Zeitschrift

Hintergrund 45
Balkanology
Hintergrund 45
zur Zeitschrift: Hintergrund
Herausgeber:in: Architekturzentrum Wien

Warum Balkan?

2. Februar 2010 - Dietmar Steiner
Weil der Balkan die spannendste Region Europas ist. Nochmals warum? Weil sich durch den Zusammenbruch des Kommunismus und die folgende wilde Urbanisierung durch einen hemmungslosen Früh- Kapitalismus die Länder Südosteuropas auch als Labor einer neuen und hungrigen Architektur präsentieren. Nur hier ist der „alte Kontinent Europa“ jung und dynamisch. Und ich stellte mit zunehmender Beschäftigung mit dem Balkan fest, wie ignorant und ahnungslos wir in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs gegenüber den intellektuellen und architektonischen Leistungen dieser Region Europas waren und auch heute noch sind. Gleichzeitig wissen wir inzwischen, dass die architektonischen und künstlerischen Leistungen des Balkans – ja des ganzen ehemaligen Ostblocks – denen von Westeuropa im 20. Jahrhundert durchwegs ebenbürtig waren. Die Grenzen der politischen Systeme hinderten die Ideen und Konzepte der Architektur und des Städtebaus nicht daran, in beiden Lagern wirksam zu sein. Sträflich nachlässig war nur die internationale mediale Aufmerksamkeit dafür.

Osteuropa und der Balkan wurden in der Architekturgeschichte und -kritik der westeuropäisch-nordamerikanischen medialen Hegemonie einfach nur marginal wahrgenommen. Ja, es gab einige Blitzlichter: des Otto Wagners-Schülers Josef Plecˇ nik urbanistische und architektonische Visionen für Slowenien – von der Postmoderne wiederentdeckt. Die Moderne in Bukarest aus den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts – schon vor vielen Jahren mit einer Ausstellung im Westen gewürdigt. Kenzo Tanges Plan für den Wiederaufbau von Skopje nach dem Erdbeben von 1963 – weitgehend vergessen. Die radikal modernistischen jugoslawischen Stadtplanungen für Neu-Belgrad und Neu-Zagreb – im Zuge der Verteufelung der europäischen Peripherie ignoriert. Und Bogdan Bogdanovic´s Denkmäler und Monumente selbstverständlich, als einzigartige Landmarks einer surrealistischen Architektur – immer noch zu wenig bekannt. Dies sind nur einige diskursive Momente in der noch immer unentdeckten rezenten Architekturgeschichte dieser europäischen Region.

Das Westeuropa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die touristischen Angebote des Balkans konsumiert. Die kroatische Adria, die bulgarische Schwarzmeerküste, die rumänischen Bärenjagden. Mehr wollten wir früher von Südosteuropa nicht wissen. Seit nunmehr 20 Jahren gehören diese Länder auch politisch wieder zum gesamteuropäischen Kulturraum, und die wirtschaftliche Verflechtung ist evident, im Guten wie im Schlechten. Natürlich sind die zivilgesellschaftlichen Institutionen und Instrumente noch lange nicht genügend entwickelt. Misstrauen und Apathie der Bevölkerung gegenüber jedweder politischen Repräsentanz sind bestimmend. Noch Jahrzehnte werden die südosteuropäischen Länder mit jeweils Warum Balkan? Dietmar Steiner Übrigens … unterschiedlicher Intensität als „Übergangsgesellschaften“ bezeichnet werden müssen. Es gibt Szenarien, die beispielsweise dem EU-Mitglied Rumänien erst in 80 Jahren einen mit Westeuropa vergleichbaren Standard prophezeien. Misswirtschaft, Korruption, unsichere und unklare legistische Rahmenbedingungen, politische Willkür, all das wird noch lange vorhanden und bestimmend sein. Dies bietet aber keinen Grund für westeuropäische Arroganz, wo vielleicht nur die Mechanismen subtiler, die Manöver versteckter sind. Aber die politwirtschaftlichen Desaster von Ländern wie Kärnten und Griechenland heute beweisen, dass die Zustände am Balkan nicht kausal mit deren kommunistischer Vergangenheiten verbunden werden können. Dies alles soll uns nicht daran hindern, diesen europäischen Raum in seiner ganzen Vielfalt zu entdecken. Eine Vielfalt im urbanistischen, landschaftlichen und kulturellen Sinn, die aber in ihrer politischen Dimension eine enorme Zerrissenheit beinhaltet. Überall am Balkan erleben wir einen oftmals absurd und aussichtslos scheinenden Prozess der Suche nach nationalen Identitäten, der mit den Jugoslawien-Kriegen keineswegs beendet ist. Dazu muss man immer wieder die territoriale Geschichte des Balkans zu Rate ziehen, um die heutigen Verwirrungen zu verstehen. Die unklaren Grenzen der südosteuropäischen Ethnien waren immer schon vorhanden, nur überdeckt vom Habsburger-Reich und der osmanischen Herrschaft – und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch den Kommunismus.

