Zeitschrift

werk, bauen + wohnen 01/02-12
Sonderbauten
werk, bauen + wohnen 01/02-12
zur Zeitschrift: werk, bauen + wohnen
In Lars von Triers Dogma-Film «Idioterne» spielen eine Handvoll «normaler» Menschen «geistig behindert». Sie tun dies als verschworene Gruppe, um den Zwängen einer Gesellschaft zu entgehen, die es mit allen und allem gut meint und sich dabei anmasst, über das Schicksal Einzelner zu befinden. Deutlich wird dies in einer Szene, in der Josephine, nachdem sie sich in Jeppe verliebt hat und in der jungen Beziehung Halt findet, von ihrem Vater unter Zwang und dem Vorhalt ihrer «psychischen Instabilität» von den andern entfernt wird. Nach diesem Vorfall ist das Selbstverständnis des Kollektivs in Frage gestellt; die selbstgegebene, schützende Nische, in der jeder einzelne seine Normalität leben konnte, scheint unter dem Druck sich verschärfender innerer Regeln zu zerfallen. Zwischen Film und «wahrem Leben» liegen in Triers Manifest lediglich Nuancen. Die zugespitzt konstruierte Situation des Films beweist eindringlich, dass Sinn und Irrsinn zuweilen ineinander übergehen, gesellschaftskonforme Normalität und schicksalsbedingtes Anderssein sich nur graduell unterscheiden.
Die in diesem Heft vorgestellten Bauten simulieren «normale Architektur». Es scheint, als gedeihe Architektur in der Nische der Sonderbauten besonders prächtig. Die Aufgabe, für Menschen mit Handicap zu entwerfen, erfordert Empathie und bietet Architekten Gelegenheit, über Grundsätzliches, über das Normale und das Naheliegende also, nachzudenken. Dieses Nachdenken findet bei den entsprechenden Nutzern und bei engagierten Bauherrschaften willkommenes Gehör und vermag sich mancher Denkverbote, Normen und dem Kostendruck zu widersetzen. Im Heft porträtieren wir Bauten, von denen wir glauben, dass sie auf unterschiedliche Weise Normalität herstellen. In Altdorf führt ein öffentlicher Bau die Bebauung des Dorfs weiter und bietet auf unprätentiöse Art seine Dienste am Wegrand an; in Baden-Dättwil berichten wir vom Alltag, der durch die Verschiedenheit der Nutzungen Besonderheit erlangt; im Zürcher Seefeld zeigen wir ein scheinbar ganz normales Wohnhaus für sehr besondere Bewohner; in Chur erhalten Barrierefreiheit und Gleichberechtigung bildhafte Bedeutung. Darüber hinaus berichten wir über die Ambivalenz im japanischen Verhältnis gegenüber dem «Anderen», das in Exponiertsein oder Intimität gleichermassen Therapieerfolge findet. Die Heilpädagogin Daniela Ritzenthaler benennt drei Forderungen an das behindertengerechte Bauen – und die Architekten Anne Uhlmann und Urs Birchmeier schreiben über die damit verbundenen Konsequenzen im Entwurf.
Die bewusste Suche nach Normalität bedingt innerhalb der «Normalität» ein Anderssein mit eigenen Regeln und sie schafft Selbstverständnis und Halt. Dieses Heft will zeigen, dass architektonische Qualität hierzu beitragen kann und dass umgekehrt ein «hindernisfreies», integrierendes Bauen Architektur nicht ausschliesst. Diese Ausgabe von werk, bauen wohnen soll dazu beitragen, dass auch im richtigen Leben Nischen der Sorge und der Architektur entstehen.

Daniela Ritzenthaler
Grundwerte: Ethische und heilpädagogische Überlegungen zu Sonderbauten

Alois Diethelm
Alltägliches als Besonderheit: Das Wohnhaus Aargau für schwer körperbehinderte Erwachsene in Baden-Dättwil

Marco Rossi
Die sanfte Kraft der Architektur: Bauten der japanischen Architekten Sou Fujimoto und Ken Watanabe im Vergleich

Anne Uhlmann und Urs Birchmeier
Fundus von Fürsorgetypologien: Ein Bericht aus der entwerferischen Praxis

Søren Linhart
Stapelungen und Verflechtungen: Therapiestelle Heilpädagogisches Zentrum Uri in Altdorf von Niklaus Graber & Christoph Steiger Architekten

Caspar Schärer
Mitten in der Stadt: Wohnhaus Mainaustrasse in Zürich von Matthias Ackermann

Jürg Ragettli
Weg als Bauwerk: Die Verbindung Plessur-Halde für Fussgänger und Gehbehinderte in Chur von Esch Sintzel Architekten

Forum
Orte: Catalin Dorian Florescu
Material-Archiv: Beliebte ungeliebte Kittfuge
Wettbewerb für einen multi-funktionalen Gebäudekomplex am Bahnhof in Sierre
Zum werk-material: Regionales Verwaltungszentrum in Thusis von Gredig Walser Architekten; Erweiterung Gemeindehaus Regensdorf von phalt Architekten
Bauten: Die Villa Caldwell in Allmendingen bei Bern
Umbauten: Umbau zweier Häuserzeilen in Schaffhausen von Peter Märkli Innenarchitektur: Szenarien zum Umgang mit «Licht»
Ausbildung: Studentenwettbewerb „Vertical Cities Asia“
In eigener Sache: Wechsel auf der Redaktion
Ausstellung: Johann Rudolf Rahn (1841–1912) im Predigerchor der Zentralbibliothek Zürich
Ausstellung: «Martin & Werner Feiersinger - Italomodern» in Innsbruck
Tagung: Über die ars inveniendi in der gegenwärtigen Architektur 67 Nachruf:
bauen rechten: Wer haftet?
Ausstellungen | Veranstaltungen | Neuerscheinungen

werk-material
Gredig Walser dipl. Architekten ETH FH SIA AG, Chur und Bad Ragaz: Regionales Verwaltungszentrum, Thusis, GR
ARGE phalt Architekten AG, Jaeger Baumanagement GmbH, Zürich: Erweiterungsbau Gemeindehaus, Regensdorf, ZH

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