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steeldoc 03+04/11
Erdbebensicherheit im Stahlbau
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zur Zeitschrift: Steeldoc
Herausgeber:in: Stahlbau Zentrum Schweiz

Einfache, duktile und robuste Tragwerke entwerfen

Optimierte Gebäudeformen und gewisse Grundregeln können von Architekten bereits in der ersten Entwurfsphase berücksichtigt werden. Oft erfüllen Gebäude damit bereits die Anforderungen an die Erdbebensicherheit. Die möglichst frühe Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ingenieur führt allemal zu effizienten und kostengünstigen Lösungen.

20. Dezember 2011 - André Plumier
Ziel des erdbebengerechten Entwurfes ist es, konstruktiv einfache, duktile und robuste Tragwerke zu realisieren. Das Tragwerk sollte eindeutige und direkte Wege zur Abtragung der Erdbebenkräfte bieten. Robustheit bedeutet, dass im Tragwerk auch beim Versagen eines Elementes keine Kettenreaktion entsteht, d.h. dass das Gebäude ausreichende Tragreserven besitzt, damit es nicht zum Gesamtversagen kommt. Damit sich das Gebäude duktil verhält, müssen die Tragwiderstände der Verbindungen und Elemente so aufeinander abgestimmt sein, dass unter Erdbebeneinwirkung die Verbindungen plastifizieren, bevor eines der übrigen Bauteile versagt.

Um die Stabilität zu gewährleisten, braucht es:
Eine angemessene Anzahl vertikaler und horizontaler Aussteifungsebenen.
Eine gut gewählte Anordnung dieser Ebenen.
Adäquate Verbindungen zwischen diesen Ebenen.

Haupt- und Sekundärstruktur

Die vertikale Tragstruktur eines Gebäudes kann aus einer Haupt- oder «Primärstruktur» bestehen, die für die Aufnahme von Erbebeneinwirkungen konzipiert ist und aus einer «Sekundärstruktur», die nur Gravitationskräfte aufnimmt. Diese Unterscheidung muss mit der effektiven Funktionsweise des Tragwerks übereinstimmen. Das heisst, der Beitrag der Sekundärstruktur an Steifigkeit und Widerstand gegen Erdbebeneinwirkungen muss weniger als 15% desjenigen der Primärstruktur betragen. Ausserdem müssen die tragenden Elemente der Sekundärstruktur sowie ihre Verbindungen die Deformationen der Primärstruktur mitmachen und die Gravitationskräfte trotzdem noch aufnehmen.

Ziel eines erdbebengerechten Konzepts

Ein gutes erdbebengerechtes Konzept zeichnet sich durch ein Tragwerk aus, das den Erdbebeneinwirkungen zu widerstehen vermag, dabei aber kaum mehr kostet als ein nicht erdbebengerechtes Projekt. Die Planungsprinzipien gelten nur für die «Primärstruktur», was dem Architekten für seinen Entwurf viel Freiheit lässt. Vor allem in der Gestaltung der «Sekundärstruktur», die für das äussere Erscheinungsbild bestimmend sein kann, ist er praktisch vollkommen frei.

Prinzipien einer erdbebengerechten Planung

1. Einfaches Tragwerk

Ein einfaches Tragwerk zeichnet sich durch klare und direkte Ableitungen der Erdbebeneinwirkungen in den Boden aus. Dies ist ein wichtiges Prinzip, denn die Modellierung, die Analyse, die Bemessung, die Detaillierung und die Konstruktion solcher Tragwerke sind einfacher und mit weniger Unsicherheit behaftet, sodass das Erdbebenverhalten viel zuverlässiger vorhergesagt werden kann.

2. Regelmässigkeit im Grundriss

Ein regelmässiger Grundriss kann durch gleichmässige Anordnung der vertikalen Aussteifungselemente erreicht werden. Dadurch entstehen kurze und direkte Übertragungswege der Trägheitskräfte, die sich aus der im Tragwerk vorhandenen Masse ergeben. Falls notwendig, kann diese Regelmässigkeit im Grundriss erreicht werden, indem man das Gebäude durch «Erdbebenfugen» in statisch unabhängige Baukörper aufteilt (Abb. 3). Diese Fugen müssen jedoch breit genug sein, um das Aufeinanderprallen der verschiedenen Baukörper zu verhindern. Bei einer komplett oder annähernd symmetrischen Grundrissdisposition kann mit einer symmetrischen Anordnung der Verbände ein regelmässiger Grundriss erreicht werden. Ein angemessenes Verhältnis zwischen der Massenverteilung und der Anordnung der steifen und tragenden Elemente vermindert die Exzentrizität der Erdbebenkräfte und somit die Torsion (Abb. 4).

