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ARCH+ 196/197
Post-Oil City
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Nahrungsmittelproduktion in der Stadt

Von Community Gardens zu Vertical Farming

12. Februar 2010 - Carolin Mees
Das Thema der urbanen Landwirtschaft wird aktuell in der Stadtplanung breit diskutiert. Hintergrund dieser Diskussion ist paradoxerweise der zunehmende Urbanisierungsgrad. Prognosen sagen voraus, dass im Jahr 2030 60 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben werden. Damit vergrößert sich auch der ökologische Fußabdruck der Städte erheblich. Bereits heute sind Städte für rund 70 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich, ein nicht unerheblicher Anteil davon entfällt auf den Transport und die Nahrungsmittelversorgung. Eine nachhaltige Stadtplanung muss daher auch die Verkürzung und Vermeidung von Transportwegen und die Aktivierung lokaler und regionaler Systeme zum Ziel haben.

Die gegenwärtige Attraktivität landwirtschaftlicher Tätigkeit innerhalb der Städte ist jedoch auch ein Indiz für die aktuelle wirtschaftliche Rezession. Denn das Thema gewinnt immer wieder dann an Bedeutung, wenn steigende städtische Armut und abnehmender wirtschaftlicher Druck eine Zwischennutzung von Brachflächen für den Anbau von Gemüse und Obst zur Selbstversorgung sinnvoll erscheinen lassen. Heute verbindet sich das Thema zudem mit dem Anspruch auf eine nachhaltige und gesunde Lebensführung.

Nahrungsmittelanbau in New York City

Dass urbane Landwirtschaft kein neues Thema ist, sondern eine lange Tradition besitzt, zeigt besonders ein Blick in die USA. Dort wird bereits eine bedeutende Menge von Nahrungsmitteln in städtischen Gärten und Farmen erzeugt. Professionelle Produzenten, Gemeinschafts- und Hinterhofgärtner und sogar Food Banks nutzen Brachflächen, Parks, Glashäuser, Dachflächen, Balkone, Fensterbänke und die Uferzone von Gewässern für den Anbau von Nahrungsmitteln. Ein Drittel der zwei Millionen Farmen des Landes sind innerhalb städtischer Grenzen angesiedelt; sie produzieren 35 Prozent des nordamerikanischen Bedarfs an Obst und Gemüse, Hühnerfleisch und Fisch.

Wie in den meisten anderen Metropolen gibt es im Stadtzentrum von New York kaum Grundstücke, die groß genug sind, um landwirtschaftliche Nutzung zu ermöglichen. Dafür existieren kleinere Brachflächen, die bereits als Gärten genutzt werden; sie lassen sich leicht für den Anbau von Nahrungsmitteln aktivieren.

Ein Beispiel der erfolgreichen Zwischennutzung privater und öffentlicher Grundstücke bieten seit über 30 Jahren die Community Gardens. Im Gegensatz zur urbanen Landwirtschaft dienen diese Gärten größtenteils der Selbstversorgung und reagieren als private und gemeinschaftliche Form der Landnutzung auf die Bedürfnisse der Nachbarschaft. Anders als einige Kleingartenkolonien in Deutschland sind die Community Gardens nicht dauerhaft durch die Gesetzgebung geschützt. Dass diese Gärten dennoch so lange im Stadtraum bestehen bleiben konnten, erklärt sich nicht zuletzt durch die historische Verankerung der Idee.

Ein Vorläufer der Community Gardens waren die sogenannten Relief Gardens bzw. Victory oder War Gardens, die die US-Regierung während der Weltkriege und der Weltwirtschaftkrise Ende der 1920er Jahre aufgrund von Nahrungsmittelknappheit propagierte. Die Regierung stellte der Bevölkerung amerikanischer Großstädte Land zur Verfügung und animierte sie, in Parkanlagen, auf öffentlichen Grünflächen, in privaten Hinterhöfen und auf Dachterrassen gemeinschaftlich Gärten zur Selbstversorgung anzulegen. Selbstanbau entlastete das öffentliche Budget und brachte eine soziale Stabilisierung. Während des Ersten Weltkrieges produzierten in den USA fünf Millionen Bürger auf diese Weise Nahrungsmittel im Wert von 520 Millionen Dollar in zwei Saisonzyklen. Im Zweiten Weltkrieg gärtnerten an die 20 Millionen Familien in sogenannten Victory Gardens und sicherten so im Jahr 1944 rund 40 Prozent der nordamerikanischen Nahrungsmittelversorgung.

