zwischenräume unheimlichen Schluchten gleichen, die mich an die finstere Unterwelt in Fritz Langs Film Metropolis erinnern.

High Noon

Der zügige Verlauf der Realisierung endet abrupt mit einer blutigen Abrechnung. Der Partner von Kömüryapı und eigentliche Finanzierer des Gebäudes erschießt nur eine Viertelstunde nach einer Besprechung mit mir auf der Baustelle einen Schuldner, wird festgenommen und verschwindet für einige Jahre im Gefängnis. Der Geldstrom versiegt und ebenso alle Bauaktivitäten. Das Erdbeben von 1999 und die Wirtschaftkrise von 2000 geben dem gesamten Istanbuler Wohnungsmarkt den Rest. Während die „Tiefgarage“ weiter lukrativ genutzt wird, entwickelt sich das von außen verputzte und angestrichene Betonkasko langsam zu einer Ruine. Die zur Anlockung potentieller Käufer perfekt eingerichtete Musterwohnung, die der Müteahhit nebenbei als Büro benutzt, macht einen surrealistischen Eindruck inmitten der dunklen Treppenhäuser, leeren Aufzugsschächte, klemmenden Türen, kaputten Schalungen und herumliegenden Leitungsrohre.

Sogar Bavend hat sich davongemacht und kann „uns“ in dieser Situation nicht mehr helfen, er ist völlig unerwartet verstorben. Aufgrund des immensen Überangebots an Wohnungen in Istanbul, die doch keiner bezahlen kann, sieht sich der Müteahhit keineswegs aufgefordert, nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen. Seine Einschätzung kann ich zwar nachvollziehen, aber noch nicht akzeptieren. Ich befürchte, dass das Projekt, nachdem es sich erst zu einem architektonischen Desaster entwickelt hat, jetzt auch zur finanziellen Katastrophe wird und der Gedanke, Mitbesitzer einer immensen Bauruine zu sein, treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Roarks unerbittlicher Griff um meinen Hals wird unerträglich.
Ein Gespräch mit einem Rechtsanwalt macht mir deutlich, dass ich eine Lösung zusammen „mit“ dem Müteahhit suchen muss, da ein Rechtsstreit extrem teuer und sein Ergebnis unsicher sein würde. Ein Prozess würde unseren „gemeinsamen“ finanziellen Interessen nur schaden, weil dabei der Unterschied zwischen der Baugenehmigung und dem tatsächlich Gebauten offenbar werden würde und alleine das Bereinigen dieses Problems ein Vermögen kosten würde. Er schlägt vor, vorläufig abzuwarten bis der Istanbuler Wohnungsmarkt sich erholt hat.

Inzwischen hebt sich das leere Appartementgebäude wie ein Geisterschiff ab gegen den Hintergrund des Panoramas von Fulya. Völlig verlassen ist es jedoch keineswegs. Der Müteahhit hat seinem langjährigen Fahrer ein Appartement überschrieben, das dieser ausgebaut hat und mit seiner Familie bewohnt. Die Wohnung wird mit einem Ofen geheizt, dessen Kaminrohr trotzig aus einem verbretterten Element in der vor sich hin erodierenden Fassade herausragt. Mit dem Anschluss an die öffentliche Stromversorgung und Kanalisation hat sich in meinen Augen der Übergang vom Gecekondu-Zeitalter in die Apartkondu-Phase endgültig vollzogen. Roark, als Ikone für Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit und architektonische Reinheit hat in Istanbul versagt, die neuen Helden sind die korrupten, bauernschlauen Müteahhit. Sie bauen Istanbul.
Verdienen sie nicht endlich ein Denkmal?

Gewidmet Monsieur Guy Bavend, dem charmantesten Meisterlügner, dem ich je begegnet bin.
Die Namen der Bauunternehmer sind geändert.


Fußnoten:
[01] Zuerst erschienen in: Self Service City: Istanbul, hrsg. von Orhan Esen und Stephan Lanz, Berlin 2005. Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und des Autors.
[02] Das vom arabischen „taahhüt“ („das Versprechen“) stammende Wort „Müteahhit“ („derjenige, der etwas verspricht“, in diesem Falle: die vertragsgerechte Vollendung eines Bauauftrags) wurde durch die Istanbuler Praxis des Bauens in Zeiten der Migration durch eine volkstümliche neutürkische Wortschöpfung, „yapsatçı“ („derjenige, der baut und verkauft“) ersetzt. Die Änderung der Bezeichnung verweist unter anderem auf die Änderung der Rolle. In den 2000er Jahren jedoch zeichnen sich langsam die Konturen einer endgültigen semantischen Trennung beider Begriffe ab: Nunmehr bezeichnet das Wort Müteahhit einen Agenten aus den Reihen des größeren Kapitals, der wieder im klassischen Sinne für (zahlungskräftige) Kunden, gewöhnlich auch für Gemeinden oder staatliche Bauherren (Groß-)Bauprojekte durchführt, während der lediglich im Wohnungsbaubereich eigenständig tätige, aggressivere Kleinkapitalist als „yapsatçı“ bezeichnet wird.

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