Gemäss SIA Norm 261 (2003) kann ein Tragsystem im Grundriss als regelmässig betrachtet werden, wenn die Anforderungen von Ziffer 16.5.1.3 erfüllt sind:
Bezüglich Horizontalsteifigkeit und Massenverteilung ist das Bauwerk hinsichtlich zweier orthogonaler Richtungen ungefähr symmetrisch im Grundriss.
Die Grundrissform des Bauwerks ist kompakt. Die Gesamtabmessungen von rückspringenden Ecken oder Aussparungen sind nicht grösser als 25% der gesamten äusseren Grundrissabmessung des Bauwerks in der entsprechenden Richtung.
Die Steifigkeit der Decken in ihren Ebenen ist gross im Vergleich zur Horizontalsteifigkeit der vertikal tragenden Bauteile

3. Regelmässigkeit im Aufriss

Ist der Aufriss eines Gebäudes regelmässig, kann verhindert werden, dass Zonen entstehen, in denen es zu konzentrierten Beanspruchungen kommt und die ein vorzeitiges Versagen bewirken könnten. Ein regelmässiger Aufriss bedingt auch das Vermeiden von Interaktionen zwischen tragenden und nicht tragenden Elementen wie Füllungen. Eine solche Interaktion kann die Lokalisierung von plastischen Deformationen nach sich ziehen, wie es zum Beispiel bei Tragstrukturen mit einem «weichen» Geschoss der Fall ist. Redundante Tragwerke, das heisst solche mit vielen tragenden Elementen, weisen eine breite Verteilung der Kräfte und zahlreiche dissipative Bereiche auf. So werden die Auflagerreaktionen besser verteilt (Abb.5).

4. Festigkeit und Steifigkeit mit ähnlicher Grundausrichtung

Die Erdbebeneinwirkung besteht aus zwei horizontalen Komponenten, denen das Tragwerk des Gebäudes unabhängig von der Richtung des Erdbebens widerstehen muss. Die Tragwerke sollten in ihren beiden Hauptrichtungen einen ähnliche Widerstand sowie eine ähnliche Steifigkeit aufweisen. Zwei Elemente müssen für das Bestimmen der Steifigkeit des Tragwerks berücksichtigt werden. Die seismischen Beanspruchungen entwickeln in einer duktilen Struktur weniger Kraft, die Verschiebungen sind jedoch grösser. Sie müssen begrenzt werden, um Auswirkungen zweiter Ordnung im Falle eines Bemessungserdbebens und Risse im Falle eines häufigen Erdbebens zu verhindern.

5. Steifigkeit und Torsionswiderstand

Gebäudetragwerke müssen genügend Steifigkeit und einen entsprechenden Torsionswiderstand aufweisen, um Torsionsschwingungen zu begrenzen, denn diese erzeugen in den Verbänden unterschiedliche Beanspruchungen. Diesbezüglich ist es am effizientesten, die Verbände an der Gebäudeperipherie anzuordnen.

6. Diaphragmen (Scheibenwirkung)

Die Scheibenwirkung von Decken und Dach ist besonders wichtig, wenn die Verbände im Aufriss eine komplizierte Geometrie aufweisen oder bei Tragsystemen mit Verbänden von sehr unterschiedlicher Steifigkeit. Bei sehr langen Gebäuden und solchen mit grossen Öffnungen müssen diese Scheiben oder Diaphragmen genau untersucht werden.

7. Aufteilung in Unterstrukturen

Können die Prinzipien der Regelmässigkeit aus Gründen der Nutzung nicht angewendet werden, kann eine Aufteilung des Gebäudes in mehrere «Baukörper» oder Unterstrukturen in Betracht gezogen werden. Diese sind zwar für die Benutzung miteinander verbunden, statisch aber getrennt (Abb. 3). Die Schwierigkeit bei dieser Variante besteht in der korrekten Ausführung der Fugen zwischen diesen Baukörpern. Solche Fugen müssen genügend breit sein, um im Falle eines Erdbebens das Aufeinanderprallen der Unterstrukturen zu verhindern, denn die verschiedenen Einheiten weisen nicht unbedingt dieselbe Schwingungsfrequenz auf. Für die Berechnung des minimalen Abstands müssen deshalb ihre maximal möglichen Verschiebungen addiert werden.

