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anthos 2011/1
Wege, Brücken, Stege
anthos 2011/1
zur Zeitschrift: anthos
Herausgeber:in: BSLA

Wachsende Stabilität

«Der Steg» und «Plattform in der Steveraue» sind Prototypen der jungen Forschungsrichtung Baubotanik. Ihre Konstruktionsmethoden basieren auf statischem Grundwissen und Wachstumsprozessen von Pflanzen.

9. März 2011 - Hannes Schwertfeger
Baubotanik ist eine Konstruktionsmethodik, die darauf abzielt, Tragstrukturen zu grossen Teilen aus wachsenden Pflanzen zu fügen. Diese können im Laufe ihres Wachstumsprozesses zunehmend auftretende Lasten aufnehmen, und ihr jährlicher Austrieb verändert die räumliche Gestalt der Bauten. Indem die Baubotanik Pflanzen direkt in die Tragstruktur ihrer Bauten integriert, machen diese im Verlauf des Pflanzenwachstums verschiedene botanische Phänomene erfahrbar.

«Der Steg» ist einer der ersten baubotanischen Prototypen und besteht aus 64 pflanzlichen Bündelstützen. Sie tragen eine 22 Meter lange Lauffläche aus Stahl-Gitterrosten. Zweijährige Weidensteckhölzer wurden bei der Pflanzung derart zu einem statischen System gefügt, dass der Prototyp bereits nach fünf Jahren zu einem grösstenteils formschlüssigen Tragwerk verwachsen ist.

Der Steg bringt zwei botanische Phänomene deutlich zum Ausdruck: erstens die Fähigkeit von Pflanzen, untereinander verwachsen zu können, sowie ihre Fähigkeit, fremdartige Gegenstände zu «überwallen». Gelungene Überwallungen gewährleisten hier beispielsweise die formschlüssige Ausformung der Anschlussdetails von Handlauf und Lauffläche. Insgesamt bestimmen Überwallungen und Verwachsungen der Pflanzen untereinander langfristig die Ausformung der pflanzlichen Tragstruktur in sich.

Zweitens zeigt sich hier die unterschiedliche Ästhetik im jahreszeitlichen Wandel. Die räumliche Qualität der Konstruktion ist von der Ausbildung der Kronenstruktur abhängig, dies zeigt der Steg deutlich: Über den Jahresverlauf hinweg verändert sich die «begehbar gewordene» Krone durch den Neuaustrieb im Frühjahr und den Blattfall im Herbst.

Spalier

Die «Plattform in der Steveraue» enthält als eine der ersten baubotanischen Tragstrukturen eine temporäre Stützstruktur. Diese verweist darauf, dass noch nicht miteinander verwachsene Pflanzen oder überwallte Bauteile zukünftig in der Lage sein werden, gemeinsam eine eigenständig tragfähige Struktur auszubilden. Durch die zunehmende Stabilität der pflanzlichen Elemente, können baubotanische Stützstrukturen sukzessive entfernt werden. So gesehen entsprechen sie dem Spalier im Gartenbau. Es stützt Pflanzen, die noch jung und fragil sind, die fragil geblieben oder es wieder geworden sind. Insofern lässt sich an ihm der Zustand aktueller Belastbarkeit ablesen und repräsentiert das Versprechen auf die wachsende Stabilität der Pflanzen.

Fragile Architektur

Die wachsende Stabilität baubotanischer Bauten ist abhängig von der verwendeten Art der Pflanzen sowie der Entwicklung ihres Kontexts, dem Ökosystem. Diese räumliche und funktionale Wechselwirkung zwischen der einzelnen Pflanze und ihrer Umwelt verändert sich fortlaufend und ist Zufälligkeiten unterworfen: Nicht nur Wind und Wetter bestimmen über die Jahreszeiten hinweg den Verlauf des Wachstums einer bestimmten Pflanzenart, sondern insbesondere die Anordnung der einzelnen Pflanzen innerhalb der baubotanischen Tragstruktur sowie deren Form und Standort.

Diese direkte Abhängigkeit vom Ökosystem als ihrem Kontext ist für die Architektur Neuland. Für die Landschaftsarchitektur hingegen steht der Einfluss pflanzlicher Wachstumsprozesse ausser Frage. Deshalb liegt für sie das Potenzial von «Naturbauverfahren» wie der Baubotanik in ihren verschiedenen, möglichen Konstruktionsmethoden, um die sie «die Bautechnik vergeblich beneidet hat» , wie es der Naturbauingenieur Arthur Wiechula zu Beginn des 20. Jahrhunderts treffend formulierte.

Warum nicht eine Landschaftsarchitektur entwickeln, die diese Methoden so weit als möglich in sich aufnimmt? Ihre Architekturen wären prozessual zu entwerfen: Fragil gepflanzt, gestützt von Spalieren, die über eine «wachsende» Stabilität Auskunft geben.

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Für den Beitrag verantwortlich: anthos

Ansprechpartner:in für diese Seite: Daniel Haidd.haid[at]fischerprint.ch

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