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dérive 54
Public Spaces. Resilience & Rhythm
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zur Zeitschrift: dérive
Herausgeber:in: Christoph Laimer

Straßenbeobachtungen: Das Smartphone im Stadtalltag

24. Februar 2014 - Peter Neitzke
Anthony Vanky forscht am Senseable City Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) über stadtbezogene Echtzeitdaten. Man dürfe, schreibt er in einem Beitrag über den Gebrauch mobiler Geräte in Singapur (Vanky 2013), nicht unterschätzen, welche Bedeutung Smartphones und Tablet-Computer dort und in vielen anderen Städten haben. Auch in Japan könne man – eigentlich keine sonderlich überraschende Feststellung – an jeder beliebigen Bushaltestelle oder in der Metro »eine beträchtliche Anzahl von Menschen beobachten, die ihre Geräte benutzen, um mit Freunden zu plaudern, Spiele zu spielen oder im Internet zu surfen«. Fazit: Das soziale Leben spiele sich »zunehmend über das Medium
digitaler Dienste ab«.

Beobachtungen, die sich an jedem beliebigen Ort anstellen lassen. Zur Unterschätzung der Rolle, die Smartphones und andere mobile Elektronik im städtischen Alltag spielen, besteht in der Tat kein Anlass. Hingegen zu eigenen Straßenbeobachtungen – ohne analytische Kategorien, ohne Methodenkompetenz, empirisch ungesichert, mithin jenseits der akkreditierten Arbeitsgebiete einer Disziplin, die sich fachwissenschaftlich mit der städtischen Lebenspraxis beschäftigt: der Stadtethnologie. Deren Blick richte sich, notiert Anja Schwanhäußer in ihrem hochinformativen Text Stadtethnologie – Einblicke in aktuelle Forschungen (Schwanhäußer 2010), »auf die konkreten Lebenswelten der Stadtbewohner und -bewohnerinnen, ihre Wohnungen, Arbeitswelten, Freizeitgewohnheiten und Wege durch die Stadt, aber auch die Medien, Moden und Vergnügungen, die Stadt als ›Zone intensiven Lebens‹ […]«.

In vielen seiner Essays und Feuilletons beobachtet Siegfried Kracauer, nach einem Architekturstudium Journalist, Filmtheoretiker und Soziologe, den großstädtischen Alltag: Straßen, Lokale, Leute – Zonen intensiven Lebens. Die Texte beschreiben und analysieren die Bewegungsformen und die Bilder der Massenkultur. Seinen Essay Das Ornament der Masse (1927) eröffnet Kracauer mit der programmatischen Feststellung: »Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst.« (Kracauer 1963, S. 50) Würden die Oberflächen der Dinge wie des gesellschaftlichen Lebens, notiert er im Jahre 1925, nicht als Chiffren erkannt und würde »das Dunkelste nicht erhellt«, dann wäre »ein jedes Wort vergeblich gesprochen« (Kracauer 1990, S. 305). Auf den ersten Blick eine einfache Denkfigur: Verborgenes ans Licht bringen.

Freilich ist Kracauers »Dunkelstes« weder düster noch erbarmungswürdig und ebenso-wenig versteckt, es ist, ganz im Gegenteil, durchsichtig. Und darum buchstäblich stockdunkel, folglich oft als bedeutungslos übersehen. Dem solcherart Durchsichtigen gilt Kracauers ganze Aufmerksamkeit.

Mitte der 1980er Jahre hatte sich eine Gruppe von Künstlern, Historikern, Schriftstellern und Journalisten für die »Randerscheinungen städtischen Lebens« in Tokio zu interessieren begonnen (die, mit Kracauer, nicht »Randerscheinungen« genannt werden sollten). Die Studien der von ihnen ins Leben gerufenen Gesellschaft für Straßenbeobachtung griffen auf, was Wajiro Kon, Architekturprofessor und »Ethnograph des Alltäglichen«, bereits zwischen 1920 und 1930 beschäftigt hatte: Kon und sein Team interessierten sich – anders als die überwiegende Mehrheit der Berufskollegen, damals nicht anders als heute – »mehr
für soziale Praktiken«, berichtet Ioanna Angelidou (2012), als für das Bild städtischer Räume.[1]

Unsere Straßenbeobachtung gilt den Ungezählten, die sich virtuos im Stadtgewühl bewegen und darauf verzichten (oder zu verzichten scheinen), die Straße zu beobachten: die zu ihren Arbeitsplätzen und zu den Warenhäusern Eilenden, die ihnen begegnen (oder denen sie ausweichen); die evangelikalen Prediger, die die baldige Rückkehr des Erlösers ankündigen; die zu Statuen erstarrten Selbstdarsteller; die ausrangierte Operndiva, die Abend für Abend in der Fußgängerzone die Belcanto-Hits von Verdi und Bellini singt, zu ihren Füßen den auf einen Rucksack gestellten Lautsprecher mit der Orchesterpartie und die Pappschachtel für die Münzen; die Bettler, Straßenarbeiter, Straßenkünstler, die Zugedröhnten; die die Straßen säumenden Stadträume mit ihren Bauten und Baustellen; die Bäume, die Risse im Asphalt; den Himmel über der Stadt, die Wolken, die wunderbaren Wolken.

Nehmen sie all das wahr?