Bei dieser Lösung müssen die so geschaffenen verschiedenen Einheiten mit beweglichen Passerellen verbunden werden. Sind die Verschiebungen in den Fugen klein (geringe Erdbebengefahr, niedrige Gebäude), braucht es keine Doppelstützen. Dasselbe gilt im Übrigen auch für Dilatationsfugen. Grosse Erdbebenfugen dürfen nicht mit weichem Material ausgefüllt werden (Polystyrol oder Ähnlichem), denn eine kleine Spannung auf einer sehr grossen Fläche kann einer grossen Widerstandskraft entsprechen und so das Funktionieren der Fuge verhindern. In diesem Fall beschränkt man sich darauf, die Fuge aus ästhetischen Gründen mit einem beweglichen Element abzudecken.

Unterbricht die Fuge Haupttragelemente mit kleinen Abmessungen (Träger), ist die Spannung, die im dazwischen eingefügten Material entstehen kann, gross genug, um dieses zu zerdrücken.

8. Fundamente

Die Fundationen müssen Differentialbewegungen zwischen den verschiedenen Auflagerpunkten des Gebäudes verhindern. Eine steife Fundation wie beispielsweise ein mit Wänden ausgesteiftes Plattenfundament mit einer Decke als Diaphragma darüber kann dies gewährleisten. Streifenfundamente sollten mit einer Decke oder mit Trägern verbunden werden.

9. Voraussetzungen für einen globalen plastischen

Mechanismus schaffen Für Gebäude, deren Primärstruktur aus Rahmen besteht, die sich im Fall eines Bemessungserdbebens plastisch Verhalten sollen, ist es für die Sicherheit fundamental, dass die plastischen Verformungen in den Trägern stattfinden und nicht in den Stützen. Dies aus mehreren Gründen:
Ein global plastischer Mechanismus im Tragwerk erfordert die Ausbildung zahlreicher plastischer Gelenke in den Trägern.
Auch wenn sie stark beschädigt sind, stürzen Böden und Träger nicht einzeln ein, sie bleiben an den verbleibenden Verbindungsteilen hängen, während Schäden an den Stützen schnell zu einem Gesamtversagen führen können.
Duktilität lässt sich in Elementen, die nur auf Biegung beansprucht sind, leichter realisieren.

Die praktische Folge dieses Prinzips sind Stützen, deren plastisches Moment Mpl,Rd grösser ist als jenes der Träger. Dies entspricht Trägern, die weniger hoch sind als die Querschnitte der Stützen, was ausserhalb der Erdbebenzonen sehr ungewöhnlich ist. Wandartige Träger über leichten Stützen sollten also vermieden werden.

Das Knicken von Stützen oder Trägern in einem Tragwerk mit mit zentrischen Verbänden ist fatal. Bei schlanken Diagonalen ist der einzige globale stabile Mechanismus, der in Frage kommt, jener, bei dem die Diagonalen bei Zug plastifizieren (Abb. 7), während der Beitrag der Druckdiagonalen vernachlässigt wird. Die Bemessung der Fachwerkstäbe muss über die Abstufung der Querschnitte zum gewünschten globalen plastischen Mechanismus führen. Dazu reicht es aus, wenn nur Diagonalen plastifizieren.

10. Befestigung nicht tragender Elemente

Die häufigste Todesursache bei schwachen Erdbeben ist das Herabfallen von schlecht befestigten oder zu wenig widerstandsfähigen, nicht tragenden Elementen. Kamine (poröser Mörtel), dekorative Fassadenelemente, auf den Fassaden angebrachte Wandelemente oder Verglasungen, innere, nur auf den Boden gestellte Trennwände, die oben nicht gehalten sind (inneres Mauerwerk in den Gebäuden), Büchergestelle, technische Einrichtungen usw.


[Quellen aus: Kapitel 8 «Architecture des bâtiments résistants au séisme», Constructions parasismiques en acier, Arcelor Mittal, Commercial sections, Esch-zur-Alzette, Luxembourg]

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Für den Beitrag verantwortlich: Steeldoc

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