Zeitschrift

ARCH+ 195
Istanbul wird grün
ARCH+ 195
zur Zeitschrift: ARCH+

Neue Landschaften

Die Meydan Shopping Mall von FOA in Ümraniye

Ümraniye reflektiert auf räumlicher Ebene die Komplexität urbaner, sozialer und wirtschaftlicher Dynamiken, die das Stadtbild bis heute maßgeblich prägen. In dieses lose, aus Fragmenten zusammenwachsende Vorstadtszenario setzt Foreign Office Architects (FOA) mit der Meydan Shopping Mall eine neue Mitte. Im Zentrum stehen dabei nicht die kommerziellen Aktivitäten. Vielmehr schafft diese neue Architektur einen fließenden, öffentlichen Landschaftsraum und einen Treffpunkt für alle Bewohner.

20. November 2009 - Pelin Tan, Şevin Yıldız
Der Stadtteil Ümraniye liegt auf der anatolischen Seite Istanbuls, gleich hinter dem Hauptzentrum Üsküdar. Das Areal kann als ein städtischer Versuchsraum angesehen werden, der die Bedeutung, Entwicklung und Veränderung Istanbuls seit den 1950er Jahren offenbart. Damals begann sich das Gebiet industriell zu entwickeln und Arbeitssuchende aus Anatolien erschlossen die Region nordöstlich des am Bosporus gelegenen Stadtteils Üsküdar mit Gecekondu-Strukturen. Später wurde die Hauptverkehrsader – die Autobahn E5 –ausgebaut und an die zweite Bosporus Brücke angeschlossen. In der Folge siedelten sich zu beiden Seiten der Autobahn unterschiedliche soziale Schichten an. Die kleinen Dörfer aus Zeiten des Osmanischen Reiches wuchsen so zu einem Zusammenschluss mehrerer Wohnviertel mit gemischten Bevölkerungsgruppen.

In Ümraniye lassen sich verschiedene Stufen dieses Transformationsprozesses ablesen, die auf eine räumlich-wirtschaftliche Vernetzung zurückzuführen sind. Mit dem Wandel von landwirtschaftlicher Mikroproduktion hin zu einer postfordistischen städtischen Wirtschaft veränderte sich die Bevölkerungsstruktur durch den Migrantenzustrom aus Anatolien. Sema Eder beschreibt Ümraniye als einen Ort, an dem Einheimische und Neuankömmlinge schon immer im Konflikt standen.[1] Es bildeten sich viele ideologische, ethnische und religiöse Identitäten heraus, die mit einer räumlichen Fragmentierungen einherging.

Es gibt in Ümraniye sowohl Entwicklungen, die zu einer Ausweitung des Post-Gecekondu-Phänomens führen, als auch eine rege Bautätigkeit von Apartmenthochhäusern und Gated Communities. Inmitten dieser heterogenen Situation definiert die Meydan Shopping Mall einen neuen städtebaulichen Knotenpunkt. Sie liegt nahe einer der großen alten Nachbarschaften Ümraniyes und direkt neben einer neu entstandenen Gated Community unweit der Autobahn E5, die zur Fatih Sultan Mehmet Brücke über den Bosporus führt. Das Einzugsgebiet reicht durch die gute Anbindung auch weit in den anatolischen Teil Istanbuls. Hier treffen unterschiedliche soziale und ökonomische Klassen aufeinander.

Ähnlich wie das 2002 von FOA errichtete Yokohama Terminals steht auch die Meydan Shopping Mall in einer dialektischen Beziehung zur Landschaft und der Umgebung. Die Architekten entwerfen eine aufgeschnittene, entfaltete „Box“, deren Ebenen und Wegeverbindungen zum Teil aus dem Umfeld entwickelt wurde. Allerdings ist es schwer abzuschätzen, wie sich die bauliche Umgebung zukünftig entwickeln wird. Dortige Wohnungsbauprojekte lassen sich durch ihren stark inselartigen Charakter schwer in ein größeres Bebauungsszenario integrieren. Gerade durch das Fehlen eines größeren städtischen Kontextes übernimmt die Meydan Shopping Mall hier die Funktion eines öffentlichen Platzes und Treffpunkts.

FOA zeigen mit ihrem Entwurf eine neue Herangehensweise an die Bauaufgabe. Das Büro entwickelt eine ganz eigene Morphologie, ein Netz aus ineinandergreifenden Wegen und Straßen, das sich in der Tektonik des Daches widerspiegelt. Sie entscheiden sich damit gegen die Formensprache einer introvertierten Mall, wie sie sonst in Istanbul zu finden sind. Die Landschaftsmetapher wird zum wesentlichen gestalterischen Element dieser sorgfältig ausformulierten Architektur. Als fließenden Landschaftsraum mit einer erlebnisreichen Abfolge differenzierter Räume vermittelt sie zwischen dem vorgegebenen Raumprogramm und der formalen Abgrenzung gegenüber der Autobahn. Dieses Projekt bietet eine überraschende Lösung für eine generische Situation, die außer städtischer Infrastruktur nur wenige Bezugspunkte hat.


Fußnoten:
[01] Sema Erder, İstanbul’a bir kent kondu Ümraniye, Istanbul 1996.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: ARCH+

Ansprechpartner:in für diese Seite: Anh-Linh Ngoberlin[at]archplus.net

Tools: