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Kritik der burkinischen Vernunft

Über Christoph Schlingensiefs und Francis Kérés „Operndorf“ in Laongo

25. Oktober 2010 - Stephan Trüby
Es gibt zwei Arten von Kritik: eine vulgäre und eine philosophische. Während Erstere das Aufzeigen eines Misstandes meint und üblicherweise in der mal impliziten, mal expliziten Aufforderung kulminiert, vermeintliche bzw. tatsächliche Fehlentwicklungen künftig abzustellen, versucht Letztere die Frage nach den Bedingungen von etwas zu beantworten. In diesem Sinne wollte etwa Immanuel Kant mit seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) nicht etwa die praktische Vernunft in Frage stellen, sondern die Bedingungen der Möglichkeit von praktischer Vernunfterkenntnis ausloten. Während Vulgärkritik prospektiv verfährt – sie geht von einem Objekt der Kritik aus, um in Zukunft subjektiv Schlimmeres zu verhindern –, verfährt philosophische Kritik retrospektiv: Sie bohrt im Vorausgehenden, um im Fluchtpunkt des Kritik-Objekts anzukommen. Dabei verhält sie sich zur Vulgärkritik wie der Humus zu jenen Blumen des Bösen, die der Kritiker sich ins Knopfloch zu stecken pflegt, während der Philosoph nach dem rechtem Dünger sucht.

„Remdoogo“ zu kritisieren heißt, von Vulgärkritik Abstand zu nehmen, denn die Errichtung des „Operndorfes“ im burkinischen Laongo, das von Christoph Schlingensief initiiert und von Francis Kéré entworfen wurde, wird sich noch ein bisschen ziehen. Und dies nicht nur Schlingensiefs Todes wegen, von dem eine gleichermaßen vorbereitete wie schockierte Öffentlichkeit im August 2010 Notiz zu nehmen hatte. Auch die kalkuliert entschleunigte Verfahrensweise des Architekten, die einer geradezu Nadolnyschen „Entdeckung der Langsamkeit“ gleichkommt, wird die Fertigstellung hinauszögern. Überhaupt: Was heißt schon „Fertigstellung“, wenn es – wie so oft bei Kérés Bauten – um Architektur als ein soziales Projekt geht? Um eine Art gebaute Entwicklungshilfe, bei der das N-Wort „Nachhaltigkeit“ endlich einmal Sinn macht? Dass sich dabei der Architekt selbst als der beste und produktivste, nämlich als ein auf die Bedingungen von Remdoogo fokussierter Kritiker entpuppt, passt da nur ins Bild.

Als die zentrale Bedingung des Operndorfes darf wohl Schlingensiefs Anfang 2008 diagnostizierte Krebserkrankung betrachtet werden. In geradezu ästhetisierender Symmetrie sollte mit Remdoogo an ein Ende kommen, was, folgt man der Autodiagnose des Regisseurs und Künstlers, in Bayreuth begonnen hatte: die Korrelation von Krebserkrankung und Festspiel-Gedanke. Immer wieder betonte Schlingensief, dass es der Grüne Hügel war, auf dem seine lebensbedrohende Krankheit ihre Ouvertüre fand: „Ich bin wirklich überzeugt, dass der Krebs bei mir mit Bayreuth zu tun hat. [...] Ich habe ein Tor geöffnet, das ich niemals hätte öffnen dürfen.“ Dieses Tor öffnete Schlingensief im Jahre 2004, als er – unter größten atmosphärischen Spannungen mit dem damaligen Festspielleiter Wolfgang Wagner – den Parsifal inszenierte. Schlingensief, der Opern-Debütant, wollte das Bühnenwerk so gut inszenieren, dass er sich offenbar eine Art Todessehnsucht zulegte: „Ich bin erregbar durch Musik, durch diese Musik von Wagner besonders, das zerreißt mich, das macht mich fertig.“ Umso labiler hinterließ ihn der „Fascho-Laden“ Bayreuth. Knapp drei Jahre später – Schlingensief war nunmehr stark vom Lungenkrebs gezeichnet – legte er am Grab seines Anfang 2007 verstorbenen Vaters ein Gelübde ab, dass er „ein Theater, ein Opernhaus, in Afrika bauen werde, wenn das hier [also Schlingensiefs Erkrankung, S.T.] gut ausgeht“. Wer wollte ihm diesen letzten großen Wunsch versagen?