Bemerkt, wer auf dem Bildschirm die Angebote der angesagten Schuhgeschäfte, Haarstylisten, Brillenboutiquen und Apple-Stores studiert, wer ein kniffliges Sudoku zu lösen versucht, sein Englisch aufmöbelt oder Chinesisch lernt, wer sich Dan Browns Inferno, Richard David Prechts Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? oder Von nix kommt nix: Voll auf Erfolgskurs mit den Geissens vorlesen lässt, wer den zweiten Satz von Beethovens Streichquartett op. 135 oder die aktuelle Single seiner Lieblings-Metal-Band hochdreht, dass der Fahrer eines Offroaders bei Gelb gerade nochmal Gas gibt und den Auspuff röhren lässt? Mit zwei mächtigen Kopfhörern und ohne den als uncool geltenden Fahrradhelm hatte die junge Frau auf ihrem Mountainbike keine Chance. Von den Sounds der Stadt akustisch isoliert, hatte sie den Feind einfach überhört.

In seinem hellsichtigen Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“, vor einhundertundzehn Jahren veröffentlicht und alles andere als ein antiquarischer Text, denkt Georg Simmel über die psychologische Grundlage nach, »auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt«: Diese bestehe in einer »Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht«. Die ubiquitäre Digitalisierung des Alltagslebens hat nicht allein die »rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder« (Simmel 1984, S. 192f) befördert; sie hat der Außensteuerung der Subjekte einen Schub gegeben, den Simmel nicht erwarten konnte. Zudem scheint seine Beobachtung, Großstädter seien es gewohnt, sich trotz räumlicher Nähe reserviert, ja blasiert zu geben – eine »Seelenstimmung«, die er als »subjektive[n] Reflex der völlig durchgedrungenen Geldwirtschaft« (a.a.O, S. 196) diagnostiziert –, mit der massenhaften Verbreitung mobiler Kommunikationsgadgets buchstäblich gegenstandslos geworden zu sein. Reserviert? Wer mit wem, wann, wohin und warum – das omnipräsente Mitteilungsbedürfnis kennt keine Grenzen. Und keine Scham. Das Individuum (lat. das Ungeteilte) zeigt sich in der unaufhaltsamen Bereitschaft zur Selbstentblößung – und darin, die so genannten privaten Daten arglos Suchdiensten, Spionen, den Betreibern sozialer Netzwerke, mit anderen Worten Großrechnern zu überlassen: Clouds, die alles über es wissen.

»Individuen sind ›dividuell‹ geworden« sagt Gilles Deleuze (1993, S. 258). Das vorgeblich Unteilbare ist zu einer Sammlung teilbarer Informationen mutiert. Informationen, die im Zweifelsfall gegen sie verwendet werden.

»Wenn ich mir die rasante Entwicklung so anschaue«, hält ein aufmerksamer Zeitgenosse fest, »– also dieses Anwachsen der Smartphones an die Hände der Besitzer –, bin ich sicher, dass die sich in nicht allzu ferner Zukunft auch gerne freiwillig für teures Geld chippen lassen. […] das ist keine ›Schwarzseherei‹ – sondern banale, alltägliche Straßenbeobachtung.«[2] In den Gebrauchsformen der für viele unverzichtbaren Mobiltelefone entdeckt der zitierte Blogger deren prothetischen Charakter: elektronische Gadgets als Körpererweiterungen. Die User lassen sie nicht aus den Augen. Kaum dass sie in die Hosentasche geglitten oder in der Handtasche zwischengeparkt sind, liegen sie wieder in der Hand ihrer Eigentümer. Deren Aufmerksamkeit gilt nahezu ausnahmslos den kleinen leuchtenden Bildschirmen (ohne welche sie sich, vielfachen Bekenntnissen zufolge, verloren glauben) und den Stimmen und Sounds aus ihren Earphones (ohne die sie nicht mehr auf die Straße treten). Ob es sich um Multitasking-Praktiker handelt, würde eine empirische Forschung herausfinden können, die eine repräsentative Gruppe städtischer Smartphone-Akteure darüber befragte, was sie jenseits der Ränder ihrer Screens von der Stadt mitbekommen. Möglich, dass ihre Wahrnehmung der nichtdigitalen Welt schwindet.


Anmerkungen:
[01] In seinem 1929 erschienenen, mit Zeichnungen von Kenchiki Yoshida illustrierten Buch New Guide to Tokyo hatte Kon von Architekten und Urbanisten Übersehenes präsentiert: Sprünge im Geschirr von Kaffeehäusern etwa, oder Arbeiter, die sich auf der Straße ausruhen.
[02] http://zwillingssonne.blogspot.ch/2012/10/an-die-hand-angewachsen.html (Stand 5.12. 2013)

Literatur:
Angelidou, Ioanna (2012): Streifzüge durch den städtischen Alltag. In: ARCH+, Heft 208, August 2012.
Deleuze, Gilles (1993)[1990]: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (1990) In: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 258.
Kracauer, Siegfried (1963): Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 50.
Kracauer, Siegfried (1990): Der Künstler in seiner Zeit. In: Mülder-Bach, Inka (Hg.): Siegfried Kracauer Schriften, Bd. 1, Aufsätze 1915-1926 Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 305
Simmel, Georg (1984)[1903]: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Simmel, Georg; Das Individuum und die Freiheit. Essais. Berlin: Klaus Wagenbach, 1984, S. 192
Schwanhäußer, Anja (2010): Stadtethnologie – Einblicke in aktuelle Forschungen. In: dérive, Heft 40/41, Oktober 2010, S. 106–113. Verfügbar unter: www.derive.at/index.php?p_case=2&id_cont=940&issue_No=40 (St and 5.12. 2013).
Vanky, Anthony (2013): Verfügbarkeit und Relevanz von Daten. Zur Evaluation des Gebrauchs stadtbezogener Echtzeitdaten in Singapur. In: Offenhuber, Dietmar & Ratti, Carlo (Hg.): Die Stadt entschlüsseln. Wie Echtzeitdaten den Urbanismus verändern. Basel: Bauwelt Fundamente, Bd. 150.

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Für den Beitrag verantwortlich: dérive

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