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Istanbul wird grün
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Die Stadt der Akteure

Der informelle Transformationsprozess der Gecekondus

Die Türkei erlebte im 20. Jahrhundert einen Modernisierungsprozess, der zu einer umfassenden Veränderung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Struktur führte. Industrialisierung, Modernisierung, Verwestlichung und städtisches Wachstum gingen Hand in Hand. Die anhaltenden Migrationsbewegungen von ländlichen Gebieten in die größeren Städte gelten als Schlüsselfaktor dieser Entwicklung. Sie führten zur Herausbildung der „Gecekondus“ (türkisch: über Nacht errichtet), einer neuen Siedlungstypologie, die als Manifestation der tief greifenden Veränderungsprozesse entstand. Sie kann als informelles Gegenmodell zur planmäßigen Stadt gelesen werden. Die Quantität und Geschwindigkeit der Ausbreitung dieser Typologie veränderte die Struktur und das Erscheinungsbild der größeren türkischen Städte, insbesondere Istanbuls, so stark, dass vielerorts von einer Art Neugründung gesprochen wird.[1]

Das Gecekondu aus der Sicht einer dynamischen Stadtplanung

Betrachtet man die Evolution der Gecekondus, die aus einem Wechselspiel urbaner, wirtschaftlicher, sozialer und politischer Prozesse hervorgingen (siehe den Beitrag von Ulus Atayurt/Ayse Çavdar in diesem Heft), fällt die Abwesenheit einer kontrollierenden und planenden Instanz auf. Dies ist sicherlich mit der Quantität und Geschwindigkeit der Migrationsströme zu erklären, die sowohl die bestehende Stadtstruktur als auch ihre planenden Behörden überforderte. Der Umgang mit den Gecekondus ist paradigmatisch. Eine vorausschauende Planung musste zwangsweise einem pragmatischen Reagieren weichen, das sich mehr mit den Folgen der Entwicklung auseinandersetzte als mit deren Ursachen. Mit wenigen wichtigen lenkenden Eingriffen wurde das Phänomen Gecekondu ohne Generalpläne und Großkapital aus eigenem Antrieb und mit wenigen Ressourcen umgesetzt. Gerade der – unfreiwillige – Verzicht auf vorgefasste Gestaltungssatzungen und das Zurückgreifen auf einen prozess- und lenkungsorientierten stadtplanerischen Umgang, der die Chancen eines partiellen Eingreifens in die komplexen Prozesse eines offenen Stadtsystems nutzt, ermöglichten diese dynamische Stadtplanung.

Masse und Geschwindigkeit als kritische Faktoren

Aufgrund der Masse und der Geschwindigkeit der Entwicklung wurden die konventionellen Planungsorgane ausgeschaltet. Für die Entstehung und Weiterentwicklung des Gecekondu als Manifestation einer selbstorganisierten Stadtproduktion ist eine Mindestanzahl von interagierenden Akteuren notwendig. Die zur Herausbildung informeller selbstorganisierender Stadtstrukturen notwendige Masse wird aus der Anzahl der Akteure, dem Grad der Aktivität dieser Akteure und dem Grad der Interaktion zwischen den Akteuren bestimmt. Wird diese kritische Masse unterschritten, kommt es zwar zu bestimmten lokalen Handlungsergebnissen, diese bilden jedoch keine dauerhaften globalen Strukturen und Ordnungsmuster heraus.[2] Zur Kategorie der Masse tritt die Dimension der Geschwindigkeit. Erst aufgrund der Geschwindigkeit entgleitet den Behörden die Kontrolle, so dass die Stadt zur unmittelbaren und weitgehend unkontrollierten Materialisierung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Prozesse wird.

Planung durch Lenkung immaterieller Prozesse

Das Ausmaß und die Geschwindigkeit der informellen Besiedlung führten dazu, dass die konventionellen Planungspraktiken nicht mehr griffen und auf wenige kontrollierende und steuernde Eingriffe beschränkt werden mussten. Der Staat reagierte anfänglich mit Verboten und Zerstörungsaktionen. Das 1966 verabschiedete Gesetz 775 zur Regelung der besetzten Siedlungen sah eine Mischung aus Verboten informeller Siedlungen und der Bereitstellung von Unterkünften für evakuierte Bewohner vor.[3] Nachträgliche Gesetzesrevisionen ermöglichten nun Legalisierungen und Nachrüstungen der bestehenden Gebiete mit verbesserter Infrastruktur. Die wesentlichen planerischen Eingriffe waren die Politisierung der Gecekondus, die sich so zur kollektiven gesellschaftspolitisch relevanten Herausforderung formierten, sowie deren Legalisierung und die Verbesserung der baulichen und infrastrukturellen Substanz. Der planerische Umgang führte in dem Moment zu Erfolgen, in dem die beschränkte Sichtweise auf die unerwünschten physisch-materiellen Resultate der informellen Besiedelung zugunsten einer zunehmenden Akzeptanz der dahinter stehenden komplexen menschlichen Faktoren wich.

Die Stadt der Akteure

Das Gecekondu ist eine Form der Urbanisierung, die maßgeblich auf der Aktivität ihrer Erbauer und Bewohner beruht. Die sozial und wirtschaftlich prekäre Situation der Gecekondu-Siedler bildet dabei die Grundlage, während die Verbesserung dieser Situation die treibende Kraft einer groß angelegten Entwicklung von der ärmlichen Übergangsbehausung zur quasi-formellen Stadt darstellt. Das soziologische Profil der Bewohner ist hierbei von großer Bedeutung. Es entsteht ein neuer sozialer Typ, eine Mischform aus Land- und Stadtbewohner, der durch dörfliche Sozialstrukturen und Wertvorstellungen geprägt ist, die von neuen städtischen Verhaltensmustern und kulturellen Zügen überformt werden. Die Gecekondu-Phase der türkischen Gesellschaftsentwicklung führt zu einer gewissen kulturellen, politischen und religiösen Homogenisierung. Das Gecekondu entstand in einem Zwischenraum zwischen ländlichen Zwängen und städtischen Freiheiten und Möglichkeiten, das durch geschicktes Verhandeln und Agieren zu einer erfolgreichen informell-formellen Stadttypologie ausformuliert werden konnte.

Gecekondu als dynamische Form

Das Gecekondu entstand als individueller und kollektiver Lösungsansatz, der auf die Mängel eines Systems reagierte, das nicht in der Lage war, die grundlegenden Bedürfnisse nach Unterkunft und Arbeit einer im Zuge der Urbanisierung entstandenen Gesellschaft zu befriedigen. Zu seinen Schlüsseleigenschaften zählt die Anpassung an die Bedürfnisse der Bewohner und an die von außen gesetzten Grenzen und Restriktionen. Es unterlag einem anhaltenden Konstruktions- und Transformationsprozess, wurde mit dem sozialen Aufstieg vieler Bewohner modifiziert und mit steigenden Qualitätsanforderungen erweitert. Die Bewohner wiederum durchlebten die Stadien vom Dorfbewohner zum informellen städtischen Siedler, zum politischen Akteur, zum wirtschaftlich handelnden Akteur des Immobilienmarktes und letztendlich zum Stadtbewohner.[4] Gecekondus können als Übergangsgebiete der Modernisierung gesehen werden, die sich auf alternativen Wegen der formellen Stadt annäherten und sich mit dieser verbanden. Das Gecekondu stellt eine neue Form der türkischen Großstadt dar, das über weite Strecken seiner Entwicklung eine Hybridform zwischen Stadt und Land, zwischen Moderne und Tradition bildet.


Fußnoten:
[01] Etwa 50% aller Häuser Istanbuls konnten im Jahr 1995 der Gecekondu-Typologie zugerechnet werden. Quelle: Josef Leitman/Deniz Bahoroğlu, Informal Rules using institutional economics to understand service provision in Turkey’s spontaneous settlements, in: Journal of Development Studies 5 (1998).
[02] Hierfür könnte man die Entwicklung der Slums ab ca 2002 anführen. Unter anderem aufgrund mangelnder Interaktion und fehlendem sozialen Zusammenhalt unter den Siedlern erfahren diese in absehbarer Zeit keine positive Transformation.
[03] Für eine genauere Darstellung der Entwicklung der sich mit Gecekondus beschäftigenden Gesetzeslage siehe Özsoy Akşen, Gecekondu biçimlenme süreci ve etkenlerinin analizi, Phil. Diss. Istanbul Technical University 1983.
[04] Im Zuge dieser Metamorphose wird dem Islam eine vermittelnde und ausgleichende Rolle zugeschrieben, etwa bei Kemal H. Karpat: The Genesis of the Gecekondu: Rural Migration and Urbanization, in: European Journal of Turkish Studies, 2004.

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