Für den Todesstern, der Remdoogo fortan den Weg wies, steht nicht nur die ästhetisierende Einrahmung von Schlingensiefs Krebserkrankung durch zwei Festspielhäuser – einem todbringenden fränkischen und einem erlösenden afrikanischen. Auch dass der Regisseur kontinuierlich nach engelsgleichen Projekt-Schützern suchte, verwies auf sein existentiell bedrohtes Leben. Zunächst gelang es Schlingensief im Jahre 2009, den damaligen Außenminister und Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier als Unterstützer von Remdoogo zu gewinnen. Nach dem schlechten Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl im selben Jahr musste jedoch ein neuer Schutzengel her – und der damalige Bundespräsident Horst Köhler rückte an Steinmeiers Stelle. Für einen geplanten Besuch des Bundespräsidenten am 9. Juni 2010 wurde in Laongo sogar – in einem beispiellosen architektonisch-organisatorischen Kraftakt – ein Fragment des Operndorfes errichtet: eine WC-Anlage mit fließendem Wasser mitten in der Savanne. Wenige Tage vor der Einweihung, am 31. Mai, trat Köhler jedoch zurück. Seither harrt das fertig gestellte „Scheißhaus Köhlers“ (Schlingensief) als durchaus anal-fixierter Gründungsakt von Remdoogo einer eingehenden psychoanalytischen Deutung – und kündet von hoffentlich in Bälde zu erwartenden Goldenen Zeiten. Man kann sich lebhaft vorstellen, welcher extremen psychischen und physischen Kräfte ein durch Therapie und Medikamente Geschwächter bedurfte, eine Immunisierungsstrategie durch Spitzenpolitiker auch dann fortzusetzen, wenn diese durch die Fährnisse des Politischen immer wieder abhanden gekommen waren.

Mit Hauruckaktionen wie der präsidialen WC-Anlage drohte Ungemach: die Gefahr zweier konkurrierender Arbeitsgeschwindigkeiten, die auf Dauer nur schwer zu synchronisieren gewesen wären: Auf der einen Seite stand da Schlingensief, der, bedingt durch seine Lebenssituation, immerwährend – und im wahrsten Sinne des Wortes – eine „Deadline“ vor Augen hat, die ihn antrieb und ihm schnelle, sichtbare Resultate abverlangte. Auf der anderen Seite stand – und steht noch immer – der 1967 in Burkina Faso als Häuptlingssohn geborene Francis Kéré, der durch eine Architektur bekannt geworden ist, deren Qualitäten vor allem auf der longue durée des partizipatorischen Bauens aufbauen. Zu Lebzeiten Schlingensiefs hieß Remdoogo zu verwirklichen vor allem, das schnelle, szenografische Performer-Denken des deutschen Regisseurs mit einer Kéréschen Architektur in Übereinstimmung zu bringen, die keineswegs nur auf bauliche Low-tech-Raffinessen zu reduzieren ist, sondern raffiniert mit Beteiligungs-Strukturen und klimatischen Zyklen arbeitet – Phänomenen also, die nun mal ihre Zeit brauchen. Immer wieder musste dem Furor Schlingensiefs durch Kérés Hinweise auf Regen- und Lehmtrocknungszeiten Einhalt geboten werden. Es stand ein zwar unter besten Freunden ausgetragener, aber doch zunehmend spürbarer Konflikt zwischen einem unduldsamen deutschen Schamanen und einem gewissenhaften afrikanischen Ingenieur im Raum.

Es gehört zu den großen Leistungen Kérés, dass er Remdoogo bereits „unter“ Schlingensief subversiv verbesserte – und nun, nach dem Tod des Regisseurs, souverän darauf aufbauen kann. Zunächst ist in diesem Zusammenhang das Areal des Baugrundstücks zu erwähnen, in dessen Nähe sich eine für Uneingeweihte nicht erkennbare religiöse Stätte befindet. Schlingensief sprach zwar immer von einer „spirituelle Aufladung“ des Remdoogo-Areals, doch die genauen Koordinaten jenes Ortes, den Kérés Freunde und Verwandte als „heilig“ empfinden, musste der Architekt vor seinem Freund und Bauherrn immer geheim halten, um Heiliges nicht den Indiskretionen europäischer Fernsehkameras preiszugeben. Auch die Konzeption von Remdoogo als einem Festspielhaus barg Konfliktstoff zwischen Initiator und Architekt, denn das Wort „Festspiel“ impliziert eine deutliche Trennung zwischen Bühnenakteur und Zuschauer – eine Trennung, der in Afrika eine weit geringere Bedeutung zukommt als in europäisch geprägten Theatertraditionen. Zurecht geht es Kéré beim „Operndorf“ mehr um ein Festhaus als um ein Festspielhaus – darauf deutet bereits das Wort „Remdoogo“ hin, das auf Mòoré ein ausgelassenes Fest meint, und zwar ohne disziplinierte Zuschauer.