Der Balkan, Südosteuropa, wird in Zukunft die größte politische Herausforde- rung der Europäischen Gemeinschaft sein. Immerhin haben wir es hier mit rund 65 Millionen Menschen (ohne Istanbul) zu tun, eine Zahl, die ziemlich genau der Population von Frankreich entspricht, aber aufgeteilt in derzeit 10–11 (Kosovo) Staaten. Zählt man Österreich (aus kulturellen Gründen) und Ungarn (aufgrund der ethnischen Verflechtungen mit Rumänien) auch noch zu Südosteuropa, zum Balkan, dann summiert sich die Bevölkerungszahl auf 83,5 Millionen, womit auch Deutschland (82 Millionen) als größtes Land der EU von diesem gemeinsamen Kulturraum überholt wäre. Der Balkan, was immer das ist, könnte so eine führende Rolle im kommenden Europa spielen.

Und das ist nicht zynisch gemeint. Denn unentdeckt ist, trotz der Literaturnobelpreise an Ivo Andric´ und nun an Herta Müller die reiche kulturelle Tiefe dieser Region, das enorm hohe intellektuelle und künstlerische Potential, das sich selbst unter kommunistischer Herrschaft entwickeln konnte und auch heute noch vorhanden ist. Ja, wir können lernen von der multikulturellen Vielfalt, auch wenn sie selbst in der Region nicht als Chance erkannt wird, sondern in Abgrenzungsritualen für die Konstruktion von fiktiven Identitäten verwendet wird. Und ja, wir müssen uns einlassen und beschäftigen mit der Geschichte von Kyrill und Method, mit Alexander dem Großen und mit der osmanischen Kultur in diesem unserem Europa. All das mag uns heute noch genauso fremd sein wie der rationale Protestantismus Skandinaviens oder die Stierkämpfe Spaniens, aber es ist unsere Realität.

Nach nun jahrelanger Beschäftigung mit dem Balkan, nach vielen Besuchen, Begegnungen, Gesprächen und Freundschaften ist mir die Besonderheit ebenso wie die räumliche Nähe und kulturelle Verbundenheit bewusst geworden. Es mag sein, dass sich der alpine Westen Österreichs noch einer „Alpenfestung“, die bis Grenoble reicht, zugehörig fühlt. Der Rest des Landes hingegen, entlang des Weges der Donau bis zum Delta im Schwarzen Meer, mit „Wien als Zentrum und Metropole des Ostens“ (Haim Harari) und auch von Graz in den Süden, hat eine starke emotionale und kulturelle Verbindung mit dem Südosten Europas, die auf Gegenseitigkeit beruht.

Was also können wir nun vom Balkan lernen? Dank des ausgezeichneten Architekturmagazins „Oris“ aus Zagreb und vieler anderer Kanäle der Information wissen wir inzwischen, dass die junge Architektur Südosteuropas, vor allem jene Sloweniens und Kroatiens, mit hervorragenden Beispielen aufwarten kann. Aber generell genauer zu betrachten sind die Strategien der neuen Urbanisierung, die unter den Stichworten „Balkanology“ oder „Balkanization“ an Gewicht gewinnen. Sie erlauben es, unsere westeuropäischen Strategien grundsätzlich zu überdenken.

Ich behaupte jetzt nicht, dass der Prozess eines weitgehend regellosen informellen Bauens, wie er sich am Balkan realisiert, ein anzustrebendes urbanistisches Ideal wäre. Lernen können wir nicht von der hemmungslosen Spekulation – die haben wir in verdeckter Form auch. Lernen können wir nicht von der brutalen Durchsetzung privater Investoren-Interessen zu Lasten des öffentlichen Raumes und gemeinwirtschaftlicher Anliegen – das ist auch in Westeuropa nicht unbekannt. Aber lernen können wir von den Abwehrstrategien der vielen Bottom-up-Initiativen, die Widerstand leisten und generell die „Gestaltung der Stadt“ zu einer Sache der politischen Verhandlung mit der betroffenen Bevölkerung und den politischen Entscheidungsträgern erklären. Denn es ist eine reale Tatsache: Die wilden neuen Ränder der Städte am Balkan unterscheiden sich in ihrer gebauten Ungestalt absolut nicht von der angeblich geplanten Stadtentwicklung – in Wien- Donaustadt beispielsweise …

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Hintergrund

Ansprechpartner:in für diese Seite: Martina Frühwirthfruehwirth[at]azw.at

Tools: