Zeitschrift

dérive 40/41
Understanding Stadtforschung
dérive 40/41
zur Zeitschrift: dérive
Herausgeber:in: Christoph Laimer

Von der Allmacht zur Kooperation

Anmerkungen zum Verhältnis von Städtebau(lehre) und Stadtforschung

26. September 2010 - André Krammer
»Seit den 1990er Jahren weicht diese unselige Trennung wieder auf. Langsam schließt sich die entstandene Kluft zwischen Architekten, Stadtplanern und weiteren Disziplinen. Landschafts-
architekten entwerfen neue Stadtteile, Architekten recherchieren Sozialdaten und betreiben urbanistische Studien, Stadtplaner entwerfen urbane Events. Auch Literaturwissenschaftler schreiben über Raumtheorien, die Urbanistik wird zum Thema der großen zeitgenössischen Kunstausstellungen. Research by Design versucht Forschung und Entwerfen wieder fruchtbar zu verknüpfen. Architektur wird als die Kunst, Raum zu artikulieren (Eco, 1968) in der Urbanistik wieder aktuell. Die Kultur des Raumes wird wieder als entscheidend für die Kultur der Städte angesehen.«
Sophie Wolfrum, 2008


Von der Allmacht zur Ohnmacht

Einst sollte die neue funktionelle Stadt, wie sie die modernistischen ArchitektInnen der Congrés Internationaux d’Architecture Moderne (1928 – 1959) konzipierten, nicht nur wieder Ordnung in den chaotisch wuchernden Agglomerationen des Industriezeitalters etablieren, sondern auch unausweichlich zu einer besseren Gesellschaft führen. Der Städtebau wurde zur Königsdisziplin erklärt, zur Universalmedizin, die dem kranken Stadt- und Sozialkörper wieder auf die Beine helfen sollte. Le Corbusier hielt in den 30er Jahren die Architektur für das geeignete Instrument, um eine bessere räumliche und gesellschaftliche Ordnung herzustellen. Das neue städtebauliche System, die strahlende Stadt der Moderne sollte die Gesellschaft reformieren und auf diese Weise sogar mithelfen, Revolutionen zu vermeiden.

Wir haben uns längst von dieser Utopie verabschiedet, beziehungsweise haben wir auch den ihr innewohnenden dystopischen Charakter erkannt. Der Traum vom universalistischen Zugriff auf die Stadt und die Allmächtigkeit des Plans ist geplatzt und hat einer Vielstimmigkeit der städtebaulichen Konzeptionen Platz gemacht. Der Städtebau ist in die zweite Reihe zurückgetreten und definiert seine Position angesichts der Unübersichtlichkeit der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kräfte, die gegenwärtig die Stadtentwicklung vorantreiben, neu. Strategische Allianzen mit benachbarten Disziplinen drängen sich auf, will man auch zukünftig eine gewichtige und keine marginale Rolle spielen.

Innerhalb der Disziplin Städtebau herrscht in Hinblick auf die Frage, was zu tun wäre, um wieder eine entscheidende Rolle in der Raumproduktion zu spielen, bestenfalls Uneinigkeit. Heute, da wir mit wohligem Schauer zusehen, wie vorgeblich unkontrollierbare globale Kraftfelder die Städte auf den Kopf stellen, haben sich die einen längst vom Traum der Allmacht verabschiedet und gelernt, die Schwäche als Chance zu sehen, während andere dem Phantomschmerz mit Nostalgie und Eskapismus begegnen und Rekonstruktionen alter Stadtmodelle wiederzubeleben suchen und allzu oft nur potemkinsche Dörfer errichten. Jenen, die sich der Tradition der Avantgarde verpflichtet fühlen, erscheint nach dem »Ende der großen Erzählungen« (Jean-François Lyotard), also auch nach dem »Ende der großen Projekte«, das Fragmentarische im dialektischen Kurzschluss als das neue Ganze. Die formalistische Avantgarde setzt nach wie vor auf das autonome Objekt.

