Zeitschrift

ARCH+ 195
Istanbul wird grün
ARCH+ 195
zur Zeitschrift: ARCH+

Superpool – Selva Gürdoğan, Gregers Tang Thomsen

20. November 2009 - Pelin Tan, Şevin Yıldız
Sie haben in den letzten Jahren an vielen Kartierungsprojekten in Istanbul mitgewirkt. Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Arbeit in Bezug auf die soziale, ökonomische und demographische Struktur der Stadt hervorheben?

Unser erstes selbstinitiiertes Projekt war die Erarbeitung einer Dolmuş- und Minibuskarte von Istanbul. Als wir gerade nach Istanbul gekommen waren, wollte mein Büropartner Gregers Tang Thomsen die Stadt zunächst an Hand von Karten verstehen lernen. Das Fehlen jeglicher Karten für öffentliche Verkehrsmittel erschwerte ihm jedoch die Erkundung der Stadt. Aus dieser Notwendigkeit heraus haben wir uns entschieden, selbst Karten zu erarbeiten. Auch wenn die Daten zu allen Dolmuş und Minibuslinien existieren, sind diese der Allgemeinheit nicht zugänglich. Und selbst wenn sie verfügbar wären, so könnte man sie vermutlich kaum lesen. Wir haben die Daten gesammelt, indem wir selbst die jeweiligen Minibusse nahmen und deren Routen aufzeichneten. Das war wesentlich einfacher, als eine Erlaubnis zur Einsicht in offizielles Kartenmaterial zu bekommen.
Im Anschluss begannen wir als Teil der Ausstellung „Becoming Istanbul“ mit der Garanti Galerie ein äußerst ehrgeiziges Kartierungsprojekt. Es beinhaltet etwa 70 Karten, die über verschiedene Transportnetze, Bevölkerungsdichte, Bildungsniveau oder die Verteilung von öffentlichen Einrichtungen etc. informieren (siehe Karten in diesem Heft). Wir haben die Daten wiederum selbst recherchiert, diesmal unter Mitwirkung von Experten wie dem Geografen Murat Güvenç oder dem Verkehrsexperten Haluk Gerçek und vielen Praktikanten.
Wichtiger als die spezifischen Schlüsse, die man aus den Karten ziehen kann, erscheint es uns jedoch, den 14 Millionen Einwohnern Istanbuls ein allgemeines Verständnis ihrer Stadt zu vermitteln, um den Menschen zu helfen, das scheinbar nicht fassbare Chaos zu visualisieren, zu verstehen und sich anzueignen. Unser Ziel ist es, zu zeigen, dass die Stadt und ihre Probleme nicht grenzenlos sind, sondern dass für Probleme, wenn sie erst einmal benannt sind, auch Lösungen entwickelt werden können.

Auf welche Schwierigkeiten stößt ein junges Büro in Istanbul in der Praxis?

Ein junges Büro hat es überall schwer, vielleicht mit Ausnahme der europäischen Länder, in denen Regierungen staatliche Beihilfen gewähren. Unsere Erfahrung in den USA hat gezeigt, dass dort eine Unternehmenskultur vorherrscht, in der man weniger erfahrene Büros nur zögerlich Vertrauen schenkt. In der Türkei hat das Fehlen dieser Unternehmenskultur Vor- und Nachteil zugleich. Der Vorteil liegt darin, dass an der Spitze der meisten Unternehmen Self-made-Männer und -Frauen stehen, die eine gewisse Sympathie für Unerfahrenheit hegen, weil sie auch einmal so angefangen haben. Man kann dadurch leichter ein persönliches Vertrauen aufbauen. In den USA dagegen werden Unternehmen häufig von Vorständen geleitet, die vorzugsweise nach etablierten Büros suchen, da sie das Risiko scheuen. Andererseits kann dieses Fehlen an Unternehmenskultur aber zu einem Mangel an Professionalität und organisatorischen Fähigkeiten führen. Wir sehen uns oft in der Situation, dass gerade die Ungeduld des Kunden die größte Herausforderung für den termin- und finanzgerechten Abschluss eines Projekts darstellt. Zudem fehlt es in Istanbul an einem guten kritischen Diskurs und couragierten Kollegen, aber wir sind davon überzeugt, dass sich das bald ändern wird.

Sie haben beide Ihre Ausbildung im Ausland genossen und erste Berufserfahrungen bei OMA gesammelt. Welchen Einfluss hat diese Erfahrung auf Ihre berufliche Praxis in Istanbul?

