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anthos 2011/3
Siedlungsrand
anthos 2011/3
zur Zeitschrift: anthos
Herausgeber:in: BSLA

Das Vokabular neu erfinden: Überlegungen zur Grundstücksgrenze

Ein Interview mit fünf Landschaftsarchitekten über die Bedeutung und den zeitgemässen Umgang mit der Grundstücksgrenze.

27. September 2011 - Susanne Prehl
Hecken, Mauern und Zäune, oft blickdicht, abweisend und gestalterisch uninspiriert ausgeführt, sind ein nicht nur in Suburbia auftretendes Phänomen. Vielmehr kann die Tendenz Grundstücksgrenzen klar als solche sichtbar zu machen, immer häufiger beobachtet werden. Abgegrenzt wird sich von den Anderen, von der Gemeinschaft, von der umgebenden Landschaft.
Ist das Ideal von der Grenze als Mittler überhaupt eine zeitgemässe Vision?

anthos hat nachgefragt und fünf ganz unterschiedliche Vertreter der Branche um eine Stellungnahme gebeten. Der Landschaftsarchitekt Lorenz Dexler (LD) ist seit 1999 Geschäftsführer des etablierten Landschaftsarchitekturbüros TOPOTEK 1 aus Berlin. Ebenfalls Landschaftsarchitekt ist der auf Privatgartengestaltung spezialisierte Schweizer Enzo Enea (EE). Benjamin Foerster Baldenius (BFB) ist Architekt und Partner bei raumlabor Berlin und damit Routinier in partizipativen Planungsprozessen. Prof. Jörg Stollmann (JS) ist Professor für «Städtebau & Architektur» an der TU Berlin. Als Vertreter einer jungen Generation von Landschaftsarchitekten stand uns Johanna Irander (JI), Inhaberin von Studio Irander in Stockholm, Rede und Antwort.


anthos: Wie sieht die zeitgemässe Grundstücksgrenze aus? Gibt es die gestalterische Alternative zur Thujahecke oder ist der Sichtschutz im klassischen Sinn unverzichtbar?
LD: Das Thema der Auflösung der Grenze des Gartens ist ja keine neue Entwicklung – es entstand bereits in der Romantik, der Epoche des Englischen Landschaftsgartens. Die amerikanischen Vorstädte des letzten Jahrhunderts, geschaffen als Siedlungen in einer kontinuierlichen Parklandschaft ganz ohne Begrenzungen, sind ein Ergebnis dieser Entwicklung, in deren Tradition wir bis heute stehen.
JI: Grenzen sind auch heute wichtige Gestaltungselemente, insbesondere dann, wenn es um die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Raum geht. Jedoch wird gegenwärtig der Raum zwischen Strassen und Privateigentum oft zu einem Grenzraum aufgelöst, der weder Nutzungs- noch Gestaltungsansprüchen gerecht wird.
BFB: Meiner Meinung nach ist die zeitgemässe Abgrenzung des klassisch Privaten nach wie vor die Buchsbaumhecke. Dabei gehöre ich durchaus zu einer Gruppe Visionäre. Wir würden uns freuen, wenn es einen offeneren Umgang mit der Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem gäbe. Ein grundlegendes Problem ist dabei aber der Versicherungsschutz und das damit einhergehende Schüren von Angst durch die grossen Versicherer, nicht nur vor Vandalismus, sondern eben auch davor, Verantwortung für die Person zu übernehmen, die sich eventuell auf dem Grundstück befinden könnte.
JS: Jede – auch nur temporäre – Öffnung einer Grenze und das damit verbundene Sicherheitsrisiko (sei es virtuell oder real), muss von der Gemeinschaft getragen werden. Zukunftsweisende Gestaltung, Neudefinition und Multifunktionalität der Abgrenzungen sind unmittelbar an die Unterhalts- und Sicherheitsanforderungen der Betreiber gebunden.

anthos: Welchen Herausforderungen muss sich die Landschaftsarchitektur Ihrer Meinung nach künftig stellen, wenn es um die Ausgestaltung vom Privaten zum Öffentlichen geht?
EE: Jede Gestaltung bleibt eine Herausforderung. Übergänge waren schon immer wichtig, werden uns jetzt aber durch die zunehmende Knappheit der Flächen wieder bewusster gemacht.
JI: Dieser Wandel betrifft unmittelbar den Landschaftsarchitekten, der künftig noch enger mit Architekten zusammenarbeiten wird um den Übergang vom Gebäude zum öffentlichen Raum zu optimieren. Generell gehe ich davon aus, dass sich die Rolle des Landschaftsarchitekten im Planungsprozess erweitern wird. Landschaftsarchitekten werden immer öfter bei der Erstellung von Masterplänen die Rolle des Städtebauers übernehmen.
BFH: Wir arbeiten hart daran Grenzen aufzulösen, aber meiner Meinung nach geht die Tendenz auf jeden Fall in Richtung Paranoia und damit in Richtung Gated Community.
JS: Wenn man von einem Trend sprechen kann, dann ist es bestimmt der, dass der landschaftsarchitektonische Entwurf zunehmend eine städtebauliche und planerisch-strategische Rolle spielen wird, gerade in Bezug auf die Peripherie – seien es Siedlungen, Grosssiedlungen oder Gewerbeparks. Die programmatische und gestalterische Bearbeitung dieser Landschaften erfordert ein neues Vokabular. Was ist das «Städtische» an diesen Siedlungen (und damit muss etwas grundsätzlich anderes gemeint sein als das innerstädtische Urbane)? Wie viel Beteiligung und Zusammenarbeit mit den Nutzern erlaubt der Entwurfsprozess? Kann der Entwurf die Nutzer provozieren und neue Verhältnisse von öffentlich und privat herausfordern?