In den letzten Jahren hat eine Hinwendung zur informellen Stadt der Armenviertel stattgefunden, die die Ränder der global cities dominieren. Die Favela entzieht sich als räumliches und legistisches System dem Zugriff klassischer Instrumente der Planung. Sie entsteht bottom up. In der Faszination, die informelle Strukturen ausüben, liegt nicht zuletzt das Bedürfnis, das Instrumentarium des traditionellen Städtebaus und die Steuerung der Stadt top down zu hinterfragen. Die Tätigkeit der Entwicklungshilfe, die meist in der Bereitstellung von dringend benötigter Infrastruktur besteht, wird vom Wunsch begleitet, von Formen der Selbstorganisation zu lernen und diese in abgewandelter Form in die eigene Praxis zu integrieren – Import-Export. Dabei muss in Kauf genommen werden, dass man einer Ästhetisierung der Armut Vorschub leistet und ökonomische und machtpolitische Hintergründe zugunsten eines romantisierenden Blicks von außen ausblendet. Nichts ist gänzlich umsonst.

Die neue Rolle zwischen Plan und Wirklichkeit und die Macht der Bilder

Die vielen »Learning from …« verweisen unter anderem im positiven Sinn darauf, dass, da keine Disziplin das Primat in der Herstellung und Erforschung von Stadt für sich allein beanspruchen kann, auch der Städtebau sich zunehmend als ein Player unter anderen versteht. Die Dialektik des Lernens von der Wirklichkeit und der Transformation von Wirklichkeit kann auch als ein fruchtbares Zusammenspiel von Hermeneutik (Verstehen und Lernen) und Handeln (Vita activa) angesehen werden. Die Grenzen der eigenen Disziplin müssen nicht mehr schamhaft verborgen werden, sondern können auch als Potenzial begriffen werden. Die Geschwindigkeit der Stadtentwicklung im »Zeitalter der Städte« erzwingt eine Öffnung der Disziplin, will man sich nicht mit Scheingefechten im Elfenbeinturm zufriedengeben. Es mutet ja auch seltsam an, hinter verschlossenen Türen fröhlich über die »gute Stadt« zu debattieren – nebenbei ohne wirkliche Chance auf Einigung – während draußen vor der Tür Stadtregionen unter rasant steigenden Urbanisierungsraten geradezu explodieren, andere Städte wiederum implodieren und schrumpfen, um das Bild dezent zuzuspitzen. Es bedarf zunehmend eines strategischen Denkens und Handelns, neuer kommunikativer Skills und auch neuer kollektiver Anstrengungen, um sich auf der stadt- und regionalpolitischen Ebene Gehör zu verschaffen. Die traditionelle Fixierung des Städtebaus auf einen idealisierten Endzustand spielt dabei eine immer geringere Rolle. Die Projektbegleitung und Qualitätssicherung während der Realisierungsphase hat in jenem Maß an Bedeutung gewonnen, als sich die Kluft zwischen Plan und realer Entwicklung ausgeweitet hat. Vorausgesetzt, es gibt überhaupt ein Projekt, einen Plan, eine Strategie. Die »eigenschaftslose Stadt« (Rem Koolhaas), die Endless City der Suburbia verzichtet ja weitgehend auf Planung. Der Planer, die Planerin übernimmt heute im Idealfall neben den klassischen Aufgaben der Planung auch die Rolle des Moderators und der Dramaturgin, aufgrund der spezifischen Raum-(strategischen) Kompetenz und der integrativen Funktion der Formgebung, die der Städtebau einbringen kann.