Sowohl während unseres Studiums als auch bei OMA herrschte eine sehr ausgeprägte experimentelle Studiokultur. Die wichtigste Lehre, die wir aus der Erfahrung bei OMA ziehen konnten, war die konzeptuelle Offenheit. Für jedes Entwurfsproblem mussten wir so viele Optionen wie möglich entwickeln. Ein neues Projekt beginnt damit, dass ein Team von drei bis fünf Personen für einige Wochen Entwurfsvorschläge erarbeiteten. Dabei wird erwartet, dass sich jeder Einzelne in den Prozess einbringt. Auf jede Fragestellung gab es somit mindestens 20 bis 30 verschiedene Antworten. Da so viele Ideen vorgebracht werden, hat es den befreienden Effekt, dass man keine Angst mehr hat, auch vermeintlich verrückte, dumme oder hässliche Ideen einzubringen. Der Druck ist raus, sobald man das Gebäude nicht mehr in einem Rutsch entwerfen muss. Oft werden Praktikanten mit der Aufgabe betraut, Ideen für das allgemeine Konzept eines Gebäudes zu entwickeln, da sie in Bezug auf Architektur weniger vorgefasste Meinungen haben. In Diskussionen mit Rem Koolhaas wird dann aus all diesen Ideen eine Geschichte entwickelt – es ist eine Art redaktionelle Tätigkeit, für die Koolhaas ein ausgeprägtes Talent besitzt. Dadurch wird der Entwurfsprozess sehr transparent.
In der Hinsicht war OMA eine gute Schule, wir haben viel gelernt.

Inwieweit beeinflussen Ihrer Meinung nach internationale Büros die derzeitige Stadtentwicklung in Istanbul? Welche Erfahrungen haben Sie in diesem Zusammenhang gemacht?

Bis zu einem bestimmten Grad bringt internationale Architektur höhere Standards und Erwartungen mit sich, was eine prima Sache ist. Dennoch ist es enttäuschend, wenn typisch amerikanische Corporate-Architecture zur guten Architektur hochstilisiert wird. Gerade in Istanbul haben Architekten und Designer eine urbane und soziale Verantwortung. Deshalb sollte gute Architektur die Lebensqualität der Menschen auf möglichst vielen Ebenen verbessern. Ein ausgezeichnetes Beispiel hierfür ist das Meydan-Projekt von FOA in Ümraniye (siehe FOA in diesem Heft). Unabhängig davon, ob dieses Projekt im Detail gut ist oder nicht, so ist es unserer Meinung nach ein äußerst erfolgreiches Projekt – in dem Sinne, dass es gelungen ist, mit einer Shopping Mall, die normalerweise eine in sich geschlossene kommerzielle Box ist, einen aktiven urbanen Raum zu schaffen.

Sie wurden als eines von fünf Büros zur Teilnahme am Urban Age Workshop ausgewählt. In dem dabei entstandenen Projekt befassen Sie sich mit städtischen Freiräumen. Welchen Ansatz und welches Anliegen haben Sie dabei verfolgt?

Charakteristisch für osmanische und türkische Städte ist eine komplexe Abfolge nachbarschaftlicher, religiöser und wirtschaftlicher Räume, die verschiedene Grade an Öffentlichkeit schaffen. Ein lebhaftes Treiben auf den Straßen bestimmt den Charakter der Stadt, in der sich häusliche, kommerzielle und Freizeitaktivitäten in einer natürlichen Art und Weise auf den Außenraum hinaus ausdehnen. Entfernt man sich weiter von den aktiven kommerziellen Zentren, zeigen die Straßen einen immer privateren Charakter.
Als sich die Stadt immer mehr verdichtete, wurden allerdings kaum zusätzliche öffentliche Räume vorgesehen. Freiräume sind heute vor allem durch den Fahrzeugverkehr geprägt. Um Istanbuls öffentliche Räume aufzuwerten, glauben wir, dass es wichtig ist, bei den Freiräumen im Wohnumfeld zu beginnen. Das Einführen einer Verkehrshierarchie und einer Infrastruktur für den ruhenden Verkehr kann neue Freiraumkonzepte ermöglichen. Wenn parkende Fahrzeuge von den Straßen verschwinden, wird fast 50 Prozent der Stadtfläche als Raum für neue Nutzungen frei. Dieser Ansatz lässt sich durch eine Hybridisierung von Parkstrukturen und kommerziellen Nutzungen realisieren.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: ARCH+

Ansprechpartner:in für diese Seite: Anh-Linh Ngoberlin[at]archplus.net

Tools: