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ARCH+ 200
Kritik
ARCH+ 200
zur Zeitschrift: ARCH+

Herausbildung der Architekturkritik

Um 1750

25. Oktober 2010
„Die Verschiedenheit der Urtheile des Geschmacks, die ohne Schaden der Richtigkeit auf beiden Seiten bestehen kann, hat den Nutzen, daß das critische Gleichgewicht unter den Kunstrichtern dadurch erhalten wird. Es ist dem Wachsthume und der Aufnahme der Wissenschaften, inbesonderheit der schönen Wissenschaften, nichts zuträglicher als beständige Streitigkeiten der Kunstrichter, wenn sie vernünftig geführet werden. Und nichts ist dieser Absicht schädlicher, als ein allgemeiner Friede in der gelehrten Welt.“
Georg Friedrich Meyer, 1745

Ableitung der Theorie aus der Praxis

Schon in der Antike wird die handwerkliche Praxis des Bauens in theoretischen Schriften reflektiert, um Prinzipien für eine Bewertung von Architektur festzuschreiben. Ältestes Zeugnis aus dieser Zeit sind Vitruvs 10 Bücher über Architektur, in denen der Autor u.a. die Einheit von handwerklicher (fabrica) und geistiger, also theoretischer Arbeit (ratiocinatio) des Architekten postuliert. In der Renaissance, die ihren architektonischen Ausdruck in den Vorbildern antiker Bauwerke sucht, beeinflussen Vitruvs Schriften maßgeblich die neue Stilrichtung und die Herausbildung einer eigenständigen Architekturtheorie. Mit der von den Theoretikern dieser Zeit forcierten Trennung zwischen geistiger Arbeit, dem Entwurf, und handwerklicher Ausführung, dem Bauen, entstand von nun an eine sich weitende Kluft zwischen Theorie und Praxis. Damit wurde deren noch auf das mittelalterliche Zunftsystem zurückgehende Einheit aufgehoben.

Theorie + ästhetisches Urteil = Kritik

Der vitruvianischen Tradition folgend war die entstehende Architekturtheorie eine stark wissenschaftlich-mathematisch geprägte Disziplin, bei der Proportionsstudien und Konstruktionsprinzipien im Mittelpunkt standen. Erst in der Ästhetikdebatte des 18. Jahrhunderts rückt Architektur – wenn auch verspätet – in das Blickfeld ästhetischer Betrachtung. Die Architekturdebatte wird um eine ästhetische Wertung ergänzt, und auf diesem Weg findet die Kritik Eingang in die Architektur. Diese neue Bewertungskategorie des ästhetischen Geschmacksurteils legitimiert nun ein „Urteil auch ohne Kenntnis der Regeln“. Sie weitet den Diskurs über Architektur über den bis dahin kleinen, geschlossenen Gelehrtenkreis hinaus aus. Mit der Zeitschrift als neuem Leitmedium des 18. Jahrhunderts wird erstmals ständeübergreifend auch das gebildete Bürgertum als Publikum angesprochen. Gleichzeitig verlagert sich der Diskurs auf allgemeinverständliche und vor allem schöngeistige Themen, bei denen besonders die Schulung des Geschmacksurteils im Zentrum steht.

Regelhafte Beschreibung von Bauwerken

In dieser Zeit entstehen „Regelwerke“, die auf allgemeinverständlicher Betrachtungsebene ein Vokabular für die Bewertung der Baukunst liefern. Sie legen einen wichtigen Grundstein für eine kritische Auseinandersetzung mit Architektur. So erweitert der französische Architekturtheoretiker Marc-Antoine Laugier (1713-1769) in seinem Essai sur l’architecture (1753) die rationalistischen vitruvianischen Prinzipien um eine funktionalistische und sensualistische Betrachtungsebene, die die Wirkung der Architektur auf den menschlichen Körper berücksichtigt. Die Basis seiner Betrachtungen bildet dabei nicht eine rein historische Analyse, sondern die eigene Wahrnehmung und Empfindung – also eine Beurteilung der Bauwerke nach rein optischen Erscheinungen. Einen wichtigen Beitrag zur ästhetischen Auseinandersetzung mit der Baukunst leistet u.a. der deutsche Archäologe und Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann (1717-1768).

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Für den Beitrag verantwortlich: ARCH+

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