Allerdings ist das Phänomen der longue durée, das Nachwirken von alten Strukturen unter der Oberfläche des Neuen, nicht zu vernachlässigen. Während einerseits die PlanerInnen aus guten Gründen nicht mehr einfach ausschließlich als »Herren und Damen der Pläne« und als SchöpferInnen großartiger Panoramabilder auftreten können, ist gleichzeitig feststellbar, dass gerade heute wieder allzu eingängige Bilder zukünftiger Projekte Hochkonjunktur haben. Auch in Wien setzt die Politik gerne auf die Stadtvision als großes Gemälde, etwa auf die etwas autistisch anmutende Seestadt mit zentraler Wasserskulptur. Einprägsame Bilder und Labels sind verführerischer und leichter vermarktbar als ein schwer vermittelbares Konzept einer prozessualen Planung und Umsetzung, die nicht primär über Bilder funktioniert, sondern notwendige Leerstellen belässt, um auf künftige Entwicklungen reagieren zu können. Die Einbettung der Seestadt in ihr Umfeld bleibt da auf der Strecke. Die Dominanz der Bilderwelt degradiert die Stadt zur Bühne und Marketingfläche. Unter diesen Vorzeichen ist der Städtebau gefährdet, zu einer postmodernen Übung in Simulation zu verkommen. Wo primär Bilder reproduziert werden und die Alltagskultur ausgeblendet wird, entstehen Retorten. Am Berliner Potsdamer Platz treten die herbeigesehnten Flaneure höchstens in Form von Hologrammen auf. Die mittelalterliche Stadt, die wir im Urlaub aufsuchen, ist nicht das Produkt eines ästhetischen Programms, sondern die Manifestation der spezifischen Gesellschafts- und Wirtschaftsform des Feudalismus. Der Städtebau ist schon deshalb keine Bilderfabrik, da die Arbeit am städtebaulichen Plan keine direkte Arbeit am Objekt ist. Ein Maler oder Bildhauer bearbeitet sein Medium direkt, die ArchitektInnen und PlanerInnen bedienen sich eines Instrumentariums, wie Pläne, Regelsysteme etc., die der Materialisierung vorgeschaltet sind. Zwischen Plan und Wirklichkeit besteht a priori eine Differenz.

Universeller Partikularismus: Endlose Interieurs und die Wiederentdeckung der Infrastruktur

Welche Gefahren bergen der Partikularismus und die pluralistische Perspektive auf die Stadt, die den Universalismus abgelöst haben? Die Stadt, die aus divergierenden Einzelinteressen zusammengesetzt wird, gerät leicht zum Patchwork, das kein kongruentes Ganzes mehr ausbildet, sondern sich zunehmend als Ideensammlung ohne Zusammenhang präsentiert. Auch der urbanistische Diskurs spiegelt einen Zustand der Fragmentierung wider. Forschungsprojekte, Informationen, Datenbanken und Publikationen sind weit gestreut und werden nur selten (interdisziplinär) in Beziehung gesetzt. Im Städtebau und der Städtebauforschung führte dieser Umstand zu einer intensivierten Beschäftigung mit klein- und großmaßstäblichen Infrastrukturen, die die Hardware der Raumentwicklung ausbilden und in der Lage sind, die Stadtpartikel wieder zusammenzubinden. Wie der Stadtgrundriss, der die historischen Relationen der Stadt überliefert, bilden diese die Grundlage für das Funktionieren der Stadt aus. Auch scheinbar banale und große Programme wie Einkaufzentren oder Freizeitkomplexe werden wieder in die avancierte Theorie und Praxis inkludiert. Expandierende Indoor-Welten prägen immer mehr die urbane Landschaft. Diese Interieurs konkurrieren mit dem klassischen öffentlichen Raum, der im Zentrum der städtebaulichen Kunst steht. Das Verhältnis zwischen Innen und Außen hat sich nachhaltig verschoben, die Quantität der Außenhülle nimmt proportional mit der Zunahme der Indoor-Fläche ab. Hatte die Erfindung des Aufzugs durch Otis eine neue Morphologie der Städte ermöglicht, so generiert das Air-Conditioning eine neue Kultur der Fläche. Neue mediale Kommunikationsformen, die das Internet ermöglicht, gehen mit Raumstrukturen neuartige Kombinationen ein. In den jüngsten Protesten in Teheran 
spielte der mediale Raum (Twitter, Blogs etc.) eine dem Stadtraum zumindest gleichwertige Rolle.

Die Krise und das Zeitfenster

Die jüngste Finanzkrise, insbesondere das Platzen der US-amerikanischen Immobilienblase, das zum Symbol für eine fehlgeleitete Raumpolitik avanciert ist, hat auch Risse in der Legitimation der unternehmerischen Stadt hinterlassen. Die Konzeption einer Stadt, die sich nach Marktgesetzen selbst generiert, darf wieder laut hinterfragt werden. Der Leerraum, den der jüngste Crash hinterlassen hat, wäre in einen Freiraum für Ideen und Konzepte umzudeuten. Auch Wien ist eine Stadt, die sich im Laufe der Geschichte immer wieder maßgeblich transformiert hat. Die Gründerzeit, Otto Wagners infrastrukturelle Erneuerungen oder die Wohnbaupolitik des Roten Wien prägen die Stadt bis heute. Es gäbe also eine Tradition von mutigen und visionären städtebaulichen Ideen und Konzepten, an die man anknüpfen könnte.

Der Städtebau in der Forschungslandschaft

Wie sieht es mit dem Verhältnis zwischen Stadtforschung und Städtebau aus? Sicherlich können andere Forschungsfelder, insbesondere die Stadtforschung, nicht als Pool fungieren, aus dem der Städtebau allzu leichtfertig Legitimation für seine Konzepte bezieht. Ein Auftritt im Gewand des Soziologen, des Philosophen oder des Psychoanalytikers etc. wäre ein bereits überwunden geglaubter Anachronismus. Der Glaube an die Möglichkeit einer Ableitung der Stadt von morgen aus statistischen Kennzahlen ist (glücklicherweise) längst aufgegeben. Und dennoch ist der städtebauliche Entwurf auch in der postheroischen Zeit, ob bewusst oder unbewusst, immer ein Weltentwurf in Miniatur, eine Stellungnahme, die auf die weltanschauliche Position eines Autors, einer AutorIn oder von AutorInnen verweist.

Der Städtebau agiert zwangsläufig auch auf einer sozialen, politischen und sprachlichen Ebene und berührt somit auch andere Forschungsbereiche und Praktiken. Er agiert in Theorie und Praxis inmitten der Gesellschaft. Genau darin liegt nach wie vor die Faszination dieser Disziplin. Sie stellt unweigerlich große Fragen. Der Stadtentwurf weist immer auch über die Grenzen der Disziplin hinaus. Etwa die Frage, was unter Urbanität zu verstehen und wie diese zu konzipieren und in Realität umzusetzen wäre, lässt sich nur im interdisziplinären Dialog aushandeln. Neue ökologische Herausforderungen, sich verändernde Arbeitswelten oder neue Migrationsbewegungen wirken sich direkt auf die urbane Gegenwart und somit auf die künftige Konzeption von Stadt aus. Die neue Rolle des Städtebaus verlangt nach einer interdisziplinären Offenheit und Kooperationsbereitschaft, um auf der Höhe der Zeit agieren und der Dynamik der Stadtentwicklung gerecht werden zu können. Multiperspektivität ist so gesehen eine Chance und ermöglicht erst den kritischen Diskurs. Dialog und Kooperation bedeuten nicht zwangsweise die Aufkündigung jeder Differenz, die Auflösung der Kompetenzen der Einzeldisziplinen und den Eintritt in einen lähmenden Konsens. Nachdem es das eine, heilbringende System nicht gibt, kann die Zukunft der Stadt nur kollektiv ausgehandelt werden. Dazu müssen die Einzelakteure vom Sockel steigen, den Elfenbeinturm verlassen, in die Stadt hinaus gehen, sich auf dérives im Raum und in der Theorie einlassen – auch wenn damit eine Ambivalenz zwischen Faszination und Kritik verbunden ist, die schon Walter Benjamins Denken angesichts der modernen Metropole bestimmte. Der amerikanische Architektur- und Systemtheoretiker Christopher Alexander propagiert eine Stadt, die sich aus komplexen Überschneidungen von Aktivitäten im Raum generiert. Das Gleiche kann und sollte man für den interdisziplinären Stadt-Diskurs einfordern.