Nach Kriegsende wurde der Anbau von Obst und Gemüse auf öffentlichem Boden wieder untersagt und die Sicherung der Nahrungsmittelversorgung ging von neuem an landwirtschaftliche Betriebe außerhalb der Stadt über. In der NachkriegszeitStattdessen wurden Transportsysteme ausgebaut und der Neubau von Wohnungen an der städtischen Peripherie subventioniert, um die Wirtschaft anzukurbeln und die Stadtentwicklung an die steigende Bevölkerungszahl anzupassen. Dadurch entstand der neue Typus des automobilisierten Vorstädters und mit ihm die Attribute der neuen Lebensweise: Supermarktketten, Tiefkühlkost und Fast Food-Restaurants. In der Innenstadt wurden auf öffentlichen und privaten Brachen Wohnbauten errichtetDie innerstädtischen Brachen wurden bebaut. Dass damit der während der Krisenzeiten geschätzte Freiraum reduziert wurde, erschien wirtschaftlich zweitrangig.

Bis zu den Ölkrisen der 1970er Jahre nahm die Bevölkerungszahl von New York weiter zu und der Stadtraum verdichtete sich kontinuierlich. Mit dem weltweiten Anstieg des Ölpreises stürzten die von fossiler Energie abhängigen Industriestaaten jedoch in die Rezession. Nachdem 1974 die Stadt New York finanziellen Bankrott angemeldet hatte, wurde die Wartung infrastruktureller Stadtsysteme drastisch reduziert, Polizei- und Feuerwehrstationen geschlossen. Vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte lohnte sich auch die Investition in Mietwohngebäude im Stadtzentrum nicht mehr: Die Bevölkerungsteile, die es sich leisten konnten, waren in die Vorstädte abgewandert und erhöhte Betriebskosten konnten nicht über Mieterhöhungen auf die verbleibende, vorwiegend einkommensschwache Bevölkerung abgewälzt werden. Zudem gingen in dieser Zeit in New York Grundstücke bei Nichtzahlung der Eigentums- und Grundsteuer nach nur einem Jahr in das Eigentum der Stadt über, so dass viele Grundstücksbesitzer in verarmten Bezirken wie der South Bronx ihre Gebäude in Brand stecken ließen, um als Wiedergutmachung für ihre Investitionen die Versicherungsprämie zu kassieren. Im Jahr 1975 lag in der Bronx ein Viertel der Gesamtfläche des Bezirks brach.

Mit dem Wegzug eines großen Teils der Bevölkerung aus der Innenstadt schlossen Geschäfte und Supermärkte. Die verbliebenen Anwohner organisierten sich in Nachbarschaften und begannen, auf brachliegenden Grundstücken Gärten zur Selbstversorgung, sogenannte Community Gardens, anzulegen. Die Stadt unterstützt diese Stadterneuerung in Eigenregie seit 1978 durch das Programm „GreenThumb“, über das sie den Anwohnern Materialien und technisches Know-How zur Verfügung stellt. Aufgrund ihres jahrelangen Engagements konnte die Bevölkerung vielerorts ihr Gartenland gegen Bebauungsvorhaben verteidigen – selbst in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs.

Heute gibt es im Stadtgebiet von New York mehr als 700 Community Gardens, von denen rund 600 auf städtischem und 100 auf privatem Grund liegen. In den fünf New Yorker Bezirken belegen sie laut der Community Garden Organisation „GreenGuerillas“ eine Fläche von rund 809.300 Quadratmetern, etwa die Hälfte davon dient der Nahrungsmittelproduktion. Die durchschnittlich 46,5 Quadratmeter großen Community Gardens sind entweder in mehrere einzelne Beete aufgeteilt oder verfügen über ein großes gemeinsames Beet, je nach kulturellem Hintergrund und sozialer Struktur der Gartengruppe. Im Zentrum steht meistens eine Gartenhütte, die zu verschiedenen Anlässen der Nachbarschaft als Gemeinschaftsraum dient.

Die Nahrungsmittel werden an Nachbarn und Freunde vergeben, auf Bauernmärkten verkauft oder auch Suppenküchen zur Verfügung gestellt. Der Anbau wird häufig auf den spezifischen Bedarf sowie die kulturellen Vorlieben der Nachbarn ausgerichtet.
Die Community Gardens zeigen, dass eine intensive Produktion von Nahrungsmitteln in der Stadt möglich ist. Im Gegensatz zu den Victory Gardens, die als kurzfristige Antwort auf eine Krise auf politischen Beschluss hin angelegt wurden, sind sie Ausdruck einer „grassroots“-Bewegung, die flexibel auf die lokalen Bedürfnisse eingeht: Ein Garten kann als Spielplatz, Gemeindezentrum oder auch für die Versorgung genutzt werden und sich über Jahrzehnte im Stadtraum halten.

Neue Konzepte der Nahrungsmittelversorgung in New York

Da die Bevölkerungszahl von New York rapide zunimmt – im Jahr 2030 wird voraussichtlich eine Million Bewohner mehr im Stadtraum wohnen –, muss die Nahrungsmittelproduktion vor Ort extrem gesteigert werden, wenn der lokale Bedarf klimagerecht gedeckt werden soll. Da gleichzeitig die Anzahl von brachliegenden Grundstücken in der Innenstadt abnimmt, müssen neue Formen der Stadtraumnutzung zum Anbau von Obst und Gemüse, aber auch neue Systeme für die Vermarktung der erzeugten Produkte entwickelt werden.

Eine wichtige Einrichtung für die Verteilung von lokal produzierten Nahrungsmitteln sind die unter dem Namen Greenmarkets im Jahr 1976 eingerichteten Farmers’ Markets. Diese Bauernmärkte wurden stadtweit von der gemeinnützigen Organisation Just Food vor allem für den Verkauf von Produkten aus den Community Gardens eingerichtet. Als Schnittstelle zwischen urbanem Gärtnern und urbaner Landwirtschaft bieten sie den Community Gardeners über den Verkauf der Nahrungsmittel die Möglichkeit, wieder in ihre Gärten zu investieren und ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Zugleich wird die Versorgung einkommensschwacher Bezirke wie Brooklyn und der Bronx gestärkt, in denen der Großteil der Community Gardens liegt und wo es aufgrund der wenigen, schlecht bestückten Supermärkte kaum Zugang zu frischen, bezahlbaren Produkten gibt. Im Jahr 2005 sind in New York über 3000 solcher Farmers’ Markets abgehalten worden. Beinahe die Hälfte der dort angebotenen Produkte stammte aus städtischen Gärten, der Rest kam von Farmen aus der Umgebung.

Ein Beispiel für die Umnutzung innerstädtischer Flächen für urbane Landwirtschaft ist die Red Hook Community Farm. Sie wurde im Jahr 2003 in Zusammenarbeit zwischen gemeinnützigen Organisationen und dem New Yorker Parks Department sowie mit Unterstützung von Nachbarn auf einem ehemaligen Baseballfeld im südwestlichen Teil von Brooklyn angelegt. Durch das Aufhäufen von Mutterboden wurde der asphaltierte, rund 11.130 Quadratmeter große Platz zu einer produzierenden Farm, die gleichzeitig als Plattform für soziale Programme dient, wie etwa ein landwirtschaftlich ausgerichtetes Lernprogramm für Jugendliche.

Seit ihrer Einrichtung wurden in der Red Hook Community Farm geschätzte zwölf Tonnen Nahrungsmittel zum Verschenken, Verkauf und Eigenverbrauch angebaut und dabei in dieser lokalen Institution Einkommen im Wert von 120.000 Dollar erzeugt. Da dieses Farmprojekt so erfolgreich war, hat die Trägerorganisation Added Value in diesem Jahr eine zusätzliche, 12.140 Quadratmeter große Farm auf Governors Island angelegt. Ziel war dabei laut Added Value nicht allein die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion und die Sicherung der nachhaltigen Entwicklung dieser Insel, sondern auch das Angebot weiterer Lernprogramme für die Jugendlichen von South Brooklyn.

Im New Yorker Stadtgebiet werden zahlreiche alternative Formen urbaner Landwirtschaft, bis hin zu vertical farming, zur Produktion von Nahrungsmitteln diskutiert und erprobt. Trotz dieses Erfindungsreichtums scheint rein rechnerisch die Produktion des gesamten Nahrungsmittelbedarfs einer Stadt auf ihrem eigenen Boden bei Erhaltung des Lebensstandards unmöglich. Für die Versorgung einer Großstadt wie London wurde beispielsweise berechnet, dass etwa die 120-fache Fläche des Stadtgebiets nötig wäre. Die beschriebenen Projekte sind jedoch aus einem anderen Grund wesentlich: Sie schaffen ein neues Bewusstsein für den Umgang mit Nahrungsmitteln und können in Verbindung mit sozialen Programmen lokale Initiativen zur Verbesserung der Lebenssituation stärken.


[Carolin Mees ist Architektin und Universitätsassistentin am Institut für Architektur und Landschaft der TU Graz. Sie schreibt derzeit an ihrer Doktorarbeit über Community Gardens in der South Bronx von New York an der Universität der Künste in Berlin.]

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Für den Beitrag verantwortlich: ARCH+

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