anthos: Welches zeitgenössische Projekt setzt sich Ihrer Meinung nach richtungweisend mit der Problematik der «Abgrenzung» vom Privaten ins Öffentliche /  Halböffentliche auseinander?
LD: Obwohl es mit dem Siedlungsbau der 60er Jahre in Dänemark oder auch dem Bau des Hansaviertels in Berlin einige Beispiele auch aus der Nachkriegsentwicklung der Freiraumplanung gibt, die ganz bewusst die Grundstücksgrenzen auflösen, scheint mir die spannendere Diskussion der Verbindung von Räumen bzw. der Schaffung von Raumkontinuitäten zur Zeit eher innerhalb der Architektur stattzufinden. Als signifikant für diese Entwicklung könnte das Rolex Learning Center in Lausanne von SANAA genannt werden, welches ganz verblüffende Raumkontinuitäten nach aussen, vor allem aber auch innerhalb des Gebäudes schafft.
JI: Auch das «Haus N» vom japanischen Architekten Sou Fujimoto ist ein Beispiel für eine Entwicklung, bei der Grenzen zwischen Aussen- und Innenraum scheinbar aufgelöst werden. Dabei zeigt das Projekt einen Gestaltungsansatz, bei dem das Gebäude als ein Teil des öffentlichen Raumes verstanden wird, der Freiraum also Teil des Gebäudeensembles wird.
JS: In der Kooperation mit der Wohnungsbaugesellschaft degewo, dem Bezirk Neukölln und dem Senat führen wir an der TU Berlin ein Forschungs- und Entwurfsprojekt durch, welches auf die Neudefinition der Grenzen und Freiflächen in der Gropiusstadt abzielt: Campus Efeuweg – Modell(e) einer neuen Gropiusstadt. Um Vandalismus vorzubeugen sind hier zentrale Bildungs-, Jugend- und Sporteinrichtungen so durch Zäune voneinander getrennt, dass gemeinsame Kooperationen und pädagogische Konzepte verunmöglicht werden. Es geht nicht darum, ob Sichtschutz notwendig ist oder nicht, sondern darum, überschaubare und eine Aneignung ermöglichende Zonen zu definieren – privat, gemeinschaftlich und öffentlich – ohne durch Privatisierung und Vereinnahmung die räumliche Qualität und den Charakter der Siedlung völlig zu zerstören. Dieses Projekt wird in enger Zusammenarbeit mit den Nutzern, Betreibern und Anwohnern durchgeführt. Im Entwurf versuchen wir Mut zu geben, sich für neue Betriebs-, Unterhalts- und Gestaltungsformen einzusetzen. Grundsätzlich schlagen wir ein Betriebsschema vor, das die Zuschaltung der Grundstücke untereinander zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten zulässt. Teil der Strategien sind kleine Gebäude und Nutzräume, welche die Zäune ersetzen und von beiden Seiten zu bespielen sind und somit auch als Durchgangsräume funktionieren können. Die Spanne der Projekte reicht von langfristigen Szenarien bis hin zu kleinen Interventionen, welche schon im nächsten Jahr mit den Nutzern umgesetzt werden können.
BFB: Während eines dreitägigen Workshops haben wir uns eine eingezäunte, private Baubrache im Madrider Stadtteil Lavapies angeeignet, diese in einen öffentlichen japanischen Garten mit Bühne und Teehaus transformiert und damit neue Aneignungs- und Nutzungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum eröffnet.
EE: Enea landscape architecture hat sich in einem Gartenprojekt am Bodensee explizit mit dem Thema der Grenze auseinander gesetzt. Gestalterisch fliessen hier Aussenraum und Innenraum ineinander. Weich wogende Pflanzungen mimen die Bewegung des Wassers. Hoch aufstrebende Eschen wurden aufgeastet, um den visuellen Bezug zur Landschaft zuzulassen. Niedrige Hecken fassen das Grundstück, erhalten aber den Sichtbezug zur Umgebung.

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Für den Beitrag verantwortlich: anthos

Ansprechpartner:in für diese Seite: Daniel Haidd.haid[at]fischerprint.ch

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