Die Städtebaulehre zwischen Lehrbuch und Kompetenzvermittlung

Die Städtebaulehre ist in vielen Ländern wie auch in Österreich Teil der Architekturausbildung und wird im Studienplan hinsichtlich des angebotenen Lehrumfangs geradezu stiefmütterlich behandelt. Das hängt auch damit zusammen, dass die ArchitektInnen und StädtebauerInnen traditionell in Personalunion auftreten, obwohl die beiden Tätigkeiten zumindest teilweise gänzlich unterschiedliche Anforderungen stellen und der Städtebau keinesfalls nur als Anhängsel der Architektur betrachtet werden kann. Städtebau ist nicht einfach »Architektur in einem größeren Maßstab«. Rem Koolhaas hat in diesem Zusammenhang gar einmal von Schizophrenie gesprochen, die vonnöten wäre, um simultan als Architekt und Städtebauer zu arbeiten. Während ein architektonisches Projekt vom Entwurfsgedanken bis zur Schlüsselübergabe in Form einer fortschreitenden Präzisierung abgewickelt wird, operiert der städtebauliche Entwurf mit Simulation und einer notwendigen Unschärfe, da er nur das Rahmenwerk, nicht aber die detaillierte Ausführung der Einzelobjekte definiert und Entwicklungen in langen Zeiträumen, oft viele Jahre bis Jahrzehnte, antizipieren muss. Während ein architektonisches Objekt perfektioniert werden kann, ist das städtebauliche Objekt mit Fehlern, Missverständnissen, Unzulänglichkeiten und Unkontrollierbarem konfrontiert. Eine geglückte Entwicklung emanzipiert sich oft vom zugrunde liegenden Masterplan in Form einer Neuinterpretation und profitiert doch vom Rahmenwerk. In der Städtebaulehre sollte die Diskrepanz zwischen Plan und Wirklichkeit thematisiert werden und die Frage gestellt werden: Was kann Planung heute leisten, was muss sie definieren und festhalten und was darf und muss sie offen lassen? Städtebau ist ein Training im dialektischen Denken. Um handlungsfähig zu bleiben, müssen in der Analyse die Wirklichkeit und der Kontext gefiltert, abstrahiert und repräsentiert werden. Die Lehre muss – in kurzer Zeit – ein objektivierbares Wissen (wie wird ein städtebauliches Projekt entwickelt, argumentiert und repräsentiert) und (intellektuelle) Kompetenzen vermitteln, die immer wichtiger werden, um später in Diskurs und Praxis bestehen zu können. Diese Kompetenzen sind auch die Voraussetzung dafür, in den interdisziplinären Dialog eintreten zu können. StudentInnen bringen glücklicherweise geradezu ideale Vorraussetzung mit: Sie sind per se aufgrund ihrer Lebensphase intensive und kompetente StadtnutzerInnen, sind geübt in der Fähigkeit Stadt zu lesen, sind offen für die Auseinandersetzung mit urbanen Phänomenen und bringen somit die beste Voraussetzung mit, Stadt zu gestalten. Die Kompetenz, sich auf einer diskursiven Ebene in Form kommunikativen Handelns mit städtebaulichen Fragestellungen auseinanderzusetzen, wäre schon die ideale Voraussetzung, sich auch in der Welt der Stadtforschung zurechtzufinden.

Anmerkungen zu ausgewählten Beiträgen dieser Ausgabe

Diese Jubiläumsausgabe versammelt interessante Stimmen, die sich gegenwärtig mit aktuellen urbanistischen Fragestellungen auseinandersetzen, die auch für den städtebaulichen Diskurs von Bedeutung sind. Auf vier davon möchte ich besonders hinweisen.
Der Architektur- und Stadtforscher Eyal Weizman berichtet von jenem Mord im Junkspace (Assassination in Junkspace), der gerade noch die Medien beschäftigte. Am 19. Jänner 2010 wurde in Dubai das Hamasmitglied Mahmoud al Mabhouh – wahrscheinlich von Mossad-Agenten – ermordet. Zahllose Sicherheitskameras zeichneten Fragmente dieses Vorgangs in einer Serie von Innenräumen auf, die kein Außen zu haben scheinen. Die Videos kursierten bald darauf im Internet. Eyal Weizman nimmt dieses Ereignis zum Anlass, die machtpolitischen Implikationen dieser überwachten Räume (Flughafen, Luxushotel, Shopping-Mall) zu hinterfragen.
Der Stadtforscher Stephan Lanz berichtet von einem gerade anlaufenden, groß angelegten Forschungsprojekt, das sich dem Verhältnis zwischen dem Städtischen und dem Religiösen widmet. War man lange Zeit davon ausgegangen, dass der globale Urbanisierungsschub mit einer zunehmenden Säkularisierung der Gesellschaft einhergehen würde, so kann man gegenwärtig von einer Rückkehr des Religiösen in die Stadt sprechen. Stephan Lanz skizziert auf den Seiten 32ff. die Themen, Fragestellungen und Methoden, die dem aktuellen Forschungsprojekt Global Prayers: Ein transdisziplinäres Forschungs- und Kulturprojekt zugrunde liegen. In acht Städten wurden wissenschaftliche und künstlerische Fallstudien initiiert: Rio de Janeiro, Jarkata, Mumbai, Lagos, Beirut, Istanbul, London und Berlin.

