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anthos 2016/2
Stadtbäume
anthos 2016/2
zur Zeitschrift: anthos
Herausgeber:in: BSLA

Die Schule der Bäume

Bei der Beobachtung von Spontanvegetation im städtischen Umfeld stellt man sich für gewöhnlich vor, dass der Ort, den sich Bäume ausgesucht haben, um Wurzeln zu schlagen, in direktem Zusammenhang mit dem Eifer oder der Toleranz des Gärtners steht …

5. Dezember 2016 - Robert Perroulaz, Séraphin Hirtz
«Der Mensch ist tot und sein Garten lebt,
die Pflanzen samen sich dort selber aus,
ohne jede rationale Hilfe (…)»
Raymond Queneau[1]

Götterbaum, Holunder, Esche, Ahorn und andere Arten wachsen gerne auf unkultivierten Restflächen, die oft schwer zugänglich sind und für den eiligen oder nachlässigen Gärtner keine ästhetische Bedeutung haben. Dies ermöglicht eingewanderten, wild wachsenden Pflanzen (auch einheimischen), einen geeigneten Lebensraum vorzufinden. Die Hartnäckigkeit, Wuchs- und Lebenskraft dieser Pflanzen überraschen und zwingen uns, unsere Arbeitstechnik infrage zu stellen. Während durchgeplante, wohl durchdachte Pflanzungen heutzutage mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, protzen die unerwünschten Pflanzen mit ihrer Wuchsfreude – ganz ohne Bewässerung, Pflanzlöcher oder künstlichen Dünger.

Das Wohlbefinden der städtischen Baumpopula­tion ist ein dauerhaftes Sorgenkind des Stadtplaners. Zu ihrem Gedeihen wurden das Pflanzloch vergrössert, das Substrat verbessert, die Bewässerung intelligenter eingerichtet, Rückschnitttechniken überdacht, die Auswahl der Art und ihre Stärke bei der Pflanzung wohl überlegt. Trotz all dieser Anstrengungen kümmern Stadtpflanzen oftmals vor sich hin, wobei ihre kränkelnde Gestalt in krassem Kontrast zur Vitalität der aus Spontanbesiedelung hervorgegangenen Bäume steht.

Diese freien Bäume, die sich niemals der Zucht und Ordnung unterziehen mussten, haben keinerlei Ausbildung; sie waren nie Schüler einer Baumschule. Als regelrechte «Strassenbäume» stehen diese Wilden weder in Reih und Glied, noch weisen sie eine ordnungsgemässe Form auf – sie sind schlicht Planungsfehler. Sie wachsen einfach ohne jede Pflege, und Gärtner wie Planer empfinden für sie entweder Bewunderung oder blanken Hass.

Setzen wir unsere Beobachtungen doch in den menschenverlassenen Städten fort, beispielsweise in der Maya-Stadt Tikal, in der historischen Khmer- Grossstadt Angkor oder in Prypjat, der «beispielhaften sowjetischen Stadt», welche 1986 nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl evakuiert wurde. Die Natur hat die baulich intakten, verlassenen Stätten längst zurückerobert. Am überraschendsten ist die Standortwahl der Bäume: Nie hätte ein Gärtner gewagt, eine solche Pflanzung anzulegen. Für jeden Planer wäre es widersinnig, einen Baum auf engsten Raum, unmittelbar neben ein Gebäude zu setzen! Und trotzdem gedeihen sie. Das Zusammenleben zwischen Stein, Beton und Gehölzpflanzen ist überraschend. Die Symbiose zwischen Pflanzenreich und Beton führt zur Entstehung grossartiger Mikroklimata, neuer Wasserressourcen für die Pflanzen und der Verfügbarkeit von Mineralstoffen sowie dem Zugang zum Licht. Diese vielseitigen Strategien sind fantastische Überlegungsansätze.

Warum wächst der Sompong-Baum Tetrameles nudiflora viel besser auf den Ruinen der Khmer-Tempel in Angkor als auf echten Freiflächen? Was finden seine Wurzeln in den Regenrinnen dieser Architektur?

In Prypjat verschwinden dreissig Jahre nach der Nuklearkatastrophe die Strassen unter einer dichten, überbordenden Vegetation. Die Bäume gedeihen an Orten mit der stärksten radioaktiven Belastung, obwohl die Doppelhelix ihrer DNA permanent angegriffen wird und sie somit gezwungen sind, ihre gene­tischen Anlagen dauernd zu reparieren. Ohne Generalplan und ohne jegliche Einschränkungen hat das Reich der Pflanzen die Stadt unbändig in Besitz genommen. Die Komposition dieser Landschaftsgestaltung ist Ausdruck echter Intelligenz und hat zugleich eine eindeutig ästhetische Qualität. Die Verteilung sowie Durchmischung von heimischen und aus Gärten entwichenen Pflanzen verlief dabei erstaunlich harmonisch: Auf einem grossen Platz finden sich Pappeln, Birken besiedelten Balkone, Kiefern wählten tiefgründige Böden, Apfelbäume und Flieder gedeihen im Kindergarten.

Wie pflanzt man Bäume? Das ist die grosse Frage. Sobald man sie dem Wachstum der spontanen Pflanzen entgegenstellt, brechen die Lehren des Landschafts- und Gartenbaus zusammen. Richtlinien über gültige Pflanzabstände werden durch die Freiheit untergraben, welche die Natur sich bei ihrer eigenen Landschaftsgestaltung herausnimmt. Zu viel der Pflege stört die Bäume; Baumstützen verhindern, dass der Stamm dicker wird, was wiederum die Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Wind beeinträchtigt. Übermässige Bewässerung verzögert das Wachstum der Wurzeln und zugleich die Eigenständigkeit des Baums: «übermässige Pflege bedeutet letztlich Verfall». Es ist dringend nötig, alle Annahmen und Gewohnheiten bezüglich städtischer Pflanzungen systematisch infrage zu stellen!

Vertrauen Sie den Pflanzen, die aus Samen entstanden sind, vermeiden Sie Klone. Bevorzugen Sie sowohl einheimische als auch eingewanderte Pflanzen, sofern sie an das Klima, die Wasservorkommen und das Erdvolumen angepasst sind, die dem städtischen Baum zur Verfügung stehen.

«(…) Tote und Verletzte sind unter den verlassenen Pflanzen zu beklagen, welche vielleicht die Hand des Gärtners vermissen.» Raymond Queneau[2]


Anmerkungen:
[01,}2] Raymond Queneau: Feu le jardinier. Dans: Courir les Rues, Battre la campagne, Fendre les Flots, Gallimard, 1968, S. 196. (Deutsche Übersetzung durch anthos).

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Für den Beitrag verantwortlich: anthos

Ansprechpartner:in für diese Seite: Daniel Haidd.haid[at]fischerprint.ch

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