Kérés manierliche, aber bestimmte Kritik an Schlingensief wird auch am Beispiel der Bühne deutlich. Sie stellt ein Remake jener einst unrealisiert gebliebenen Rundbühne dar, die in Gropius’ und Piscators Totaltheater aus dem Jahre 1927 entstehen sollte. Von der Ruhrtriennale finanziert, wurde ein Widergänger als transportable Konstruktion gefertigt und im April 2010 in 13 Schiffscontainern nach Burkina Faso gebracht. Dort ruht die Konstruktion seither unausgepackt im Sand. Kéré hat gute Gründe zu befürchten, dass sich dieses High-tech-Wunder aus Deutschland als ein Danaergeschenk entpuppen könnte. Denn wie soll die diffizile Stahlkonstruktion mit ihrer sensiblen Elektronik in eine Architektur eingehaust werden, deren Bautoleranzen dem Lehmbau entstammen? Und wie wird die Piscatorbühne nach einigen Jahren aussehen, wenn Regenzeiten den Rost wachsen ließen? Und überhaupt: Wer wird die Bühne warten? Um Remdoogo trotz dieser Unwägbarkeiten in jedem Falle zum Erblühen zu bringen, schmuggelte Kéré in das Projekt eine „Alternativbühne“ hinein, die robuster kaum sein könnte: einen öffentlichen Platz vor dem Festhaus, dessen Bühnenprospekt durch die – von außen betrachtet – konkave Wand des Haupteingangs gebildet wird.

Die Zusammenarbeit von Schlingensief und Kéré steht in einer langen Tradition konfliktträchtiger Versuche gemeinsamen Wirkens von Architekt und Auftraggeber, zu deren bekanntesten – und auch misslungensten – jene von Wagner und Semper gehörte. Kurz zur Rekapitulation: Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die beiden verhinderten Polit-Aktivisten der Deutschen Revolution von 1848/49, Gottfried Semper und Richard Wagner, von König Ludwig II. von Bayern umworben. Der Kini wollte die beiden für ein Festspielhausprojekt gewinnen. Alles schien auf dem besten Wege zu sein, doch nach und nach verfestigte sich bei Wagner die Überzeugung, dass Semper kein Glücksfall für das Festspielhaus-Projekt war, ja, dass er sich sogar als der größte Feind für die Wagnersche Idee des „Gesamtkunstwerks“ entpuppen könnte. Denn ab einem bestimmten Moment dämmerte dem Komponisten, dass die elaborierte Architektur Sempers schlicht zu virtuos sein könnte für ein Festspielkonzept, welches das Gebaute jenseits der Bühne unter allen Umständen vergessen machen wollte. Mit dieser Erkenntnis begann Wagner seinen ehemaligen Freund Semper gegenüber Ludwig II. zu beschädigen.

Auch wenn Schlingensief noch lebte, würde den Machern von Remdoogo ein solches Schicksal erspart bleiben. Denn was das dortige Bühnengeschehen anbelangt, waren die Vorstellungen Schlingensiefs im Gegensatz zu jenen Wagners immer recht vage geblieben. Nur dass dieser Ort unter gar keinen Umstände eine Ruine werden darf – darin war sich der Regisseur sicher. Diesen programmatischen Leerraum, der die Gefahr eines dysfunktionalen Herzes für Remdoogo in Form eines kaputten Totaltheaters mitten in Burkina Faso parallelisiert, weiß Kéré nun im Sinne der Menschen vor Ort zu nutzen. Man denke etwa beispielsweise an die Fassade des Festhauses: Sie besteht aus einem Stabwerk aus Hölzern mit einem Durchmesser von 7-10 cm, die vom Boden bis zum Dach reichen, um die Lehmwand des Auditoriums vor Regen und Sonneneinstrahlung zu schützen. Die Wahl des Materials kommt dabei einem Manifest für ganz Subsahara-Afrika gleich, denn es handelt sich um Eukalyptusholz, das wie kein zweites für eine misslungene Entwicklungspolitik in Afrika steht: Frankreich wollte damit in seiner ehemaligen Kolonie schnell Bäume zur Feuerholzgewinnung anpflanzen, erreichte dadurch aber vor allem eine extreme Austrocknung der Böden. Mittlerweile weiß man, dass die Eukalyptusplantagen besser heute als morgen verschwinden sollten, doch wohin mit dem vielen Holz? Wenn Kérés Fassaden-Exempel Schule machen sollte, dann wäre dem Land viel geholfen.

Höchstwahrscheinlich wird mit Remdoogo kein Operndorf entstehen, sondern eine Festbühne mit Schule, Klinik, Gästehaus sowie diversen Wohnungen und Werkstätten. Mitten in einem Schattenreich der Globalisierung zeichnet sich eine dieser wunderbar angemessenen, eleganten Kéréschen Architekturen ab – ein Ort, in dem unter Anleitung eines charismatischen Sozialarbeiter-Architekten eine Dorfgemeinschaft technisch und ästhetisch überaus Bemerkenswertes auf die Beine stellt: Kein Ort des Todes, sondern einer des Lebens. Die Kritik der burkinischen Vernunft ist eine gebaute.

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