Stefano Boeri, italienischer Architekt und Urbanist, steuert ein Manifest in einer an sich an Manifesten armen Zeit bei (Seite 143ff.). Arguments for a planetary garden ist ein Plädoyer für eine neue, nicht-anthropozentrische urbane Ethik, für eine neue Geographie des Urbanen, Ländlichen und Natürlichen, die den einzelnen Sphären wieder spezifische Qualitäten zurückgeben will und die Rückgewinnung des Einflusses auf (über)regionale Entwicklungen zum Ziel hat. Der Text ist im Rahmen der Entwicklung eines Konzepts für das Ausstellungsgelände der Weltausstellung 2015 in Mailand Feeding the planet, energy for life entstanden. Ein ökologischer Turn hätte das Potenzial, Stadt wieder vermehrt als ein Ergebnis kollektiver Anstrengung zu begreifen.
Die amerikanische Architektin und Urbanistin Keller Easterling erforscht seit Jahren das Verhältnis von Globalisierung zu Architektur und Stadt. Easterling spiegelt in ihren Essays, die eine hochkomplexe Sprache und thematische Dichte auszeichnet, die Transformationen globaler Räume wider und schafft so wie niemand sonst Sprachkunstwerke, die für sich stehen können und doch so viel über unsere Gegenwart zu erzählen wissen. Empfohlen sei auch Easterlings Essaysammlung Enduring innocence. Global architecture and its political masquerades, die 2005 bei MIT Press erschienen ist.

The Action is the Form in dieser dérive-Ausgabe ist ein Vorabdruck eines Essays, der 2011 veröffentlicht werden wird. Die Übersetzung, die wir zusätzlich in diesem Heft zum englischen Original abdrucken, ist eine Premiere im deutschen Sprachraum. Es ist unserem Wissen nach der erste Text von Keller Easterling, der ins Deutsche übersetzt wurde. Die Aktion ist die Form thematisiert die Disposition von Gegenständen, Gebäuden, Infrastrukturen und Technologien, als Akteure tätig zu werden, zu handeln und uns zu beeinflussen.
André Krammer ist Redakteur von dérive, Architekt und Lektor an der TU Wien.

Literatur:
Christopher Alexander (2010): Eine Muster-Sprache: Städte, Gebäude, Konstruktion. Wien: Löcker Verlag.
Jochen Becker (2001): Bigness — Kritik der unternehmerischen Stadt. Size does Matter. Image / Politik. Städtisches Handeln. Berlin: b_books.
Becker, Burbaum, Kaltwasser, Köbberling, Lanz, Reichert (2003): metroZones 2. Learning from*. Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation. Berlin: NGBK.

Keller Easterling (2005): Enduring innocence. Global architecture and its political masquerades. London: The MIT Press.
Angelus Eisinger (2006): Die Stadt der Architekten. Anatomie einer Selbstdemontage. Basel: Birkhäuser.Robin Evans (1997): Translations from Drawing to Building and Other Essays. London: Architectural Association.
Eric Mumford (2000): The CIAM Discourse on Urbanism, 1928–1960. London: The MIT Press.
Sophie Wolfrum (2008): Multiple City. Berlin: Jovis Verlag.

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